Bemerkungen zur Nation

Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Nationalismus. Kaum hat sich der Kommunismus wie ein allzu lange Jahre und Jahrzehnte währendes, bedrückendes Spukgebilde in den rosa Dunst aufgelöst, den wir heute noch an so manchem politischen Ort des ehemaligen Ostblocks besichtigen können, schon erhebt sich ein neuer Alb aus dumpfen Tiefen der Vergangenheit und umnebelt die Gedanken der Menschen: nationalistischer Wahn, völkische Hybris. Doch genug der nebulösen Anspielungen, wenn sie auch noch so trefflich zum mystischen Bocksgesang der Zeit. und zum irrationalen Zeitgeist passen mögen. Worum geht es? Es geht um die Nation und um die vielfältigen Debatten, die dieser Begriff in der jüngeren Vergangenheit (wieder) ausgelöst hat. Nicht nur in Europa, auch in anderen Teilen der Welt, zum Beispiel im Jemen, in Sri· Lanka, Indien und Kurdistan werden im Namen nationaler Selbstbestimmung grauenhafte Bürgerkriege geführt; anderswo, wie in Kanada oder Mexico, bemüht man sich, die aufbrechenden Konflikte noch auf relativ zivile Art und Weise zu lösen. Die Westeuropäer blicken indessen voller Grauen auf den Balkan und versuchen angesichts der dort offenbar nicht zu zähmenden Gewalt ihre eigenen, zum Teil jahrzehntealten Krisenherde endlich nach vernünftigeren Gesetzen zu befrie den: Nordirland, Korsika und die baskische Region etwa. Und immer geht es um die kontroverse Definition nationaler Zugehörigkeit, die aufgeklärte Geister seit der französischen Revolution von 1789 für entschieden angesehen hatten. Damals befand Emmanuel Joseph Sieyes, einer der intellektuellen Köpfe der Revolution: Eine Nation ist eine „Gesellschaft, welche unter einem gemeinschaftlichen Gesetz lebt und durch ein und dieselbe Versammlung gesetzlich vertreten wird“. Damit schien die eher barbarische Stammesexistenz und ihre konkludente Verkörperung in der Nation durch einen Willensakt freier Bürger abgelöst, das vorgesetzliche Recht des Blutes und der Rasse durch rechtsetzenden Vertragsschluß und repräsentative Demokratie überwunden, unabhängig von individueller Herkunft. Aber weit gefehlt. Es wird wohl noch vieler Jahre und Jahrzehnte bedürfen, bis die Menschen souverän genug sein werden, dem ius sanguinis (dem Recht, das sich aus ethnischer Abstammung ergibt) zu entsagen und es überall durch das ius soli (dei:n Recht, das sich aus Geburt oder Anwesenheit bzw. Sozialisation in einem bestimmten Lande ergibt) zu ersetzen oder wenigstens zu ergänzen -wenn die Vernunft einen solchen Triumph zu erringen denn überhaupt jemals in der Lage sein wird! Nach dem Wiederaufleben nationalistisch-völkischer Hetze auch in Staaten, die das ius soli in ihren Verfassungen verankert haben (wie etwa Frankreich und die Vereinigten Staaten von Amerika), sind Zweifel angebracht. Der Begriff Kommen wir zur Klärung des Begriffes: ,,Nation“ wird, wie oben schon gesagt, in zweierlei Bedeutung verwandt, einmal als Bezeichnung für den verbindlichen institutionellen Rahmen, in dem die Bürger ihre Rechte, die Bürgerrechte, geltend machen können und der diese Rechte für alle Bürger garantiert, weil sie in der Staatsverfassung festgeschrieben und nicht beliebig zu-oder abzuerkennen sind; ein andermal als Synonym für einen Volksbegriff, der jeglicher Rechtsgemeinschaft vorausgeht, ja, ihr übergeordnet ist und sich aus Abstammung und Blutsbanden ergibt. Die demokratische Entwicklung in Europa und in anderen Ländern der Welt wird zu Ende unseres blutrünstigen Jahrhunderts wieder von einem Nationalismus gefährdet, der dem völkischen Bereich zuzuordnen ist und dem aufgeklärten Verständnis eines Nationalstaates, wie es Sieyes formuliert hat, ganz und gar entgegensteht. Der „Brockhaus“ definiert ihn so: ,,Die übersteigerte, intolerante Erscheinungsform des Nationalgedankens und des Nationalbewußtseins. Während ein maßhaltender, die gegenseitige Anerkennung und Achtung der Nationen nicht ausschließender Patriotismus eine unentbehrliche Voraussetzung jeder Staatlichkeit ist, gefährdet der Nationalismus, besonders in seiner schärfsten Form (Chauvinismus), den internationalen Frieden, indem er das nationale Eigeninteresse über alle anderen Werte erhebt.