Auf Pegasus’ Rücken

Über Literatur und Politik

Neunhundert Treffer zeigt meine Internet-Suchmaschine nach deutschsprachiger Literatur an, wenn ich die Kombination „Literatur und Politik“ eingebe. Aber trotz der unübersehbaren Fülle an beschriebenem Papier, das es dazu offenbar schon gibt, bleibt es doch stets eine hochinteressante Frage, was Literatur mit Politik zu tun hat, was sie damit zu tun haben kann und was sie nach Ansicht unterschiedlicher Autoritäten zu unterschiedlichen Zeiten damit zu tun haben soll; ja, ob sie überhaupt etwas damit zu tun haben sollte. Die Meinungen darüber gehen weit auseinander; und zumal für die Deutschen birgt das Thema aufgrund ihrer spezifischen Geschichte, die man gelegentlich mit dem „deutschen Sonderweg“ gekennzeichnet hat, besondere Implikationen.

 Wenn es um das Verhältnis von Politik und Literatur geht, wird der Gemeinplatz vom garstigen politischen Lied gern und häufig zitiert. Wo finden wir ihn? Natürlich in Goethes Faust, wo sonst! In Auerbachs Keller sagt Brander zu Siebel: „Ein garstig Lied! Pfui! Ein politisch Lied!“ Im Urfaust fügt er noch hinzu: „… ein leidig Lied“ – und spricht damit eine zur Goethezeit weit verbreitete Ansicht aus, die Johann Gottfried Herd er 1792 gar „Politisch Lied, ein böses, böses Lied“ nennt. Es geht mir um die Frage, ob sich daran über die Jahrhunderte etwas geändert hat oder nicht.

 Ich beschränke mich weitgehend auf die deutschsprachige Literatur und auf die Zeit vom Ende des 18. Jahrhunderts bis heute. Nun ist auch dies bereits ein kaum zu überschauender Bereich, aber ich versuche ihn einzugrenzen, indem ich nachdenke über die Art und Weise, wie Literatur und Literaten die Politik behandeln, weniger, welche Wirkungen sie erzielt haben und erzielen (wenn sich Letzteres natürlich auch nicht vollständig ausklammern läßt). Meine erste These ist: Beschäftigt sich die Literatur oder, um es genauer zu sagen, die Schöne Literatur, Belletristik und Poesie, überhaupt mit Politik, so tut sie es meist, um der Politik am Zeuge zu flicken: Gesellschaftliche Deformationen werden der Politik und den Politikern kritisch, spöttisch oder gar höhnisch angelastet; positive gesellschaftliche Zustände hingegen nur äußerst selten unmittelbar auf das literarische Haben-Konto der Politik gebucht.

 Vor allem die gebildeten Schichten, mit denen die eingebildeten gelegentlich hohe Schnittmengen aufweisen, suchten und suchen Politik und anspruchsvolle Literatur meist so gut wie möglich voneinander zu trennen und treten in eine überaus skrupulöse Diskussion ein, wenn es darum geht, über das Verhältnis oder das Unverhältnis dieser beiden Bereiche Auskunft zu geben. In den Sechzigern des letzten Jahrhunderts hat Walter Jens, der Nestor deutscher Literaturwissenschaft, der übrigens auch einen hochpolitischen Roman mit dem Titel „Nein – die Welt der Angeklagten“ geschrieben hat, in dem er die Verführbarkeit des Menschen zur totalitären Herrschaft thematisiert – Jens also hat über die Literaten seiner Zeit folgendes

Politik ist ein Spiegel der Gesellschaft

geschrieben: „Einstmals rühmender Verherrlicher der Macht, ist der Schriftsteller heute zum Kraus’schen Nörgler geworden; einst legitimierter Sprecher einer Klasse und Repräsentant der Nation, ist der aus den vertrauten Bindungen Entlassene, wenn er die Stimme erhebt, allen in gleicher Weise verdächtig …“ Seit also die Scribenten nicht mehr eindeutig den traditionellen Oberschichten, der nationalen Herrschaftselite zuzurechnen sind, ist auch die Literatur, zumal die politisch engagierte, Gegenstand mißtrauischer Beobachtung geworden. Was mag sie nur wollen, so fragt man sich, und meistens gibt es darauf keine eindeutige Antwort, weil zwar die Kritik sich stets starker Worte bedient, die Alternative aber meist doch eher blaß und skizzenhaft bleibt – wenn sie überhaupt zur Sprache kommt.

