Ach, Europa

Was hat uns nicht alles zugesetzt in den letzten drei, vier, an Weltgeschichte übervollen Jahren! Ereignisse und Katastrophen, die wir Westeuropäer, verfettet, eingelullt, betäubt von den süßlichen Genüssen der satten Siebziger und Achtziger, wie die Wiederkehr der Dinosaurier ängstlich bestaunen. Nicht einmal ein überschwängliches Dichterhirn hätte sich sowas ausdenken können, nicht im dekadent-gemütlichen, alten Westeuropa – und während der trunkenen ersten Monaten nach der Vereinigung in der neuen Bundesrepublik schon gar nicht. Es kam so knüppeldick, vor allem im Osten, daß selbst Valium wirkungslos blieb. Besonnene hatten es vorausgesagt: dem Rausch wird der Kater folgen, der Euphorie das Tal der Tränen.

In Deutschland geht’s ja noch, da kann der große Bruder dem kleinen unter die Arme greifen, kann so tun, als ob die satte Verfettung noch nicht vollends in fühllosen Egoismus, in moralische Verkalkung umgeschlagen ist. Dann aber kam das neue Nationalgefühl über uns, die neue deutsche Größe, der wir noch keineswegs gewachsen sind. Wir übten indes schon mal: Hätten wir uns doch zurückgehalten, als die Völker des ehemaligen Jugoslawien aufeinander losgingen. Aber wir mußten ja den Großhans probieren, wußten alles besser und nötigten die Gemeinschaft, die jungen, innerlich und äußerlich allzu labilen Staaten auf dem Balkan anzuerkennen. Der Außenminister dankte flugs ab, als müsse er sonst Strafe für seinen Fehler gewärtigen. Und die Politiker des europäischen Westens, die früher, zu Zeiten der Teilung in Gut und Böse, so stolz waren auf ihre freiheitliche Ordnung, sie blickten auf das Gemetzel mit Trauer, ohne ihm Einhalt gebieten zu können. Oder zu wollen? Vergaßen jedenfalls bei alledem nicht, ihr eigenes Territorium einzudeichen mit Asylgesetzen und Handelskontrollen. Das tun sie bis beute, und die Bürger der Union haben sich inzwischen an die grausamen Bilder im Fernsehen gewöhnt – wie an die wachsenden Zahlen der Arbeitslosen zuhause und überall in der Welt. Daß junge Soldaten aus Frankreich auf dem Balkan ihr Leben lassen, 41 mittlerweile an der Zahl, von ihrer Verwendung als Geiseln nicht zu reden – statt darüber biblisch bitter zu weinen, wenigstens, wenn wir ihnen schon nicht helfen, folgt eine grimmige Ministerkonferenz der anderen.

Auch sonst haben die Staaten der Gemeinschaft politisch weitergemacht, als wäre eigentlich nichts geschehen. Wir setzten Maastricht in Kraft, unter Schmerzen zwar, aber was soll ’s; wir räsonieren über die Osterweiterung, lamentieren im Parlament und vermehren die Institutionen der Union. Dabei ist in Wirklichkeit alles anders als früher, und alle wissen es. Indessen schweigen wir meist drüber, indem wir viel reden. Nur diese Miesmacher, vor allem die von der Menschenrechtsfront, und nun auch noch die Atomgegner. Aber wen interessieren schon Miesmacher. Zumal man mittlerweile eine erkleckliche Anzahl von intellektuellen Claqueuren an der Hand hat, die die neuen Zustände eilfertig und fröhlich wenn nicht verklären, so doch guthießen. Mit urwüchsigen Argumenten und messerschafer Formulierung. – Pardon, daß ich zum Beipiel ein italienisches movimento, wie es noch vor kurzer Zeit nicht vorstellbar gewesen wären, zur Sprache bringe. In Brüssel saßen plötzlich faschistische Minister an den Tischen, und alle rieben sich die Augen, als handle es sich um eine Fata Morgana. Da tat es dem besorgten Beobachter gut, daß wenigstens ein belgischer Minister seine Gefühle offenlegte und sein Unbehagen ausdrückte, weil er mit an demselben Tisch sitzen mußte. Die andern aber, etwa der Sozialist auf dem französichen Präsidentenstuhl (nihil nisi bene) oder der christdemokratische deutsche Kanzler, sie schüttelten die Hände auf gute Zusammenarbeit. Hat nicht seinerzeit auch der Reform-Amerikaner seinen Segen gegeben im heiligen Rom? Also bitte. Und wiederum tat es dem mit Bauchgrimmen belasteten Beobachter gut, daß wenigstens die sonst in Europa eher stirnrunzelnd geduldeten Griechen Distanz demonstrierten zum smarten Chef des chamäleonischen Italien. „Früher sind wir doch immer in die Toskana gefahren, es gab die vielen kommunistischen Bürgermeister, man konnte dem Eurokommunismus einiges zutrauen, und heute … Sicher, die alten Parteien haben viel Scheiße gebaut, aber daß es gleich so dick kommen mußte. Ach, Italien!“ Ich hörte den Stoßseufzer einer Kommissionsmitarbeiterin hier in Brüssel: Gottseidank haben sie das Endspiel um die Fußballweltmeisterschaft verloren, die Italiener! Und sowieso, jetzt ist der Spuk ja vorbei. Jedenfalls für’s erste. Die Kommunalwahlen haben’s doch gezeigt, oder?

