Ein MUT-Interview mit Lord Dahrendorf
Das Gespräch führte Karl-Heinz Hense
MUT: Lord Dahrendorf, in Deutschland diskutiert man heute häufig über die „selbstbewußte Nation“, die ihre neue Position aus den positiven, glanzvollen Epochen ihrer Vergangenheit ableiten müsse, also etwa aus der „stolzen Tradition“ des Bismarck-Reiches. Wie stehen Sie zu dieser Debatte?
Dahrendorf: Die deutsche Diskussion hat ja viele Teilnehmer mit sehr differenzierten Meinungen. Daß die Diskussion stattfindet, finde ich zunächst einmal gut. In der Sache ist für mich die Unterscheidung zwischen Volksnation und Bürgernation entscheidend. Das heißt: Wenn eine selbstbewußte Nation homogen sein muß, ethnisch homogen sein muß, aus Leuten bestehen muß, die seit mindestens zwanzig Generationen deutsch sind was immer das heißt -, dann sehe ich darin
den Anfang neuer Feindseligkeiten innen wie nach außen. Das heißt, dann sehe ich darin die Quelle der Intoleranz gegenüber denen, die anders sind, und die Quelle von Abgrenzungsproblemen nach außen, die zu Konflikten führen können. Wenn auf der andern Seite unter Nation der Nationalstaat von Bürgern, die sich zu ihm bekannt haben, was immer ihre Eltern für eine Nationalität hatten, verstanden wird, dann halte ich es sogar für sehr wichtig, daß Deutschland begreift, daß diese Art von sozialer und politischer Einheit nach wie vor der Rahmen ist für Recht und Freiheit und damit Institutionen schafft, die für alle verbindlich sind. Wenn also der Kern und die Absicht, das Ergebnis dieser Diskussion die selbstbewußte und stolze deutsche Bürgernation ist, halte ich das für sehr gut.
MUT: In diesem ganzen Komplex spielt ja auch das Asylrecht eine große Rolle. Die Gegner des neuen deutschen Asylrechts werfen den Politikern häufig nationalistische Abschottung vor. Was wäre nach Ihrer Meinung die richtige Antwort der Industriestaaten auf die zunehmende Armuts- und Kriegsmigration in der Welt?
Dahrendorf: Die richtige Antwort ist ganz offenkundig die, in anderen Teilen der Welt Bedingungen zu schaffen, die es unnötig machen für Menschen, dort wegzugehen. Solange diese Antwort aber nicht oder nicht hinreichend gegeben werden kann, gibt es keine richtige Antwort. Es gibt keine richtige Asylpolitik. Solange Asylpolitik überhaupt nötig ist, liegen in ihr Ungerechtigkeiten und Dinge, die für mich als Liberalen unakzeptabel sind. Ich wünsche mir eine Welt, in der es möglich ist, sich frei zu bewegen, aber nicht nötig ist, das eigene Land zu verlassen. Es gibt diese Welt aber nicht. Und darum hat jede Asylpolitik, ausnahmslos jede, Unerträglichkeiten, die nichtsdestoweniger unvermeidlich nötig sein können. Es gibt keine moralischen Gründe für eine bestimmte Asylpolitik, sondern am Ende fast nur praktische.
MUT: Wenn Sie sagen, wir müßten dafür sorgen, daß die Menschen dort nicht weggehen müssen, wo sie sind, bedeutet das nicht, daß wir eine Welt schaffen, die dann eventuell durch ihre Umweltprobleme am Ende nicht mehr bewohnbar ist? Wir sehen ja schon heute – der Welt-Klima-Gipfel beispielsweise hat das gezeigt-, daß Probleme entstehen können, die unsere Erde nicht mehr verträgt, wenn wir einfach unsere Konzepte auf die Dritte Welt ausdehnen.
Dahrendorf: Was immer die Konsequenzen sind: Ich kann kein Recht darauf begründen, daß wir anderen das verbieten, was wir selber wollen.
MUT: Noch einmal zurück zum Nationalismus. Offenbar haben in Zeiten der Not Nationalismus und Religion große irrationale Macht. Gelegentlich steigern sie sich zu Tribalismus und Fundamentalismus. Könnte man sagen, daß Demokratie und Marktwirtschaft darin heute die größten Feinde erwachsen?