In der Belletristik und der Poesie findet man zwar seit alters zwei verschiedene Weisen, sich mit Politik zu befassen: zum einen das Beschreiben und Kritisieren politischer Sachverhalte und Vorgänge, zum anderen die gelegentlich sogar programmatische Absicht, Politik zu beeinflussen; die erste Weise kommt indessen bei weitem häufiger vor als die zweite, allerdings sind die Grenzen fließend. Die zweite, und das ist zugleich meine zweite These, hat ihre hohe Zeit vor allem, wenn Umbrüche besonderer Art stattfinden, wenn Volksmeinung und Herrschaftsmeinung besonders weit auseinanderklaffen. Aber auch in einer solchen Situation überwiegt in der intellektuellen Debatte meist der Versuch, die Welt des Geistigen von der Welt des Politischen sorgfältig zu trennen, um das Erhabene nicht vom Schmutzigen verunreinigen zu lassen. Denn daß Politik ein schmutziges Geschäft sei, ist bis heute ein unumstößlicher Gemeinplatz in deutschen Landen geblieben, für den, wer wollte es leugnen, ja auch immer wieder beeindruckende Beweise geliefert werden.

 Freilich steht kein anderer Berufsstand so im Zentrum der Kritik wie der des Politikers. Das liegt in der öffentlichen Natur der Sache. Politik hat ihren Namen, weil sie bei den alten Griechen auf der Agorá, dem Marktplatz der Polis, der Stadt, verhandelt wurde. Alles weniger Öffentliche entzieht sich demgegenüber leichter der Kritik: Den Zahnärzten etwa haben wir es längst vergessen, daß Hunderte von ihnen noch vor wenigen Monaten in Verruf gerieten, weil sie sich mittels Abrechnungsbetruges für Zahnersatz auf Kosten der Allgemeinheit schamlos bereichert haben. Eine Fülle anderer Beispiele ließe sich hinzufügen. – Politik ist in Wahrheit aber nichts anderes als ein Spiegel der Gesellschaft, manchmal allerdings ihr Zerrspiegel, wenn etwa der Kölsche Klüngel überdimensioniert abgebildet wird und anderes demgegenüber tief in den Hintergrund tritt.

 Aber zurück zur intellektuellen Debatte. In der fraglosen Ausnahmesituation nach dem Zweiten Weltkrieg, als Heinrich Böll, Paul Celan, Nelly Sachs und andere das Desaster der Unmenschlichkeit, die Bestialität der Nazi-Herrschaft in Worte zu fassen bemüht waren, erfand Hans Egon Holthusen den „Unbehausten Menschen„, so sein häufig zitierter Buchtitel aus dem Jahre 1951. In mehreren Aufsätzen versuchte er, den Intellektuellen, insbesondere den Dichter, vor der Inanspruchnahme durch die Politik, ja, die banale Wirklichkeit, zu retten. In dem Text „Konversion und Freiheit“ heißt es: „Der Intellektuelle scheint heute vor einer schwerwiegenden, ja verhängnisvollen Alternative zu stehen: entweder den Begriff des ,Notstands‘ anzuerkennen und in brennender Sorge um das Wohl der Gesellschaft ein ideologisches Engagement auf sich zu nehmen, oder aber den Ort seiner geistigen Verantwortung jenseits der heute gültigen ideologischen Fronten zu suchen: in der Konzentration auf das unverwechselbar eigene Thema. Der Engagierte läuft Gefahr, zum politischen oder kulturpolitischen ,Aktivisten‘ zu entarten [sic!] und mit seinem Wort zu nahe an die aktuellen Propagandaklischees heranzukommen, so daß es am Ende von der Gigantomachie der Propagandamaschinen verschlungen wird, ohne irgendeinen wesentlichen Effekt zu leisten.“ Und Holthusen kommt zu dem Schluß: „Wer einen wirklich ursprünglichen und selbständigen Gedanken denkt, der ist zum intellektuellen ,Aktivisten‘ nicht geeignet.“

