Der Rathenaumord

Bisher war in der Literatur über den feigen, hinterhältigen Mord am deutschen Außenminister Walther Rathenau, begangen am 24. Juni 1922 auf der Berliner Königsallee, vor allem zu lesen, daß es sich um einen Fememord verblendeter junger Fanatiker von der nationalen Rechten einem jüdischen „Erfüllungspolitiker“ handelte. „Die nationale Rechte – allen voran Helfferich und Ludendorff – verlangte seinen Kopf, und im Oberschlesischen Selbstschutz sangen die Mannschaften ein Lied, dessen. Kehrreim lautete: ‚Knallt ab den Walther Rathenau; die gottverdammte Judensau.‘“ – so sieht es, stellvertretend für viele andere, Hans Werner Richter in seinem Nachwort zu einer Auswahl von Rathenaus Schriften. Diese Motive, den im Ausland hochangesehenen Minister zu ermorden, sind gewiß nicht von der Hand zu weisen, jedoch zeigt das Buch von

Martin Sabrow: Der Rathenaumord – Rekonstruktion einer Verschwörung gegen die Republik von Weimar, München 1994 (R. Oldenbourg),

daß das Geflecht von Ursachen und Motiven noch erheblich komplexer ist.

Der Mord an Walther Rathenau steht in einer Reihe von Attentaten, die mit berechnendem Kalkül geplant waren und die die Provokation eines Aufstands der deutschen Linken zum Ziel hatten, damit man einen Vorwand fände, mithilfe der Reichswehr von rechts loszuschlagen und am Ende die junge deutsche Republik insgesamt zu beseitigen. Nachdem mit dem Kapp-Lüttwitz-Putsch im März 1920 der erste Versuch gescheitert war, wandten sich einige der daran Beteiligten anderen Möglichkeiten zu, die verhaßte neue Staatsform und mit ihr die organisierte Linke gewaltsam zu eliminieren. Sabrow weist durch eine an Genauigkeit kaum noch zu übertreffende Quellenanalyse nach, daß die Ermordung des Zentrumspolitikers Matthias Erzberger am 26. August 1921 der erste Anschlag einer planvollen Serie war, dem am 4. Juni das fehlgeschlagene Attentat auf den Sozialdemokraten Philipp Scheidemann folgte. Walther Rathenau, Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei, der dritten im Bunde der „Weimarer Koalition“, war das nächste Opfer. Auf der Todesliste der Attentäter fanden sich eine Reihe weiterer Politiker, unter anderen Reichspräsident Friedrich Ebert und Reichskanzler Joseph Wirth.

Hinter diesen Attentaten stand, auch daran kann nach der Arbeit von Sabrow kein Zweifel mehr sein, die vom ehemaligen Kommandeur der II. Marine-Brigade, Korvettenkapitän a.D. Hermann Ehrhardt, geleitete „Organisation Consul (O.C.)“. Ehrhardt war mit seiner Brigade schon am Kapp-Lüttwitz-Putsch beteiligt gewesen und wurde deswegen steckbrieflich gesucht. Sein Deckname „Consul“ wurde zum Synonym für seine neue Organisation. Er selbst freilich trat öffentlich kaum in Erscheinung, um bei einer erhofften Regierungsübernahme der Rechten nicht kompromittiert zu sein; seine Organisation wurde vor allem von ehemaligen Offizieren seiner Brigade geführt, die auch unmittelbar für die oben genannten Attentate verantwortlich waren. Sie stellten aus Gefolgsleuten rechter Organisationen, vor allem der O.C. selbst. eine kleine Gruppe skrupelloser Terroristen zusammen, der auch die beiden Rathenau-Mörder Kern und Fischer angehörten. Die Organisation, die wie ein Geheimdienst agierte und in ganz Deutschland ihre Filialen unterhielt, wurde von München aus geleitet. Die Zentrale arbeitete unter dem Tarnnamen „Bayerische Holzverwertungsgesellschaft mbH“. Später, als Hitler allmählich die Oberhand im Konzert der rechtsnationalistischen Organisationen gewann, gliederten sich auch Ehrhardt und seine Gefolgsleute in NSDAP und SA ein. Das Konzept, die Republik durch einen militärischen Putsch zu stürzen, wurde nun abgelöst durch die Strategie, breite Volksmassen für die braune Farbe zu gewinnen und politisch die Macht zu erobern.

Kern und Fischer, die Mörder Rathenaus, hatten mit anderen Mitgliedern und Sympathisanten der rechten Szene zusammen das Attentat auf den deutschen Außenminister sorgfältig vorbereitet, bevor sie am 24. Juni 1922 in einem eigens von einem Dresdner Unternehmer besorgten Kraftwagen das Automobil des Ministers verfolgten, mit einer Maschinenpistole auf ihn feuerten und beim Überholen eine Handgranate ins Innere des Wagens warfen. Rathenau war sofort tot. Die Attentäter aber fühlten sich so sicher, daß sie sich noch einige Tage in Berlin aufhielten. Indessen war die Empörung der Öffentlichkeit über ihre feige Tat so unerwartet groß, daß sie dann doch erschrocken die Flucht ergriffen. Es ist vor allem dem besonnenen Agieren der Reichsregierung zu verdanken, daß die Mörder ihr Ziel der Provokation nicht erreichten. Die Linke behielt die Nerven und bot der Reatktion keinen Vorwand, gewaltsam gegen sie vorzugehen.