Dahrendorf: Ich glaube, daß einer der großen Feinde von Demokratie und Rechtsstaat in dem liegt, was die Franzosen mit einem sehr viel eindringlicheren Begriff lntegrismus nennen. Das heißt also darin, daß bestimmte Gruppen Überzeugungen, die nicht näher begründet werden, nicht nur auf ihr gleichsam privates Leben oder ihren Glauben anwenden, sondern auch auf die Institutionen der Gemeinschaft, des Gemeinwesens; daß sie also zwischen Religion und Staat, zwischen ihrem Glauben und ihrer Tätigkeit als Bürger keinen Unterschied machen. Dieser Integrismus zerstört die Chancen der Freiheit. Umgekehrt war die Trennung von Kirche und Staat eine der Voraussetzungen der Freiheit in der westlichen Welt. Daß es heute eine starke Neigung in vielen Ländern gibt, einem solchen Integrismus zu verfallen, ist unverkennbar. Ob das die Not ist, weiß ich nicht; es könnte mehr die Entwurzelung sein, die Phase der ersten wirtschaftlichen Entwicklung. Die Anlaufphase einer modernen wirtschaftlichen Entwicklung ist ja ungeheuer entwurzelnd für viele und ist fast schwieriger als die Not in den vorindustriellen oder vormodernen Gesellschaften. Aber was immer der Grund ist, ich sehe im lntegrismus in der Tat eine große Gefahr.
MUT: Sie sagen, Liberale müssen sich heute für den heterogenen Nationalstaat stark machen. In manchen Staaten Osteuropas und in der ehemaligen Sowjetunion scheint ein solcher Staat aber gar nicht erst eine Chance zu bekommen. Halten Sie es überhaupt noch für denkbar, daß die Demokratie und der heterogene Nationalstaat sich dort zukünftig durchsetzen können?
Dahrendorf: Denkbar sicher, schließlich gibt es große Beispiele. Es gibt die Vereinigten Staaten, es gibt Großbritannien, es gibt Frankreich. Warum sollte das nicht anderswo auch möglich sein? Für wahrscheinlich halte ich es jedoch im Augenblick nicht. Darum habe ich vielfach in letzter Zeit argumentiert: Wer für den heterogenen Nationalstaat und somit für die Bürgernation eintritt, findet sich heute in der Defensive. Viele Tendenzen gehen auf stärkere Homogenität, im Extremfall auf ethnische Säuberung, im weniger extremen Fall auf Segregation, also die Trennung nach Volksnationen in verschiedene Gemeinwesen, und dort, wo diese nicht möglich oder zunächst nicht möglich scheint, auf Bürgerkrieg, im Grunde genommen, zwischen verschiedenen Gruppen. Das heißt: Die Idee der Bürgernation ist weder unrealistisch noch falsch. Aber sie wird von vielen heute nicht akzeptiert. Wer sie daher vertritt, kann nicht unbedingt darauf hoffen, den Weltgeist auf seiner Seite zu haben.
MUT: In den gleichen Komplex gehört die Annahme, Demokratie und Marktwirtschaft bedeuteten automatisch auch Wohlstand. Diese Rechnung ist im Osten bisher nur bedingt aufgegangen und hat Enttäuschung gezeitigt, die nicht selten in eine demokratiefeindliche Reaktion umschlägt. Müssen nicht spezifische, angepaßte Übergangsformen von absolutistischen zu freiheitlichen Systemen gefunden werden, um das Ziel der Demokratie überhaupt erreichen zu können?
Dahrendorf: Ich hoffe nicht. Es ist zwar richtig, daß viele glauben, daß auch in einem technischen Sinn die Begrenzung von Wahlchancen und Freiheitsmöglichkeiten eine Voraussetzung der wirtschaftlichen Entwicklung ist. Deutschland ist ja vielleicht das erste Land, das sich unter autoritären Verhältnissen industrialisiert hat, im 19. Jahrhundert. Die technischen Voraussetzungen, die ich meine, sind die, daß die Anfangsschritte der Modernisierung immer verstärktes Sparen bedeuten, daß wir aber in einer konsumbeherrschten Welt leben, in der es nicht leicht ist, Menschen zu überzeugen, freiwillig zu sparen, und daß daher die Länder am erfolgreichsten sind, die die Menschen zum Sparen zwingen. Das ist der Anfang des Autoritarismus. Das ist Südostasien, wo eine ganze Fülle von Maßnahmen, im Wohnungssektor, beim Import von Automobilen, im Konsumverhalten, dafür sorgen, daß die Menschen das Geld entweder gar nicht bekommen oder nicht ausgeben können, das sie unter normalen Verhältnissen verdienen würden. Ich bin trotzdem der Meinung, daß es keinerlei Rechtfertigung für die Verletzung von rechtsstaatlich-demokratischen Regeln gibt, unter keinen Umständen. Daher ist jeder Ansatz, dies sozusagen als unumgänglich oder gar als wünschenswert zu akzeptieren, genauso verwerflich wie andere Ansätze zu autoritärer Herrschaft, wie sie aus dem Nationalismus hervorgehen. Nein, nach meiner Meinung ist es unsere Aufgabe, das Dreieck von Wirtschaftswachstum, Bürgergesellschaft und freiheitlichen Institutionen als solches und insgesamt zum Leitstern zu machen.