“ Hier werden also ,,Nationalismus“ und ,,Patriotismus“ sorgfältig voneinander getrennt, was im alltäglichen Gebrauch der beiden Begriffe häufig nicht selbstverständlich ist. Während dem Patriotismus, der Liebe zur patria, zum Vaterland und zur vaterländischen Tradition, positive Bedeutung zugemessen wird, haftet dem Nationalismus ein negatives Odium an. • · Mit dem so definierten völkischen Phänomen des Nationalismus gehen im wiedervereinigten Deutschland Begriffe einher, die bei seinen Verfechtern über kurz oder lang zu nebulös-pathetischen Kampfbegriffen gegenüber Menschen anderer Nationen werden. Volk“ und Vaterland“ zum Beispiel werden “ “ . zu solchen Begriffen. Während der unvoremgenommene Gebrauch dieser Vokabeln durchaus nichts Schlimmes bedeutet (im Gegenteil, wie die“Brockhaus“-Verwendu~gv?n patria = Vaterland zeigt), werden sie im Munde von eifernden Nationalisten zu Indikatoren vermeintlich gefährdeter Identität: Der Deutschen Volk und Vaterland sind dauernden Anfeindungen ausgesetzt und aktuell vor allem deshalb bedroht, weil wir auf dem Territorium unserer Nation Menschen anderer Völker und Vaterländer antreffen, die als Flüchtlinge, Studenten oder schlicht als Arbeitskräfte zu uns kommen. Diese „Fremdkörper“ und die Vermischung mit ihnen sind des Teufels, ohne daß man dafür hinterfragbare Argumente anführen müßte, während die unvermischte völkische Existenz eo ipso ihren hohen, vor allem emotionalen Wert hat. Man muß diese rassistische Position natürlich nicht begründen, man könnte es auch nicht. Sie ist der (häufig verzweifelte) Versuch, Mangelerscheinungen zu kompensieren, und nährt sich aus dumpfen Empfindungen der Herden-und Stammeszugehörigkeit: In Zeiten der Not rückt man zusammen; man sucht Zuflucht und Identität bei seinesgleichen, in der Nation; man schickt sich an, das Fremde, scheinbar Bedrohliche mit vereinten Kräften zu vertreiben, und findet Legitimation im glühenden Bekenntnis zu Volk und Rasse. Solcherart sind die untergründigen, diffusen, jedem rationalen Einwand mit Irrationalität, Haß und Gewalt begegnenden Grundierungen, die den völkischen Nationalismus tragen. Begriffe wie Toleranz oder Minderheitenrechte werden aus dem nationalistischen Vokabular gestrichen. Aufklärung und Ratio werden verhöhnt denn sie sind i~ ihr~r realitätsfernen Kopflastigkeit angeblich die Urübel und tragen die Hauptschu~d a~ den_ Problemen der Welt, speziell der Jeweils eigenen Nation. Statt dessen braucht man so etwas wie Stallgeruch um dazuzugehören und akzeptiert zu werde~ sonst braucht man eigentlich nichts. ‚ In ~ei~en prakt~schen Forderungen greift der volkische Nationalismus auf simple Argumente zurück, die vordergründig einiges für sich zu haben scheinen: Ausländer nehmen beispi~lswei_se Arbeitsplätze weg, sie verzehren die Sozialhilfe des deutschen Staates oder sie sind dreckig, kriminell und unzuverlässig, mit einem Wort: minderwertig, ja gefährlich. Belege sind flugs bei der Hand, und aus Einzelfällen werden absichtsvoll statistische Häufungen konstruiert. Jedem, der solcher Demagogie nicht folgen mag, wird in bewußter Gleichsetzung der Begriffe kurzerhand vorgeworfen, er sei kein Patriot, schätze den Wert nationaler Gemeinschaft gering. Populistische Parolen werden zu „Gütezeichen“ eines platten Nationalismus: ,,Ausländer raus“ oder „Deutschland den Deutschen“. Die Schwarzen heißen nicht mehr Neger, sondern „Bimbos“ oder gar „Dachpappen“, die es ,,aufzuklatschen“ oder „plattzumachen“ gilt. Es ist nur konsequent, wenn alsbald eine politische Gruppierung, eine populistische Partei oder gar mehrere entstehen, die sich diese Stimmung zunutze machen. -Immerhin scheint es in Deutschland mittlerweile weitgehend gelungen zu sein, solche Zusammenschlüsse den Parlamenten fernzuhalten. Andere Länder, etwa Belgien oder Frankreich, haben damit weitaus größere Probleme. Wolf Lepenies, der Direktor des Berliner Wissenschaftskollegs, hat am 23. Oktober 1992 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) die Gegenposition zur platten völkisch-nationalen Attitüde formuliert: ,,Der Universalismus der Aufklärung kennt nicht die Bindung des Patriotismus an ein einziges Vaterland. Erst die wechselseitige Respektierung der Völker rechtfertigt die Identifikation mit einem einzelnen, dem eigenen Volk. Patriotismus und Kosmopolitismus sind keine Gegensätze, sie bedingen einander.“ Die Geschichte Nach allgemeiner Auffassung bildeten sich Nationalstaaten moderner Prägung in Europa im Anschluß an die Französische Revolution von 1789. Der Mythos von der „Grande Nation“ wurde dort geboren, wobei die Nation freilich eine demokratische, nach Maßgabe der gleichen Freiheit eines jeden geordnete Rechtsgenossenschaft sein sollte und sonst nichts. In Deutschland vollzog sich eine andere Entwicklung: Während fortschrittliche nationale Einigungs-und Demokratisierungstendenzen eine innere Liberalisierung anstrebten, verbreiteten sich parallel dazu schon im Vormärz nationalistische Schwärmerei und Fremdenfeindlichkeit, speziell der Haß auf den „Erbfeind“ Frankreich, und kamen vor allem während der Befreiungskriege gegen Napoleon in der „vaterländischen“ Literatur aggressiv und blutrünstig zum Ausdruck. In „Germania an ihre Kinder“ schreibt Heinrich von Kleist über die Franzosen: ,,Schlagt sie tot, das Weltgericht / Fragt euch nach den Gründen nicht.“ Und Ernst Moritz Arndt dichtet in „Des Deutschen Vaterland“: ,,Das ist des Deutschen Vaterland, / Wo Zorn vertilgt den welschen Tand, / Wo jeder Franzmann heißet Feind, / Wo jeder Deutsche heißet Freund.“ Den Jüngeren wurde die Nation immer gleichgültiger Nationalstolz und „deutsches Denken“ blieben in Mode, der Zusammenschluß der deutschen Staaten, des deutschen „Flickenteppichs“, zur kleindeutschen oder großdeutschen Nation beherrschte die Debatten bis zur Reichsgründung 1871. Vor allem die Liberalen, die das aufstrebende Bürgertum verkörperten, hatten das Thema der Nation ganz oben auf ihre politische Agenda gesetzt. Das Ringen um die nationale Einheit wurde zu einem der wichtigsten Impulsgeber für die Verfassungsdiskussionen, die 1848/49 in der Frankfurter Paulskirche geführt wurden. Freilich waren die inneren Widersprüche zwischen den deutschen Staaten (noch) nicht zu versöhnen. James J. Sheehan schreibt dazu in seinem Buch „Der deutsche Liberalismus“: „ Wie im Falle der sozialen, wirtschaftlichen und religiösen Freiheit, so erkannten die Liberalen hier nicht, daß das, was sie als die wundervolle Freiheit, ein Deutscher zu sein, betrachteten, anderen als eine Nötigung erscheinen mochte, kein Österreicher, Bayer und so weiter sein zu dürfen.“ Zwar waren Kleinstaaterei und separatistische Politik nicht der alleinige Grund für das Scheitern der Paulskirche, wohl aber hatten die feudale Struktur der deutschen Staaten und die daraus resultierenden egoistischen Bestrebungen eine gehörige Portion Mitschuld daran. Als Deutschland dennoch zur Nation wurde, wenn auch unter anderen Vorzeichen, als es die Verfassungspolitiker von 1848 vorgesehen hatten, trat alsbald eine militante nationale Bewegung auf den Plan, die deutschen Ruhm und deutsche Größe in alle Welt hinaustragen wollte. 