 Man ist an das ebenfalls bis heute virulente Wort „Politik verdirbt den Charakter“ erinnert, wenn man Holthusen liest. Mit diesem Slogan warb ein Prospekt 1881 für das „Blatt

Liberaler Freiheitsbegriff in lyrischer Form

für die Gebildeten aller Stände„, das den Untertitel „Eine Zeitung für Nichtpolitiker“ trug. Diese Auffassung von Bildung als Widerpart der Politik setzte sich jahrzehntelang in Deutschland fort, Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ von 1918, die indessen in ihrer Wirkung eminent politisch waren, geben vielleicht das beste Beispiel dazu.

 Dabei hatte es im Deutschland des 19. Jahrhunderts bis zur Reichsgründung von 1871, aber auch noch darüber hinaus, vor allem in der Lyrik eine Epoche gegeben, die extrem politisch war – und deshalb extrem populär. Heinrich Heine, Georg Büchner, Ludwig Uhland, August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Ferdinand Freiligrath, Karl Ferdinand Gutzkow, Georg Herwegh, Ludwig Pfau, Robert Prutz und Georg Weerth, um nur einige zu nennen, waren in ihren Dichtungen von zweierlei beseelt: zum einen von der Sehnsucht nach einer geeinten deutschen Nation und zum anderen nach der Beseitigung oder doch wenigstens Demokratisierung der Fürstenherrschaft. Von Staats wegen wurden sie darob, wen wundert es, verfolgt und verfemt, die Karlsbader Beschlüsse von 1819 unterwarfen sie verschärfter Zensur. Indessen wurde ihre Dichtung vom Zeitgeist getragen, dessen staatliche und gesellschaftliche Realisierung die politische Macht und mit ihr einige der neu aufkommenden politischen Parteien freilich bis 1918, bis zum Ende des verlorenen Ersten Weltkrieges, verhindern konnten.

 Das Wort Freiheit spielte damals eine besondere Rolle in den Gedichten und Texten, manchmal voller Pathos, Inbrunst und Sehnsucht verwandt, manchmal aber auch spöttisch ironisiert, mit bitterer Resignation angesichts der reaktionären Übermacht und der Gleichgültigkeit vieler Menschen, wie bei Heinrich Heine, wenn er schreibt: „Der Knecht singt gern ein Freiheitslied / des Abends in der Schänke. / Das fördert die Verdauungskraft / und würzet die Getränke.“ Insgesamt aber war Freiheit die appellative, dynamische Parole der Dichter, nicht nur wenn Hoffmann von Fallersleben „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland“ forderte sondern auch wenn die Liberalisierung der bestehenden, die Untertanen knechtenden Verhältnisse zum lyrischen Anliegen wurde. Dahinter steckte nicht selten ein politisches Konzept, die Vision einer Gesellschaftsordnung, die erst viel später praktisch eingefordert wurde. Es handelte sich also um den zweiten Fall der oben von mir angerissenen Weisen, mit Politik in der Literatur umzugehen, um die programmatische Forderung.

 Ein frühes Beispiel, den liberalen Freiheitsbegriff in lyrische Form zu kleiden und literarisch eine freie Gesellschaft zu begehren, möchte ich zitieren. Es handelt sich um ein Gedicht des heute leider weitgehend vergessenen elsässischen Dichters Gottlieb Konrad Pfeffel, das 1792 im von Johann Heinrich Voß herausgegebenen „Musenalmanach“ erschien. Es trägt den Titel „Ein freier Mann„.

Wer ist ein freier Mann?

Der, dem nur eigner Wille

Und keines Zwingherrn Grille

Gesetze geben kann;

Der ist ein freier Mann!

Wer ist ein freier Mann?