MUT: Stichwort Europa: Sie sind der Auffassung, der Vertrag von Maastricht habe die Europäische Gemeinschaft gespalten und die beabsichtigte Währungsunion werde diese Spaltung noch vertiefen. Könnten Sie diese Position erläutern?
Dahrendorf: Ja leider nur allzu leicht. Ich meine die Spaltung beginnt natürlich damit, daß es im Vertrag von Maastricht zum ersten Mal opt outs gibt, also die Möglichkeit, die sich zwei Länder inzwischen eröffnet haben, aus bestimmten gemeinsamen Politiken heraus zu definieren. Es gibt darüber sich in den Konvergenz-Kriterien eine Liste von Voraussetzungen weiteren Fortschritts, von der von Anfang an klar war, daß nicht alle Länder sie erfüllen würden. Und so ist ein Europa entstanden, in dem die einen können, aber nicht wollen, die anderen wollen, aber nicht können, und die dritten wollen und können. Das ist nicht mehr ein Europa, sondern was wir jetzt tun, ist das mühsam vereinigte Europa in einigen Punkten zu spalten. Die Währungsunion wird das massiv verschärfen. Wer die Währungsunion mit einer Zollunion vergleicht, der man auch später beitreten kann, ist naiv oder böswillig. Es ist nicht so einfach, man kann da nur Satellit werden oder von Anfang an dabeisein. Und ich halte das für ein abenteuerliches Wagnis oder vielleicht für ein abenteuerliches Projekt, das Deutschland und Frankreich sich da vorgenommen haben, um das Europa, das sie mühsam gebaut haben, wieder abzubauen.
MUT: Sie haben sich immer dafür ausgesprochen, daß im wesentlichen eine europäische Verfassung geschaffen werden müsse, die die Bürgerrechte sichert. Nun besteht die Europäische Union aus demokratisch verfaßten Nationen, die ihrerseits die Bürgerrechte garantieren. Überdies ist so etwas wie ein europäisches Nationalbewußtsein so gut wie nirgends zu verspüren. Ist dann eine europäische Verfassung überhaupt noch sinnvoll und nötig?
Dahrendorf: Nun, was ich gesagt habe, ist Folgendes: In der ganzen europäischen Konstruktion steckt eigentlich nichts, was für den einzelnen Bürger von unmittelbarem Interesse ist. Vielleicht gewisse protektionistische Politiken für bestimmte benachteiligte Gruppen wie Landwirte oder Textilproduzenten. Aber für den, der nicht Schutz sucht, ist da wenig drin. Warum dann nicht, und das ist ja der Kern meiner Europa-Ideen, auf dem gemeinsamen Interesse, auf dem Schutz der Menschenrechte aufbauen? Und dieses Interesse läßt sich realisieren ohne ein Nationalbewußtsein. Das heißt: Der Schutz der Menschenrechte durch Institutionen, auch durch Rechts-Institutionen, geht nun wirklich über nationale Grenzen hinaus und schließt nicht aus, daß die nationalen Traditionen als solche erhalten bleiben. Darum seit langem meine These: Eine schlanke europäische Verfassung, in der Grundrechte verankert werden, sei es in der Form der europäischen Konvention, also der Integration von Straßburg in Brüssel, sei es in einer etwas modernisierten Form, denn die Europäische Konvention trägt alle Spuren eines bald nach 1945 geschriebenen Dokuments und verdient eine gewisse Aktualisierung.