1891 wurde der Alldeutsche Verband gegründet, der aus fast allen politischen Bereichen Zulauf hatte. Es wurden Konzepte deutscher Hegemonie in Europa und weit darüber hinaus entwickelt und propagiert; um mit anderen europäischen Mächten gleichzuziehen, wurde dem Kolonialismus das Wort geredet. Auch Friedrich Naumann, der weitsichtige Führer der Sozialliberalen um die Jahrhundertwende, stellte sich mit seinem „Mitteleuropa“-Buch in diesen Kontext. Im Ersten Weltkrieg dann, als der Kaiser keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche kannte, stellten die Alldeutschen weitgehende Annexionsforderungen, die nationaler Hybris einen vorläufigen Höhepunkt bescherten. Friedrich Meinecke, ursprünglich einer in der langen Reihe der Sympathisanten, die die Alldeutschen in der deutschen Professorenschaft hatten, schrieb im September 1918 an einen Freund: „Wir hätten … den Verständigungsfrieden haben können, wenn nicht die maßlosen Ansprüche des alldeutschmilitaristisch-konservativen Konzerns ihn unmöglich gemacht hätten.“ Der endgültige, barbarische Gipfel war dann mit den Nationalsozialisten und ihrem „Lebensraum“-Konzept erreicht. Es erfüllte sich das Wort des österreichischen Dramatikers Franz Grillparzer, der schon 1850 sagte: ,,Der Weg der neuer’n Bildung geht / Von Humanität / Durch Nationalität/ Zur Bestialität.“ Eine vollends „einmalige“ Qualität erhielt die Hybris der Nazis durch den Schritt von antisemitischer Attitüde, die wir durchaus auch in anderen Nationen finden, zur ruchlosen „Endlösung“ der Judenfrage, die keinerlei historischen Vergleich oder sonstige Relativierung mehr zuläßt. Wenn wir heute sehen, wie jüdische Gedenkstätten in ehemaligen Konzentrationslagern und anderswo von Neonazis geschändet werden, müssen wir beschämt feststellen, daß alle demokratische Kultur in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nicht in der Lage war, solch späte Brut im Keim zu ersticken. Daß es der ehemals real existierende Sozialismus in der DDR nicht konnte, darf nicht verwundern, denn seine stalinistischen Auswüchse waren selbst nicht besser; daß es allerdings auch die westdeutsche Republik nicht kann, ja, daß ihre Institutionen geradezu hilflos reagieren und ein übler Chorus Ewiggestriger gar applaudierend seine Stimme erhebt, sollte uns nicht nur zu denken geben, nein, sollte uns veranlassen, wo immer es geht, aktiv bei ihrer Bekämpfung mitzuhelfen – ohne freilich die Institutionen der wehrhaften Demokratie aus ihrer Pflicht zu entlassen. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es in Westdeutschland darum, allmählich wieder zur Nation zu finden. Zu einer Nation, die nolens volens eingebettet wurde in die westliche Wertegemeinschaft und in die europäische Partnerschaft, ohne daß das Grundgesetz freilich das tradierte ius sanguinis aufgegeben hätte. Desungeachtet wuchs eine Generation heran, die, so dachte man lange Zeit, alte nationale Attitüden und Ambitionen ablegen würde. Tatsächlich war ja von jüngeren Leuten nach der Vereinigung Deutschlands häufig zu hören, daß ihnen das westliche Ausland viel vertrauter sei als das östliche Deutschland. In den sechziger und siebziger Jahren war es in bestimmten, sich fortschrittlich gebär denden Kreisen geradezu verpönt, national zu denken und das auch noch zu sagen. Sogar die Vokabel des Patriotismus wurde, wenn überhaupt, nur zögerlich verwandt. Schließlich wollte man unter den 68em nicht vermeintlich überholter Ansichten geziehen werden. Zwar hielt die Politikergeneration der ersten Stunde, die das Deutsche Reich noch aus eigener Anschauung kannte, am Willen zur Wiedervereinigung der deutschen Nation fest, aber den Jüngeren schien sie immer gleichgültiger zu werden, ja, man richtete sich in der halben Nation komfortabel ein, ignorierte allmählich die andere Hälfte und war nicht wenig überrascht, als die Mauer dann tatsächlich fiel. Nun plötzlich war ein durchaus