Wem seinen hellen Glauben

Kein frecher Spötter rauben,

Kein Priester meistern kann;

Das ist ein freier Mann!

Wer ist ein freier Mann?

Dem nicht Geburt noch Titel,

Nicht Samtrock oder Kittel

Den Bruder rauben kann;

Das ist ein freier Mann!

Wer ist ein freier Mann?

Der das Gesetz verehret,

Nichts tut, was es verwehret,

Nichts will, als was er kann;

Das ist ein freier Mann!

Wer ist ein freier Mann?

Der selbst in einem Heiden

Den Menschen unterscheiden,

Die Tugend schätzen kann;

Der ist ein freier Mann!

Wer ist ein freier Mann?

Wem kein gekrönter Würger

Mehr, als der Name Bürger

Ihm wert ist, geben kann;

Der ist ein freier Mann!

 Dies ist eine Form der politischen Literatur, deren Programmatik gewissermaßen auf der Hand liegt. Die politischen Forderungen – Herrschaft des Rechts, Religionsfreiheit, Abschaffung von Standes-Privilegien – werden beim Namen genannt. Es gibt, und bitte, liebe Leserin, lieber Leser, verzeihen Sie den scheinbar weiten Zeitsprung, der nun folgt, eine andere Form der politischen Literatur, die ebenfalls programmatisch ist, ebenfalls in einer Situation der Unterdrückung entstanden, die aber ganz andere Ziele hat, so scheint es wenigstens. Sie fordert auch die Freiheit ein von der Politik, aber die Freiheit des künstlerischen Individuums, die Freiheit der Kunst und des Geistes, und sie begnügt sich nicht mit dieser Forderung, sondern sie praktiziert sie gewissermaßen in Form des sprachlichen Ausdrucks.

 Ich möchte mit diesen vielleicht etwas kryptischen Worten exemplarisch anspielen auf den letztjährigen Büchner-Preis-Träger Wolfgang Hilbig, der zunächst, in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, in der DDR nicht publizieren durfte. Sein erster Gedichtband heißt „abwesenheit“ und ist häufig politisch interpretiert worden. Abwesend nämlich mit seiner geistigen Produktion von der real existierenden Wirklichkeit, die der Freiheit Hohn sprach. Nicht oppositionell, aber abwesend. Ich will dahingestellt sein lassen, ob diese Interpretation richtig ist, will aber darauf hinweisen, daß es auch ein Anliegen der politischen Literatur sein kann, die Freiheit mit den Mitteln der Kunst einzufordern, ohne sich plakativ politischer Begrifflichkeiten zu bedienen; die Freiheit, deren Abwesenheit Hilbig in seinem Stasi-Roman „,Ich’“ in beklemmender Form durch Lektüre erfahrbar gemacht hat. Roman Bucheli schreibt in der Neuen Zürcher Zeitung über die Dichtung Hilbigs, sie habe „die Widerstandskraft der Kunst aufs Entschiedenste gestärkt“. Die Widerstandskraft der individuellen geistigen Freiheit gegen das Diktat der Wirklichkeit, gegen die Fesseln der realen Verhältnisse. Ein anderer DDR-Autor, der in diesem Zusammenhang zu nennen wäre, ist gewiß Stefan Heym, dessen Texte und Romane, zum Beispiel „Lenz oder die Freiheit“ und „Collin„, eindeutig politische Absichten hatten, ohne daß sie freilich den subtilen Realitätsbezug von Hilbigs Gedichten aufweisen.

 Eines setzte sich trotz aller Skepsis der deutschen „Intelligenz“ gegenüber politischer Literatur fort bis in unsere Tage, mal an-, mal abschwellend, mal in die eine, dann in die andere Richtung weisend: die ideologische Polit-Literatur. Einmal von hoher, dann wieder von eher mäßiger Qualität, fand sie auf der Linken ihren Höhepunkt mit Bertolt Brecht. Daß