MUT: Gerade in dieser Beziehung gelten die Briten als die stärksten Bremser. Glauben Sie, daß die Union zerbrechen wird, wenn etwa das Lamers-Konzept und entsprechende französische Vorstellungen sich durchsetzen, so daß Großbritannien und andere Mitglieder möglicherweise gezwungen wären, hinter dem Integrationsniveau der Kernländer zurückzubleiben?
Dahrendorf: Ja, das glaube ich. Großbritannien ist in gewisser Weise ein besonderes Problem, weil es hier nach wie vor unterschwellig eine Diskussion darüber gibt, ob man überhaupt mit von der Partie sein soll. Und während sie nicht in diesen Begriffen geführt wird, ist die Wahrheit unzweifelhaft die, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil der britischen politischen Klasse und wohl auch viele Bürger am liebsten nicht dabei wären. Ich spreche von innen, von innerhalb der Europäischen Union, und über eine Europäische Union, die wirksam ist und die Interessen ihrer Bürger berücksichtigt. Und da scheint mir so etwas wie das Kerneuropa-Konzept verderblich zu sein. Es ist schlicht ein Hegemonial-Anspruch, der in diesem Fall dann von zwei Ländern erhoben wird, und alle anderen müssen gehorchen. Das ist eine merkwürdige Wendung, die die europäischen Dinge da genommen haben; eine Wendung, die mir nicht gefällt. Die allerdings auch von den Regierungen der betroffenen Länder jedenfalls nicht offen unterstützt wird.
MUT: Was würde denn „zerbrechen“ in dem Falle bedeuten? Würde das heißen, es gäbe dann
nur noch lose Wirtschaftsverträge zwischen den einzelnen Nationen, die jetzt in der Europäischen Union zusammengeschlossen sind?
Dahrendorf: Ja. Ich meine, über eine deutsch-französische politische Union braucht man eigentlich gar nicht zu reden, denn die wird nicht kommen. Aber wenn man sie sich einmal vorstellt, so würde es natürlich bedeuten, daß die anderen Satelliten werden, einschließlich bedeutender, großer, alter Nationen wie Holland, Spanien, Italien. Ich meine, Holland ist eine alte Nation, Italien ist eine jüngere, aber es wäre ebenfalls in dieser Lage. Und das kann nicht gemeint sein, wenn man Europa sagt.
MUT: Damit wäre dann das Projekt einer Europäischen Verfassung auch endgültig tot?
Dahrendorf: Jedenfalls muß der Verdacht sehr groß sein, daß es dann in den anderen Ländern eher eine Diskussion gibt wie heute in der Schweiz, ob man sozusagen „aus freien Stücken“ die Europa-Gesetzgebung mitmachen soll, da man schon nicht drin ist. Das ist nun schlicht Satellitenexistenz.
MUT: Wir hatten eingangs schon einmal kurz die neuen globalen Probleme angesprochen. Häufig ist die Rede von einer „Ökodiktatur“, wenn es um diese neuen Herausforderungen geht. Damit müsse man die sich kontinuierlich verschärfenden Umweltprobleme in den Griff bekommen. Man schlägt vor, etwa für eine begrenzte Zeit die Demokratie außer Kraft zu setzen und den Experten das Feld zu überlassen. Ich gehe davon aus, daß Sie dieser Position nicht zustimmen können …
Dahrendorf: … mit Recht …
MUT: … aber wie kann die zweifelsfrei sich zuspitzende Lage anders bewältigt werden?