ambivalentes Gefühl nationaler Einheit wieder virulent. Einerseits schwoll irgendwie großartig das Herz (einigen auch der Kamm), wenn man auf der von der Bundeszentrale für politische Bildung vieltausendfach verbreiteten Landkarte alle sechzehn Länder innerhalb einer Grenze sah; andererseits war den meisten bange wegen der unübersehbaren, vor allem materiellen Konsequenzen, die die deutsche Vereinigung haben mochte. Fürs erste siegte das Herz, inzwischen hat die herzlose Ernüchterung mehr als genug an Boden gutgemacht. Jetzt entstand folgerichtig eine Diskussion darüber, was die Nation nun eigentlich sei. Ob sie von deutscher Abstammung, von Sprache, Kultur und Tradition sowie von einem dazugehörigen Territorium (auf dem viele „Blutsdeutsche“ gar nicht mehr leben) bestimmt werde oder ob es andere Kriterien dafür gebe. Ralf Dahrendorf nahm die Position aufgeklärten Denkens ein, als er im Juni des Jahres 1990 bündig feststellte: „Nation ist ein Ver fassungsbegriff.“ Er beschäftigte sich in einem Vortrag mit der von Dolf Sternberger geprägten Vokabel des „Verfassungspatriotismus“ und sagte dazu: „Patriotismus muß sich nicht auf eine schwammige Idee oder selbst auf letzten Endes willkürliche geographische Grenzen beziehen, sondern kann Institutionen gelten, in denen Menschen ihr Zusammenleben auf spezifische Weise zivilisiert haben.“ Konsequenterweise fordert Dahrendorf in seinem vorletzten Buch „Der moderne soziale Konflikt“ (1992) den „heterogenen Nationalstaat“, der die „homogene“, völkische Nation Zukunft Deutschlands als Nation in Europa -~-1 .. d endlich überwinden und von einer neuen, radikalliberalen Partei in Europa hergestellt werden müsse, um dann, als ferne Vision, die kantische Weltbürgergesellschaft zu begründen. Dabei geht es freilich um ein Prinzip, denn: „Wenn wir uns die bürgerliche Gesellschaft ernsthaft denken wollen, dann können wir nicht anders, als sie als eine Gesellschaft zu denken, die nicht einfach an den Grenzen des eigenen Landes aufhört“ (FAZ vom 28. Oktober 1992). Für Deutschland als Nation in Europa macht Dahrendorf folgende Voraussage: „Es wird ein Nationalstaat sein, mit allen Begrenzungen, die solche Staaten heute haben und deren Verständnis auch zum selbstbewußten Umgang mit der Nation gehört. Es wird also ein europäischer, zudem ein weltoffener Nationalstaat sein“ (ln„liberal“ 3/1990). Inzwischen präzisierte Dahrendorf seine Position zum Nationalstaat. Im „Merkur“ aus dem September/Oktober 1994 veröffentlichte er den Aufsatz „Die Zukunft des Nationalstaates“. Dort heißt es: „Nur die civic nation ist jene Errungenschaft der Zivilisation, die hier gepriesen wird. Der homogene Nationalstaat steht immer in der Gefahr der Aggression gegenüber Minderheiten und Nachbarn; der heterogene Nationalstaat steht immer vor der Herausforderung der gleichen Rechte für Ungleiche. Sie ist gemeint, wenn von einem liberalen Begriff des Nationalen die Rede ist.“ Ideologischer Nationalismus Vielfach ist davon gesprochen worden, daß nach dem Zusammenbruch des Sowjetreiches die Ost-West-Feindbilder verschwunden sind und ein Vakuum hinterlassen haben, das irgendwie gefüllt werden muß. Während man zu Zeiten des Kalten Krieges wußte, wogegen man zu sein hatte, muß man sich nun, nach dem Verlust der Feindbilder, die viel schwierigere Frage stellen, wofür man eigentlich ist. Und plötzlich stehen die Menschen ratlos vor dem Bild der „entzauberten Welt“ (Max Weber) die zwar-mehr oder weniger-Optionen zur Befriedigung vornehmlich materieller Bedürfnisse anbietet, nicht aber „Ligaturen“ Bindungen, zur Sinnfindung für ihr Leben: jedenfalls nicht als leicht konsumierbare Waren. Was läge näher als der Versuch, das Leben erneut zu „verzaubern“, nicht nur durch Hinwendung zur Religion, sondern auch durch die Wiederentdeckung des Nationalismus. Man