Abstumpfende Ideologie des Kollektivs

er ein Künstler von hohen Graden ist, steht gewiß außer Frage. Wie es um seine Absichten und seine Wirkung bestellt ist, darüber streiten die Gelehrten. Ich will nicht so weit gehen wie der schwedische konservative Philosoph und Dichter Lars Gustafsson, der Brecht als Widersacher der aufgeklärten Humanität abqualifiziert; aber mich hat eine Stelle in dem großartigen Buch von Sebastian Haffner „Geschichte eines Deutschen“ nachdenklich gemacht. Dort heißt es:

„Dann nahmen die Freunde den Krug / Und beklagten die traurigen Wege der Welt / Und ihr bitteres Gesetz / Und warfen den Knaben hinab. / Fuß an Fuß standen sie zusammengedrängt / An dem Rande des Abgrunds / Und warfen ihn hinab mit geschlossenen Augen / Keiner schuldiger als sein Nachbar / Und warfen Erdklumpen / Und flache Steine Hinterher. – Das ist von dem deutschen kommunistischen Dichter Brecht, und es ist positiv und preisend gemeint. Hierin wie in so vielem sind Kommunisten und Nazis der gleichen Meinung.“

 Es geht Haffner an dieser Stelle um die Verteidigung der Individualität gegen die gleichmacherische, verdummende und abstumpfende Ideologie des Kollektivs, die er in einem Lager der Nazis für angehende Rechts-Referendare 1933 am eigenen Leibe erfahren hat. Dagegen, so Haffner, muß der zivilisierte Mensch aufstehen; was die Deutschen freilich, und niemand schildert die Gründe dafür anschaulicher als Haffner, den Nazis gegenüber nicht fertigbrachten. Aus Veranlagung, wie Haffner meint; womit er hoffentlich unrecht hat.

 Immerhin hat die linke Ideologie im Nachkriegsdeutschland Ost wie West ein dickes theoretisches Unterfutter erhalten, das man von mir aus auch Überbau nennen mag; wiederum allzu oft gegen die als bürgerlich und damit reaktionär denunzierte Individualität gerichtet und einem Literatur-Begriff das Wort redend, der dienstbar gemacht werden sollte für die marxistisch-leninistische Sache der Diktatur des Proletariats. Nur ein knapper Beleg:

 Der marxistische Soziologe Urs Jaeggi schrieb 1972 einen in der edition suhrkamp, der damaligen Parade-Reihe für vermeintlich Avantgardistisches verlegten Essay mit dem Titel „Literatur und Politik„. Darin heißt es mit Stoßrichtung gegen die sogenannte „popularisierte bürgerliche Literatur“ und als Anleitung für Autoren einer zukünftigen kollektiven Kunstproduktion: „Die bisher gelähmten Konsumenten der Massen(un)kultur hätten sich kennenzulernen als mögliche Produzenten einer möglichen Kultur, die ihre eigenen Erfahrungen, ihre eigenen Aufgaben und Probleme auszudrücken vermöchte.“ Im Kontext seines Essays soll das heißen: Aus verblendeten Konsumenten werden mit dem richtigen Bewußtsein ausgestattete Produzenten, indem jeder sich der bürgerlichen Entfremdung entkleidet und dadurch zu einer Ausdrucksform findet, die Kunst und Wirklichkeit zur Deckung bringt; individuelle, subjektive Wertungen spielen keine Rolle mehr, an ihre Stelle tritt die Darstellung objektiver Sachverhalte. Als Gewährsleute für diese Anleitung führt Jaeggi übrigens keine geringeren als Bertolt Brecht und Jean-Paul Sartre an. Mit Verlaub, die Kunst eines Gottlieb Pfeffel ist mir lieber.