Nur ein Zufall führte die Polizei auf die Spur der Attentäter. Am 17. Juli 1922 wurden beide bei einem Feuergefecht mit der Polizei auf Burg Saaleck in Thüringen getötet. Kern wurde von einem Polizisten erschossen, Fischer brachte sich selbst den tödlichen Kopfschuß bei. „Grüßen Sie Kapitän Ehrhardt von uns. Kapitän Ehrhardt, er lebe hoch, hoch, hoch“, hatten sie kurz zuvor noch zwei Studenten zugerufen, die sich gerade als Spaziergänger auf dem Burghof aufhielten.

Im Laufe der nächsten Wochen und Monate wurden auch die meisten anderen am Rathenau-Mord beteiligten Personen ausfindig gemacht und verhaftet. Zwischen dem 3. und dem 14. Oktober 1922 fand das Verfahren vor dem neugebildeten Staatsgerichtshof in Leipzig gegen 13 Angeklagte statt. Die Urteile bewegten sich zwischen 15 Jahren Zuchthaus und zwei Monaten Gefängnis. Drei der Angeklagten wurden freigesprochen. Bemerkenswert ist, daß das Gericht bei dem Fahrer des Wagens, Techow, nicht auf Mittäterschaft, sondern auf Beihilfe erkannte, was den Angeklagten vor der sonst sicheren Todesstrafe bewahrte. Auch daß es sich um einen organisierten Mord gehandelt hatte, hinter dem die O.C. stand, mochte das Gericht trotz einer Fülle von Beweisen nicht feststellen. „‚Deshalb liegt auch die Vermutung nahe, daß der Mord von den Angeklagten planmäßig organisiert war, daß er nicht ein dem Zufall entsprungenesVerbrechen gewesen ist, daß nicht Kern und Fischer allein die Urheber des Mordes waren.‘ Genauer mochte das Gericht sich nicht festlegen.“ (S. 111)

Mehr als zwei Jahre nach dem Prozeß gegen die Rathenau-Mörder kam es zu einem Verfahren gegen 26 Mitglieder der O.C. wegen des Verdachtes der Geheimbündelei. Freilich erwiesen sich Anklage und Richter dabei eher als Sympathisanten der Angeklagten, als daß ihnen, auch mit Blick auf die drei oben genannten Attentate, an einem Recht und Gesetz entsprechenden Urteil gelegen gewesen wäre. Sabrow kommentiert den Versuch, die Verurteilten im Nachhinein von Strafe freizustellen, folgendermaßen: „Dieser Versuch einer Urteilskorrektur per Gnadenerweis, der nach Ebermayers (des Reichsanwalts) Worten auch darauf zielte, die durch das Urteil verbitterten , weite(n) Kreise der Offiziere des alten Heeres und der alten Marine‘ zu versöhnen – ein rechtlich durchaus belangloser Gesichtspunkt –, fügte sich in die allgemeine Linie der Reichsanwaltschaft. Ihr lag die Orientierung des öffentlichen Anklägers an einem über der republikanischen Verfassung stehenden Staatswohl zugrunde, in dessen Dienst die Rechtsprechug sich dem Anspruch politischer Opportunität zu beugen habe.“ (S. 214) Damit wird ein Anhaltspunkt mehr für den Befund offenbar, daß die Justiz von Weimar sich keinesfalls loyal zur. Republik verhalten, sondern sich vielmehr. zum Komplizen der Reaktion gemacht hat.

„Es ist die Tragödie einer entwurzelten Generation, die sich im Nationalsozialismus entlädt. Keine Möglichkeit des Besitzes, keine Möglichkeit des Heims, keine Freude an der Familie, die häufig zu Kinderlosigkeit verurteilt ist, so entsteht hier eine Gesinnung, die den Kapitalisten über sich genauso haßt wie den Arbeiter, der bisher unter ihr stand. Man kann Nationalsozialist werden, ohne sich seines Klassenbewußtseins zu entkleiden, obwohl man deklassiert ist. Die braune Jacke deckt alles.“ So beschrieb Erich Koch-Weser, der letzte Vorsitzende der Deutschen Demokratischen Partei, 1933 in seinem Buch „Und dennoch aufwärts“ das Milieu der Nazis. Schon zu Beginn der Weimarer Republik, als viele Soldaten erschöpft und frustriert aus dem Krieg zurückkehrten und vor dem Nichts standen, als die alten Ideale der Kaiserzeit noch keineswegs durch neue ersetzt werden konnten, begann die von Koch-Weser so anschaulich beschriebene Verelendung vieler Menschen in Deutschland. Die Demütigung des Reiches durch den Versailler Vertrag und die Gratwanderung der „Erfüllungspolitik“ erschienen vielen national Denkenden, die eben noch so stolz gewesen waren auf ihr Deutschland, als eine unerträgliche Schmach und Schande. Viele typische Vertreter dieses Milieus waren Mitglieder der „Organisation Consul“. Als Privatpersonen entwurzelt, von den Reichstags-Parteien kaum repräsentiert, schmiedeten sie den Plan, die Republik zu zerstören und das alte Reich wiederherzustellen. Der Mord an Walther Rathenau war Teil dieses Planes.

Es bedurfte eines zweiten, noch schrecklicheren Krieges und seiner Folgen, bis die Republik in Deutschland wirklich ihre Chance bekommen hat. Das hier besprochene Buch sollte auch als Mahnung dienen, wachsam zu sein, wenn nationalistischer Haß heute wieder zur Tat drängt.