entwickelt ein nationales Selbstwertgefühl mit allen oben geschilderten, irrationalen Implikationen, grenzt sich gegenüber anderen ab und verschafft sich auf diese Weise flugs neue Feindbilder. Diese Erklärung ist zu einfach, gewiß. Trotzdem hat sie einiges für sich. Was die Nationen des ehemaligen sozialistischen Blocks betrifft, so brechen hier jahrzehntelang unterdrückte Bedürfnisse und Feindschaften im Namen des Nationalismus eruptiv auf, und dieser neue Nationalismus dürfte auch die Funktion des „Sozialismus-Ersatz“ übernommen haben, wie Stefan Melnik im August 1991 in„liberal“ schreibt: „Die Ähnlichkeiten zwischen Nationalismus und Sozialismus nicht nur in ihren extremen Formen -sind frappierend: die ethnisch-biologische Begründung des menschlichen Seins hier, die soziale, klassenbezogene Begründung da.“ Man stützt sich also nach wie vor, so Melnik, auf „letztlich abstrakte Gemeinschaften“, nur die Fronten haben sich geändert. Früher galt es, gegen den Klassenfeind zu kämpfen, heute kämpft man gegen die Feinde der Nation. Noch ein bedeutsamer Faktor kommt hinzu: Not und Elend, die das wirtschaftliche Versagen des Sozialismus, an dem er endgültig zerbrochen ist, kennzeichnen. Auch hier wieder das Phänomen des Zusammenrückens in der Nation und des Ausgrenzens Fremder die sich angeblich am nationalen Besitzt~ vergreifen. -Zeiten des Mangels beschränken den intellektuellen Horizont. Gegenüber den Verfechtern des völkischen Nationalismus ist es nahezu unmöglich, mit rationalen Argumenten durchzudringen, die die Vorzüge der „heterogenen Staaten“ und der verfassungsrechtlich definierten Nation vermitteln  wollen. In Ost wie West hat es bislang wenig genützt, daß etwa seriöse Wissenschaftler immer wieder auf die unter anderem in den USA zu besichtigenden Vorzüge einer Vitalisierung der Gesellschaft hinweisen, die durch Zuwanderung und Vermischung mit Menschen anderer Abstammung erreicht wird, oder auf den gerade für Deutschland notwendigen Ausgleich der sinkenden Bevölkerungszahl durch ausländische Einwanderer, damit die Wirtschaftskraft der Nation erhalten und der Generationenvertrag erfüllbar bleibt (siehe zum Beispiel Herwig Birg von der Universität Bielefeld im „stern“Nr. 43/94). Während sich einerseits die Menschen in den ehemals sozialistischen Staaten also in den Nationalismus flüchten, um darin ihre Identität zu finden und ihre Not dadurch zu kompensieren, während sie die ,,Fremden“, mit denen sie jahrzehntelang dicht an dicht zusammengelebt haben, davonjagen, breitet sich andererseits in den reichen Staaten des Westens die Angst vor den Davongejagten aus, und sie suchen ihrerseits im Nationalismus Zuflucht und Legitimation dafür, daß sie die Ausgestoßenen nicht bei sich haben wollen. Ressentiments entstehen überall, und Kooperation wird mehr und mehr erschwert, wenn nicht gar vollends unmöglich gemacht. Ohnehin, so sagen die Westler, müßten sie schon genug von den Lasten tragen, die der Bankrott des Sozialismus hinterlassen habe, nun wolle man nicht auch noch zum Einwanderungsland für die Verelendeten werden. Man kann es auf eine kurze Formel bringen: Angesichts der zunehmenden, weltweiten Migrationen, die aus Elend und Überbevölkerung resultieren, bangen die Reichen um ihren Wohlstand und versuchen, ihr Territorium abzuschotten. Das Argument der völkischen Nation ist den Gemäßigten dabei ein willkommener Behelf, den Eiferern ein mit Emotionen befrachteter Kampfbegriff. Unnötig zu sagen, daß diese Verhaltensweise keineswegs aufgeklärtem Denken und humaner Überzeugung entspricht, dennoch breitet sie sich auch in der offiziellen Politik der westlichen Staaten mehr und mehr aus, wenn nicht ganz offen, so doch schleichend, sozusagen subkutan. Die populistische Relativierung oder gar Beseitigung des deutschen individuellen