Dahrendorf: Sie haben völlig recht, wenn Sie annehmen, daß ich der Diktatur in keiner Form zustimme. Auch nicht der Ökodiktatur. Insbesondere dann nicht, wenn sich mit ihr der Anspruch verbindet, daß eine bestimmte Gruppe genau weiß, was geschehen wird, die meisten anderen das aber nicht verstehen. Sie sagen, daß die Lage sich zweifelsfrei zuspitzt. Ich empfinde Vorsicht bei der Verwendung des Wortes „zweifelsfrei“. Sehr wenige Dinge sind zweifelsfrei. Manche sind es, aber sehr wenige. Meine Meinung zu diesen Dingen ist, daß es zwar leider eine Tatsache ist, daß die Menschheit immer erst reagiert um fünf Minuten nach zwölf, also wenn es zu spät ist. Aber es gibt keinen anderen Weg, um Freiheit und Überleben zu sichern, als uns vorzubereiten auf eine Situation, in der die Reaktion dann unausweichlich nötig ist. Ich habe seit langem die Auffassung, daß es ohne Hiroshima einen Atomkrieg gegeben hätte und daß nur die Evidenz, die wirkliche Evidenz des Grauens, das schon der Abwurf von Atombomben hervorgerufen hat, uns in den folgenden fünfzig Jahren daran gehindert hat, die noch viel schwerer wiegenden Waffen zu verwenden. Der Ausdruck „zwanzigtausendmal Hiroshima“ hat zwar keine wirklich sinnfällige Bedeutung für die meisten Menschen, auch für mich nicht, aber einmal Hiroshima ist schon schlimm genug. Und wenn es vielfach das ist, weiß man, wovon man redet, wenn einer einen Atomwaffensperrvertrag abschließt oder eine Strategie der Abschreckung verfolgt oder andere Maßnahmen. Man muß den Verdacht haben, daß, wenn die Kassandras der ökologischen Analyse recht haben, erst in dem Augenblick, in dem die Niederlande in den Fluten verschwunden sind, eine wirkliche Reaktion eintritt. Aber ich mache mir da keine Illusionen und gebe niemandem das Recht, diesen Augenblick als zweifelsfrei kommend zu antizipieren. Und so ist mir eigentlich viel wichtiger, daß wir uns inhaltlich vorbereiten auf den Moment danach, als daß wir jetzt nach jemandem suchen, der uns unter Beschneidung unserer Rechte angeblich retten kann.
MUT: In Singapur zum Beispiel hat man die Straßenbenutzungsgebühren so hoch hinauf geschraubt, daß nur noch die weit über Durchschnitt Verdienenden regelmäßig das Auto benutzen können. Eine Lösung der Abgas- und Verkehrsprobleme: über den Preis. Halten Sie eine solche Vorgehensweise auch in den westlichen Demokratien für denkbar, vielleicht für unumgänglich?
Dahrendorf: Singapur ist für mich wahrhaftig kein politisches Modell. Es ist kein freies Land, und ich möchte die Bedingungen von Singapur hier nicht einführen. Aber die Lösung über den Preis oder die Beantwortung von Umweltproblemen über den Preis scheint mir im Prinzip völlig richtig. Und dagegen hätte ich keine Einwände. Das heißt: Wenn bei uns der innerstädtische Verkehr durch Gebühren oder andere Preismaßnahmen begrenzt würde, würde ich das für ein durchaus sinnvolles Verfahren halten.
MUT: Auch unter den Voraussetzungen, daß dann unter Umständen Menschen sagen würden: Hier wird wieder eine Klassengesellschaft geschaffen? Denn gerade das Automobil gilt ja als etwas, das jedermann, zumindest in den Industrieländern, sich jetzt leisten kann und womit er auch in gewisser Weise seine Freiheit verwirklicht.
Dahrendorf: Da ist etwas dran. Obwohl das, glaube ich, sehr stark das zwanzigste Jahrhundert kennzeichnet, nicht unbedingt das einundzwanzigste. Ich habe sehr wenige
Menschen getroffen, die ernsthaft der Meinung sind, daß es in hundert Jahren noch Autos gibt, so wie wir sie kennen. Trotzdem, auch auf diese Gefahr hin würde ich die Lösung über den Preis befürworten, ja.
MUT: Um einer zunehmenden Anomie zu begegnen und neue Ligaturen zu schaffen, auch um staatliche Vor- und Fürsorge zu entlasten, findet man immer häufiger die Forderung nach Selbsthilfe in der Gemeinschaft. Der einzelne soll einen Teil seiner individuellen Freiheit aufgeben und Verantwortung nach Maßgabe der Gemeinschaft übernehmen. Halten Sie diese Vorschläge für vereinbar mit dem Konzept einer liberalen Gesellschaft?