 Nun, derzeit liest man so etwas nur noch selten. Dafür findet sich manches, das kaum weniger befremdlich klingt. Wenn man einen anderen Ideologen, einen unserer Tage und einen von der diffusen Rechten, politisch ernst nimmt, Botho Strauß nämlich, so ängstigt man sich, Haffner möge doch richtig liegen und gegen die völkische, tribalistische Veranlagung der Deutschen sei wirklich kein Kraut gewachsen. Hier möchte ich eine kleine persönliche Anmerkung machen: Da ich die Stücke von Botho Strauß und auch einige seiner Prosa-Texte sehr schätze, weil sie meist auf eine künstlerisch überaus subtile Art und Weise Verformungen unserer Zeit bloßlegen, schmerzt es mich um so mehr, den ,,Anschwellenden Bocksgesang“ und ideologisch ähnlich

Ätzendes von ihm lesen zu müssen. Vielleicht gibt es ja einen gnädigen Gott, der ihn auf den rechten Weg zurückführt – wie es dem Texter, Komponisten und Musiker Bob Dylan geschehen ist, einem anderen von mir verehrten Künstler, der nach seiner religiösen Verirrung zur gesunden Skepsis fand. Bei dieser Gelegenheit kann ich mir ein ceterum censeo nicht verkneifen: Der Poet Bob Dylan, der im übrigen auch hochpolitische Lyrik geschrieben hat, sollte endlich den Nobelpreis für Literatur erhalten. Dann wäre einer seiner berühmtesten frühen Titel auch auf eine andere Weise verifiziert: The times they are a-changing.

 Aber zurück zum Thema: Was geschah nach 1945, als die Alliierten Deutschland zur Demokratie drängten, in der Literatur? Wurden die Literaten, wie es beim Nachbarn Frankreich seit der Revolution von 1789 ganz selbstverständlich war, zu citoyens, zu politischen Wesen oder blieben sie das, was Thomas Mann in den bereits erwähnten „Betrachtungen“ wie folgt ausdrückte: „Ich will nicht Politik. Ich will Sachlichkeit, Ordnung und Anstand. Wenn das philisterhaft ist, so will ich ein Philister sein. Wenn es deutsch ist, so will ich in Gottesnamen ein Deutscher heißen“? Lassen wir einige von ihnen zu Wort kommen.

 „Jedes Wort, das ich niederschreibe und der Veröffentlichung übergebe, ist politisch, d. h. es zielt auf einen Kontakt mit größeren Bevölkerungsgruppen hin, um dort eine bestimmte Wirkung zu erlangen.“ Peter Weiss in „10 Arbeitspunkte eines Autors in der geteilten Welt“.

 „Ich sehe nur – und mich eingeschlossen – verwirrte, am eigenen Handwerk zweifelnde Schriftsteller und Dichter, welche die winzigen Möglichkeiten, zwar nicht beratend aber, handelnd auf die uns anvertraute Gegenwart einzuwirken, wahrnehmen.“ Günter Grass in „Vom mangelnden Selbstvertrauen der schreibenden Hofnarren unter Berücksichtigung nicht vorhandener Höfe„.

Wehmütige Blicke auf Texte der Vergangenheit

„Die sogenannte Schöne Literatur dieser Bundesrepublik ist noch immer, wie unsere Kultur überhaupt, die Einrichtung einer Klasse, der bürgerlichen … Wenn eine Ohrfeige von Beate Klarsfeld mehr Information vermittelt als ein Band Gedichte von Yaak Karsunke, ist eine Ohrfeige bessere Politik.“ Reinhard Baumgart in „Sechs Thesen über Literatur und Politik“.

 „So wäre denn der öffentliche Auftrag an den Schriftsteller klar: er wird gebeten, am Frieden mitzuwirken. … besser wäre es schon, wenn er sich von Anfang an entschlösse, mit seinen Wörtern den Frieden zu stiften.“ Alfred Andersch in „Welche Aufgabe hat der Schriftsteller heute?

 „Es ist das Vorrecht der Dichter, vernunftlos zu träumen. Es ist das Vorrecht der Vernünftigen, sie zu verlachen. Aber die Träume gehen weiter …“ Stephan Hermlin in „In den Kämpfen der Zeit“.