Asylrechts ist nur ein Beleg unter vielen. Sollte es schon so weit sein, daß die westlichen universalen Werte von Aufklärung, Humanismus und Demokratie, von Toleranz, Rechtsstaatlichkeit und Solidarität, kurz: von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, nicht mehr tragen, daß sie aus dem für ihr Zusammenleben konstitutiven Bewußtsein der Menschen verdrängt werden und an ihre Stelle der Rückfall in nationalistische Positionen tritt? Immer öfter finden sich dafür Anzeichen, auch bei Politikern staatstragender Parteien. Gunter Hoffmann schreibt in der „Zeit“ vom „Zerfall der liberalen Öffentlichkeit“, der für den Nationalismus und den Rechtsruck in der Politik verantwortlich sei: „Als größeres Problem könnte sich erweisen, daß in der Republik allmählich eine liberale Bürgerlichkeit dahinschwindet, die überhaupt mit Zivilcourage und Intelligenz definiert, was rechts und links, liberal und sozial, vernünftig und unvernünftig sei.“ – Jürgen Habermas hat diese Ansicht mit seiner zugespitzten These, das Bekenntnis der Westdeutschen zur Demokratie, zur westlichen Wertegemeinschaft, sei nichts als eine Lebenslüge, provokativ und eindrucksvoll unterstrichen. Das Dahinschwinden liberaler Bürgerlichkeit, wenn man der Behauptung Hoffmanns denn zustimmen mag, hat zwei Gründe: zum einen die Angst, den geliebten Wohlstand teilen zu müssen, zum anderen (vielleicht daraus resultierend) das Sich-Verflüchtigen der Ratio und des Bewußtseins, daß Pluralismus, Demokratie und Rechtsstaat fundamentale Werte, ja Conditio sine qua non für das friedliche Zusammenleben aller Menschen darstellen, die es entschlossen zu verteidigen gilt. Die westlichen Nationalstaaten, das vereinigte Deutschland eingeschlossen, haben auch deshalb den hohen Standard ihrer Zivilisation erreichen können, weil die Mehrheit ihrer Bürger den „Verfassungspatriotismus“ ernst genommen hat (wenn es für manchen, um Habermas noch einmal aufzunehmen, auch nur ein Lippenbekenntnis gewesen sein mag). Sollte die Sensibilität dafür verlorengehen, so dürfte ein von Angst determiniertes Zurückdriften auf den völkischen Nationalismus die friedliche Entwicklung weltweit bedrohen. Denn gestützt wird eine solche Attitüde längst nicht mehr nur von einer Minderheit, nein, sie findet die (vielleicht -oder leider häufig genug -unreflektierte) Billigung des Spießbürgers. Antje Vollmer beschreibt in der FAZ vom 10. Oktober 1992 den deutschen „weltoffenen Spießertyp“ unserer Tage, den es wachzurütteln gelte: „Er ist dreißig bis fünfzig Jahre alt, hat zwei bis drei Familien, lebt trotzdem als Single, zahlt keine Kirchensteuer mehr, duscht täglich, ißt gern beim Italiener, wählt gelegentlich radikal, um es denen da oben mal zu zeigen. Er kennt alle Steuertricks, alle Sozialansprüche und alle gruppendynamischen Praktiken. Er liest FAZ und die TAZ, und er amüsiert sich gern königlich und redegewandt über die Tölpel und Luschen in Bonn. Er wäre ja nie so blöd, diesen ,Kuß des Todes‘ (Enzensberger über die Politik) mitzuküssen. (Nur manchmal träumt er noch davon, wie es einmal war … )“ Noch einmal zu den Politikern und den Institutionen der Verfassung: Wie reagieren sie auf diese latent reaktionären Zustände, die ja durchaus eine Herausforderung an eine freiheitliche Demokratie darstellen? Nicht wenige ernstzunehmende Beobachter der Szene befürchten, daß sie zurückweichen, populistischem Begehren nachgeben. Dabei könnte viel von dem, was bisher als gesichert galt, verlorengehen. Der italienische Journalist und Europa-Experte Paolo Flores d’Arcais schreibt dazu in der „Frankfurter Rundschau“: „Es ist nicht auszuschließen, daß sich das Problem ganz radikal stellt. Wenn es nicht gelingt, rasch einen Weg zu einer schnelleren, intensiveren und verbindlicheren europäischen Einigung zu finden, dann werden die nationalistischen Tendenzen auch die partiellen Ansätze bereits funktionierender europäischer Institutionen überrollen.