Dahrendorf: Ich weiß nicht, ob ich die Vorschläge so formulieren würde wie Sie. Ich halte es für völlig vereinbar mit dem Konzept einer liberalen Gesellschaft, daß man neben dem Eigeninteresse und dem Zwang die Bereitschaft zur Zusammenarbeit und sogar zum Dienen als menschliche Motive anerkennt und prämiert. Mindestens dadurch, daß man sie öffentlich lobt. Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der nur Zwang und wirtschaftlicher Anreiz anerkannte Motive für menschliches Handeln sind. Das heißt: Das Zusammenwirken in Assoziationen, was ja ein sehr schöner, alter Begriff ist – wenn man ihn ins Deutsche übersetzt, gerät man in größere Schwierigkeiten, weil er klassischerweise in der alten juristischen Literatur mit Genossenschaft übersetzt würde -, aber das Zusammenwirken in Konsoziationen, socius: der Genosse, in Assoziationen scheint mir sogar ein Kernbestandteil liberaler Gesellschaften zu sein. Da sehe ich überhaupt kein Problem. Wie man allerdings Bedingungen schafft, unter denen das ermutigt und nicht entmutigt wird, ist viel schwieriger. Denn solche Assoziationen sind ja geradezu dadurch definiert, daß sie sich nicht von oben schaffen lassen, sondern daß sie von unten wachsen müssen, sehr oft aus der Notwendigkeit heraus. In Mexiko City, vor Jahren nach dem Erdbeben, als der Staat gar nicht helfen konnte, haben die Menschen sich dann plötzlich zusammengefunden und haben sich wechselseitig geholfen und haben solche Assoziationen aufgebaut. Vielleicht schafft in gewisser Weise die Problematik der Anomie bei uns an manchen Orten ähnliche Bedingungen. Das scheint mir sehr liberal zu sein, ja.
MUT: Sie meinen, es kommt irgendwann eine Wendung, so daß die Notwendigkeit, von unten her sich gegenseitig zu helfen, auch erkannt wird?
Dahrendorf: Ich glaube schon. Ich glaub auch, daß in dieser Zeit, in der wir viel über die unmittelbare Nachkriegszeit reden, man sich daran erinnern sollte, daß da ja zunächst nicht etwa Regierungen angeordnet haben daß die Trümmer beseitigt werden und ähnliches, sondern da haben die Leute selber zugepackt. Es gibt also Situationen der, mindestens, Regierungsarmut oder -armseligkeit, in denen Leute dann selber zupacken.
MUT: Sie behaupten, Liberalismus sei das Ergebnis eines Zivilisationsprozesses. Könnte man sagen, daß dieser Prozeß zur Zeit mancherorts, etwa bei den Neonazis in den Industriestaaten, vor allem aber in den Bürgerkriegsgebieten Osteuropas und der ehemaligen Sowjetunion, umgekehrt wird und damit auch die Chancen des Liberalismus per saldo sinken?
Dahrendorf: Ja. Da haben Sie eine einfache Antwort. Aber das ist in der Tat meine Meinung, und es ist ein Prozeß der Entzivilisierung.
MUT: Der Barbarei, könnte man schon sagen?
Dahrendorf: Ja, ja.
MUT: Zur Freien Demokratischen Partei in der Bundesrepublik: Seit etwa zwei Jahren haben es die Freien Demokraten in Deutschland schwer. Woran liegt nach Ihrer Meinung die nachlassende Attraktivität der Partei bei den Wählern?
Dahrendorf: Am Verzicht, eine eigene Position in der Welt der Ideen und Visionen einzunehmen. An dem Eindruck, der sich weithin ausgebreitet hat, daß es sich im wesentlichen um eine Partei handelt, die einen raschen Zugang zu Ämtern und Posten verschafft.
MUT: Aber was könnte eine solche eigene Position heute in Deutschland sein? Wo sähen Sie denn die liberale Position im heutigen Parteienspektrum der Bundesrepublik?
Dahrendorf: Ich empfinde mich, nicht als Ratgeber für die deutsche F.D.P. und habe auch nicht die Absicht, mich als solcher aufzuspielen. Welchen Weg die deutsche F.D.P. gehen will, muß sie am Ende selber entscheiden. Wenn ich eine zynische Beobachterposition einnehme, dann muß ich allerdings sagen, daß natürlich der Freiraum, die Lücke in der deutschen Politik, genau dort liegt, wo ich mich am allerwenigsten wohl und zu Hause fühle, nämlich in der Haider-Position. Ich nehme nicht an, daß die F.D.P. in diese Richtung gehen will, von wenigen Ausnahmen abgesehen, aber wenn man bloß Lückenanalyse betreibt, dann ist sie da.
MUT: Sie haben den „neuen sozialen Konflikt“ als den Antagonismus von Angeboten und Anrechten, von Wirtschaftswachstum und Bürgerrechten, Ökonomie und Politik definiert. Können Sie der Meinung zustimmen, daß die Anrechts-Partei in der F.D.P. heute kaum noch eine Lobby hat?