 Die paar Zitate, die ich hier aufgeschrieben habe, stammen alle aus den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Viele andere könnte man hinzufügen, von Martin Walser zum Beispiel, der damals für den Kommunismus Blochscher Prägung plädierte, wovon er heute nichts mehr wissen will; von Heinrich Böll, der stets besonnen, aber leidenschaftlich gegen allzuviel unkontrollierte Staats- und Medienmacht anging; von Hans Magnus Enzensberger, der vor lauter Intelligenz und Metaphorik am Ende selbst nicht mehr wußte, wo er stand; auch von Ingeborg Drewitz, die nichts davon hielt, sich allgemein politisch zu outen, der es aber ganz dezidiert darum ging, sich schreibend in politischen Einzelfragen zu engagieren, zum Beispiel gegen die Folter.

 Die obigen Zitate scheinen mir Hinweise darauf zu sein, daß das Verhältnis der Literaten zur Politik ungewiß geblieben ist. Politischer vielleicht als zuvor, gelegentlich auch mit ideologisch strammer Haltung, insgesamt aber doch ungewiß und tastend, selbst wenn der Zeitgeist zum politischen Bekenntnis geradezu nötigte. Sicher, die barsche Zurückweisung alles Politischen wie in Thomas Manns „Betrachtungen“ findet sich nur noch selten, aber etwa seit Ende der Siebziger scheint sich die Hinwendung zum Politischen wieder in Gleichgültigkeit oder gar Abwendung gewandelt zu haben. Mag es auch die alten Schlachtrösser wie Günter Grass und Martin Walser nach wie vor zur Politik hinziehen, den einen in konsequenter Weise, in seinen letzten Büchern eindrucksvoll demonstriert, den anderen wie vom Saulus zum Paulus bekehrt – die Jungen und auch die nicht mehr ganz so Jungen scheinen mir eher politisch enthaltsam zu dichten. Nur zwei gefeierte Beispiele dafür aus dem vorletzten Jahr:

 Wilhelm Genazino mit dem Roman „Ein Regenschirm für diesen Tag“ (der Autor hat im März den Fontane-Preis 2003 erhalten) und Thomas Hürlimann mit der köstlichen Novelle „Fräulein Stark„. Beides gewiß lesenswerte, überaus kurzweilige Texte. Aber Politik? Keine Spur, nirgends. Oder der von manchen Rezensenten, zum Beispiel von Sigrid Löfller, damals Mitglied des berühmtberüchtigten „Literarischen Quartetts“ im ZDF, heute verantwortliche Redakteurin der sich politisch gebärdenden Monatszeitschrift „Literaturen„, als zukunftsweisend beraunte Thomas-Lehr-Schinken „Nabokovs Katze“ aus dem Jahr 1999. Psychologisch, literarisch und vielleicht auch sonst bemerkenswert (jedenfalls lauteten viele Kritiken dahingehend), politisch aber wohl eher ein Nullum. (Ganz am Rande, persönlich und subjektiv, erlaube ich mir, das Buch außerdem langweilig zu finden.) Sicher, es gibt auch andere Beispiele, Franz Hohler, Monika Maron und Peter Henisch etwa oder ein Außenseiter wie Karl Günther Hufnagel, aber Nachweise für eine wirklich politische Literatur unserer Tage sind sie gewiß nicht.

 Soll Literatur denn nun überhaupt mit Politik zu tun haben? Darauf kann man nicht kategorisch mit Ja oder Nein antworten. Was ich allerdings bedaure, ist, daß viele unserr Autoren und Autorinnen für Politik und für politische Aspirationen der Literatur überhaupt keine Antennen zu haben scheinen. Ja, sie sind ihnen, wie Thomas Lehr, Ulla Hahn, Wilhelm Genazino, Karin Struck, Judith Herrmann und im Grunde auch Peter Handke, wohl eher gleichgültig. Darin immerhin sind sie getreue Glieder der Mehrheit ihres deutschen Volkes.

 In anderen Ländern ist das ganz anders. In Lateinamerika etwa kann ich mir Literatur ohne Politik kaum vorstellen. Gabriel Garcia Marquez oder Octavio Paz, Mario Vargas Llosa oder Miguel Angel Asturias, Pablo Neruda oder Carlos Fuentes – alles Synonyme für politische Literatur, für programmatisches Engagement. Genauso wie Alexander Solschenizyn in Rußland oder Milan Kundera und Pavel Kohout in Tschechien. Auch anderswo, im literarischen Afrika zum Beispiel, scheint es politischer zuzugehen als bei uns. Der nigerianische Dichter Ken Saro-Wiwa wurde seines politischen Engagements wegen hingerichtet, und der ägyptische Nobelpreisträger Nagib Machfus legt sich mit der islamischen Nomenklatura seines Landes an, wobei er existentielle Not in Kauf nimmt; Nadine Gordimer und Breyten Breytenbach geißeln die politischen Zustände in Südafrika.