Die Engländer durften gar nicht erst hin, zur Fußballweltmeisterschaft, sinnierte die besagte Euro-Dame weiter. Das haben sie davon, daß sie in Europa dauernd quertreiben. Überall opten sie out. Einen Teil der Beitragszahlungen erläßt man ihnen (wieso eigentlich?), die soziale Union ist ihnen piepegal, und bei der Wahl des Kommissionspräsidenten bestanden sie aus sachfremden Gründen auf einer Extra-Wurscht. Da hat man die Dänen doch schon eher ins Herz geschlossen, hier in Brüssel. Die opten zwar fast alle überall out, häufiger noch als die Briten, aber die sind wenigstens nett. Und bei der Wahl des Kommissionspräsidenten tanzten sie auch nicht aus der Reihe. Was können die Politiker schon für ihr Volk! Und sowieso, das sagen dann vor allem die Linken, die es erstaunlicherweise spät abends an den Bier- und Weintischen immer noch gibt, und gar nicht mal selten: Sie opten ja nur out, weil ihnen Maastricht nicht weit genug geht, weil sie zum Beispiel ihre fortschrittlichen sozialen Rechte nicht auf dem Altar Europas opfern wollen. Und eigentlich ist es ein Musterländle, Dänemark, andere sollten sich ein Beispiel daran nehmen. Dabei ist das so eine Sache. Wenn die Spanier zum Beispiel oder die Portugiesen, oder die Iren, wenn die mal so gut drauf wären, wirtschaftlich, wie die Dänen; ob sie dann wohl noch so europa-lammfromm wären? Oder ob sie nicht auch ihre Sonderwünsche hätten?

Heute hängen sie am Tropf des Regional- und Kohäsionsfonds, so erläutert der ein bißchen versnobte, arrogant auf französisch näselnde Pressekorrespondent in Brüssel, was bleibt ihnen da, als brav zu sein. – Das sind ja auch noch Aussichten, die jemand aus den Underdog-Ländern hat, wenn er über die politische Schiene oder sonstwie nach Brüssel entsandt wird. Die Knete stimmt, und man kann sich international, multikulturell, mit einem Wort: kosmisch fühlen, kann zuhause was erzählen. Die Dänen, na ja, auf Europa können die im Zweifel verzichten. Sie tun’s nicht, zum Glück. Aber sie könnten‘ s, im Gegensatz zu den Brüssel-orientierten Polit- und Öko(nomie )-Karrieristen aus den Ländern am unteren Ende der sozialen Skala.

Und dann, manchmal, wenn der Korrespondent an der Grande Place, zum Beispiel in der „Chaloupe d’or“, beim Roten sitzt und ins Sinnen kommt, dann verengen sich seine Pupillen, weil er Beklemmung empfindet über die Vision, irgendwann könnten sie Europa alle mal nicht mehr nötig haben, die Unions-Mitglieder. Oder es aus lauter modischem Nationalismus nicht mehr wollen. Was würde dann aus der Union (und aus uns in Brüssel)! Aber bald, nach einem weiteren Schluck aus dem Glas, beruhigt sich der Korrespondent wieder, die Beklemmung weicht. So bald wird das nicht kommen, denn wir haben ja den segensreichen Binnenmarkt und die normative Kraft des Faktischen. Und außerdem können wir ja immer noch erweitern, nach Osten hin. Vorerst muß sich die Gemeinschaft in Solidarität üben, um den neuen Aspiranten auf die Sprünge zu helfen. Und das dauert. Ach, du schöne Normalität in der Hauptstadt Europas. Oh Regionaltopf! Oh Kohäsionstopf! Oh Topf der Gemeinsamen Agrarpolitik! Oh ihr europäischen Töpfe und Tröpfe!