“ Womit wir bei Europa sind und bei der Frage, wie weit die europäische Integration dem völkischen Nationalismus vorbeugen, ja, die Nationalstaaten vielleicht sogar überflüssig machen kann. Nicht wenige meinen, daß diese Absicht die Väter und Visionäre eines vereinten Europa beflügelt und der Römische Vertrag von 1957 letztlich die Vereinigten Staaten von Europa zum Ziel habe. Aber kann die Europäische Union, selbst wenn „Maastricht“ verwirklicht sein sollte, tatsächlich ein Ersatz sein für die europäischen Nationalstaaten und an ihre Stelle treten? Zu dieser Frage nimmt Ralf Dahrendorf in seinem oben genannten „Merkur“-Aufsatz Stellung, und er beantwortet sie ganz eindeutig mit „nein“. Zwar werden wir an supranationaler Organisation vieler Bereiche etwa in der Wirtschaft nicht mehr vorbeikommen, wir werden um der internationalen Kooperation und Konkurrenzfähigkeit willen auch manche nationale Kompetenz aufgeben müssen, aber auf absehbare Zeit wird es keinen anderen und keinen besseren Bezugsrahmen für die Garantie der Bürgerrechte, der wichtigsten Errungenschaft der civil society, geben als den „heterogenen Nationalstaat“. Peter Coulmas unterstreicht diese Auffassung in seinem Aufsatz „Die vielen Nationen und die Einheit der Welt“, den er in der 19. Folge 1994 des „Europa Archivs“ veröffentlicht hat. Er schreibt: „Auch wenn die radikalnationalen Gefühle und Überzeugungen den Widerspruch liberaler und demokratischer Geister auslösen, die auf lange Sicht universale Entwicklungen erwarten, läßt sich die gegenwärtige Renationalisierung doch nicht einfach als Atavismus und historischer Rückschritt abtun. Nicht jeder Nationalismus ist seiner Intention nach aggressiv. Und, wichtiger noch, der Nationalstaat hat sich zwar viele gewalttätige Exzesse zuschulden kommen lassen, ist aber doch zugleich die Institution, die die demokratischen Bürgerrechte garantiert. Ohne Nationalstaat hätte es keine Demokratie gegeben, ohne Demokratie keine Freiheit. Das ist die positive Gegenseite der nationalen Ideologie.“ Keine nationale Ideologie also, sondern die Einbettung der heterogenen Nationalstaaten in supranationale Zusammenschlüsse, das ist das Gebot der Zeit. Um es mit Ralf Dahrendorf zu sagen: „So findet der Liberale sich in der Lage, den heterogenen Nationalstaat gegen seine Verächter zu verteidigen, um zu verhindern, daß homogene Nationen Minderheiten entrechten und Nachbarn attackieren.“ Und nicht nur der Liberale findet sich in dieser Lage. Es scheint fast schon eine Frage der Generationen. Wobei die Jüngeren ihre nationalistischen, mystischen Propheten fatalerweise nicht nur in Blättern wie der „Jun gen Freiheit“, sondern auch unter den 68er Renegaten finden. Robert Leicht, einer der unbestechlichsten Köpfe in der deutschen Medienlandschaft, hat sich dazu in der „Zeit“ geäußert: „Ein neuer Generationenkonflikt? In Wirklichkeit der alte Konflikt zwischen Romantik und Politik, zwischen Ahnung und Erfahrung, zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, zwischen Mythos und Mündigkeit. Schon wahr, manche Parole von 1968 war zur Phrase abgesackt. Mancher Optimist von damals hat sich als bloß leichtsinnig erwiesen. Ein flotter Rationalismus bot allenfalls die Karikatur aufgeklärter Vernunft, beliebige Diskurse konnten nie die verantwortliche Entscheidung ersetzen. Und Selbstverwirklichung war nur zu oft im narzißtischen Schongang steckengeblieben. Verglichen aber mit den neuen Propheten wirken manche alten 68er noch recht jung – und viele junge Leute wie alte 68er. Wie immer in Generationskonflikten kommt es vielleicht auch hier zum Vatermord. Aber Vaterselbstmord – niemals!“ Dem ist, zumindest von meiner Seite aus, nichts hinzuzufügen.