 Im deutschen Sprachraum blicken wir indessen eher wehmütig auf die großen Texte der Vergangenheit, die ihre Zeit wenigstens politisch beleuchtet und analysiert haben; die häufig wie in einem Schlangenei die künftige Gestalt der Gesellschaft durchscheinen ließen: auf die großartige Trilogie „Die Schlafwandler“ von Hermann Broch, auf Karl Kraus, Joseph Roth und Kurt Tucholsky. Auch auf die Roman-Trilogie von Wolfgang Koeppen über die junge Bundesrepublik, auf die deutschdeutschen Bücher von Uwe Johnson und auf Erich Frieds Gedichte. Auch in den professionellen politischen Kreisen gibt es eine Tradition, die Literatur und Politik verbindet. Theodor Heuss, unser erster Bundespräsident, hat, zusammengefaßt unter dem Titel „Bilder und Gestalten„, viele lesenswerte Miniaturen über Literaten und Literatur geschrieben; Rolf Schroers, von 1968 bis 1981 Direktor der Theodor-Heuss-Akademie in Gummersbach, war ein belletristischer Autor von hohen Graden und gleichzeitig ein politischer Kopf. Er schrieb zum Beispiel über den „Partisan„, und er meinte damit den Nonkonformisten, der sich gegen die Mächtigen durchschlägt und der Widerstand leistet vor allem gegen jeglichen totalitären Herrschaftsanspruch.

 Müssen wir uns damit nun begnügen? Oder gibt es nicht doch politische Tendenzen und Aspekte in unserer Literatur, die zu Hoffnungen berechtigen? Diese Frage ist schwer zu beantworten. Mir scheint, daß das Grundbedürfnis nach Freiheit eine wichtige Rolle spielt, wenn es um die literarische Auseinandersetzung mit politischen Themen geht. Sobald die Freiheit bedroht ist, scheint sich auch in der Literatur politisches Engagement zu regen; ist sie gewährleistet, jedenfalls im großen und ganzen, so scheinen sich die Literaten eher auf andere Gebiete zu konzen-

Wer steuert den literarischen Konsum?

trieren. Vielleicht ist dieser Befund eine Erklärung dafür, daß es derzeit nicht gerade Beeindruckendes gibt auf dem Markt der politischen Literatur. Andererseits hat etwa Günter Grass mit seinem zu Unrecht meist gescholtenen Roman „Ein weites Feld“ bewiesen, daß auch unabhängig von freiheitsgefährdenden Zeiten politisch brisante Themen einer literarischen Bearbeitung bedürfen – zum Beispiel damit sie sich auch dort einprägen, wo politologische, soziologische und andere theoretische Abhandlungen nicht gelesen werden. Wäre es nicht des Schweißes der Edlen wert, Themen wie Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit, Arbeitslosigkeit, Terrorismus oder Machtgier von Parteien und Politikern auf dem Pegasus zu Leibe zu rücken? Ich meine ja, bin aber nicht sicher, daß unsere literarische Elite damit etwas anfangen kann; bin auch nicht sicher, daß das Feuilleton eine solche Literatur goutieren würde. Und was dort nicht gepriesen wird, wird auch nicht gekauft – jedenfalls meist nicht. So scheint der Konsum die Literatur und ihre Themen zu steuern. Aber wer steuert den Konsum? Vielleicht sind es mancherorts die alten deutschen Vorurteile: daß Politik ein schmutziges Geschäft sei, mit dem sich die Sachwalter des Geistigen, zumal die Produzenten großer Literatur, nur im äußersten Notfall beschäftigen sollten.