Jedesmal ist es ein Vergnügen, die Kommentare der kenntnisreichen Journalisten und Experten zu lesen, zu den Weißbüchern über Wettbewerb und über Sozialpolitik zum Beispiel. Im Vereinigten Königreich sind diese Druckwerke eh Werke des Teufels, die der bösen, bösen Kommission nur noch mehr Kompetenzen verschaffen sollen. Die Underdogs unter den Mitgliedsländern begrüßen die Pläne der Kommission, siehe oben, möchten außerdem gern noch mehr von den gemeinschaftlich finanzierten Verkehrsverbindungen, Energieverkabelungen und Kommunikationsnetzen, viel mehr. Und die Deutschen, fleißig, wie sie nun einmal sind, sie durchleuchten die weißen Bücher durch und durch, und sie finden allzuviel Anteil vom Roten im europäischen Farbspektrum. Zuviel Regulierung, zuwenig Deregulierung. Also muß flugs eine neue Expertise her, die der Subsidiarität zu ihrem Recht verhilft und die Kommission in ihre Schranken weist. Und die parlamentarische Opposition steht in der Ecke und obliegt ihrer Pflicht, dem wutroten Schäumen.

Und ich, der ich die Kommentare der Experten zu verstehen trachte, mir wird ganz schwindlig vor lauter Technologie, Kommunikation und Informationsgesellschaft, vor stets anders beurteilter Biomedizin, vor Eureka-Piojekten und vor BIP-betogenen Lohnnebenkosten-Berechnungen. Und Trost finde ich schließlich, nachdem ich mit besagtem Korrespondenten das nächste Glas vom Roten bestellt habe, weil ich einsehe, daß all‘ die komplizierten Dinge in Europa sein müssen, um die Visionen der Gründerväter zu realisieren, um dem Pathos von Monnet, Hallstein und Schuman, Spaak, Colombo und Spinelli gerecht zu werden. Europäisch durchdrungen stellen wir gemeinsam fest, daß sie uns ja recht ist, die ganze agrarische und wirtschaftliche, technologische und kommunikative Vernetzung, und Sehengen sowieso, wenn das dazu führt, daß die Völker Europas sich nicht noch einmal gegenseitig die Köpfe einschlagen. Dann möchten wir, europatrunken, am liebsten in ECU zahlen, was ja leider noch nicht geht. Und dann komme ich doch noch mal drauf, daß wir ja zur Zeit in Sarajevo nicht so friedlich sitzen könnten und räsonieren, oder in Tuzla oder in Gorazde, und daß diese Städte ja auch zu Europa gehören. Schutzzonen, geschützt von Blauhelmen, die wiederum geschützt werden müssen von Eingreiftruppen, damit sie nicht als Geiseln genommen werden. Mein Gegenüber verfällt abermals ins grämliche Sinnieren, als er mich so hört, und er spricht unvermittelt von einem schwulen Freund, der ja nun in Italien schon wieder Angst haben müsse vor dem Kadi… Und ich denke an meine Bekannte aus Vietnam, die in Deutschland lebt, und an ihre Befürchtungen. Auch mein arbeitsloser Freund aus der Heimat kommt mir in den Sinn, der dem Roten entsagen muß, weil er ihn nicht mehr bezahlen kann. Einer von Millionen. Das behalte ich dann aber lieber für mich, denn die Reihe ähnlicher Beispiele könnte die Wirkung des Roten vollends neutralisieren.

Ich nehme ein Taxi zurück. Der Fahrer hat einen Aufkleber vom Vlaams Blok innen im Handschuhfach. Er zeigt ihn mir kurz und ostentativ, als ich beim Bezahlen auf Holländisch radebreche. Ach, Europa!