Dahrendorf: Das ist meine Meinung. Ja. Und übrigens, wenn Sie diese Begriffe schon einführen, die Anrechts-Partei hat leider auch in Europa keine Lobby.
MUT: Sie haben in Ihrem Buch „Der neue soziale Konflikt“ auch die Ansicht vertreten, daß die Grüne Partei sich nicht auf Dauer werde durchsetzen können. Nun sieht es aber in der Bundesrepublik so aus, als könne sie auf längere Sicht die Freien Demokraten ersetzen und als liberales Korrektiv wirken, zumindest funktional. Was halten Sie von dieser Entwicklung?
Dahrendorf: Erstens haben Sie sicher recht, jedenfalls sehe ich das genauso. Das zeigt, daß man sich manchmal auch irren kann . Zweitens ist eigentlich meine tiefere Meinung, daß das Parteiensystem in allen europäischen Ländern sehr im Fluß ist, daß die meisten Menschen, selbst die Wähler der Grünen, keine Partei so richtig mögen. Wir können daher noch manche Überraschung erleben, die braucht nicht Berlusconi oder Bossi zu heißen. Aber wir können noch manche Überraschungen erleben: Wahlergebnisse wie die der französischen Präsidentschaftswahlen überdecken, was es darunter an Vielfalt von Meinungen gibt, im Grunde genommen, wie unbeliebt in diesem Fall beide Kandidaten waren. Ähnliches gibt es auch in anderen Ländern.
MUT: Sie nehmen immer wieder Poppers Begriff der Offenen Gesellschaft auf. Bürgerrechte sind der wichtigste Bestandteil der Offenen Gesellschaft. Sie haben die These vertreten, Bildung sei Bürgerrecht. Ist heute, wie es oft auch angesichts der sich weltweit verschärfenden ökonomischen Wettbewerbs-Situation gesagt wird, die gezielte Ausbildung von Eliten nicht wichtiger als die bessere Bildung breiter Schichten?
Dahrendorf: Das folgt eigentlich nicht aus dem, was Sie mit Recht als meine grundsätzlichen Auffassungen gekennzeichnet haben. Das Bürgerrecht auf Bildung bedeutet ja ein Bürgerrecht für alle. Und es stellt sich nicht nur eine Frage – hier sind wir wieder genau bei dem früheren Thema des Dreiecks -, es stellt sich nicht nur die Frage der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit, sondern es stellt sich auch die Frage des Lebens in einer Gesellschaft, in der es sich lohnt zu leben. Wer will denn eine Gesellschaft, die, indem sie eine kleine, hochgezüchtete Schicht von hochqualifizierten Arbeitnehmern oder Beschäftigten hat, zugleich die Vielen sich selber überläßt? Ich jedenfalls nicht. Und insofern ist die Ausbildung derer, die in dem im engeren Sinne wirtschaftlichen Prozeß wichtige Positionen einnehmen können, nur ein Teil des Ganzen. Die lebenslange Ausbildung zum Beispiel ist ein anderer Teil, und die aktive Freizeit, wenn dieses schreckliche Wort schon verwendet werden muß, ist ein dritter Teil. Für Bildung als Bürgerrecht gibt es genug Gegenstände, auch jenseits der unmittelbar weltwirtschaftlich erforderlichen Qualifikationsstrukturen.
MUT: Das Ziel der Offenen Gesellschaft kann nur mit einer Politik der Freiheit erreicht werden, die die gleichen Rechte aller Bürger garantiert und Toleranz gegenüber Minderheiten übt. Allerdings scheint sich dieses Konzept in den weitaus größten Regionen der Welt nicht durchsetzen zu können. Ist es vielleicht nur für den westlichen Kulturkreis tauglich?
Dahrendorf: Oh nein! Ich bin ein klassischer und kantischer Liberaler und bin zu keiner relativistischen Konzession geneigt. Ich bin auch nicht geneigt zu sagen, daß der Autoritarismus für Asien gut ist, aber für Europa nicht. Ganz davon zu schweigen, daß ich nicht geneigt bin zu sagen, in der Türkei ist ein bißchen Folter immer üblich gewesen, und daher sollten wir uns nicht so darüber aufregen, daß das heute noch der Fall ist. Das sind keine erfundenen Beispiele, sondern Beispiele, die ich jedenfalls häufig gehört habe. Menschliche Grundrechte sind menschliche Grundrechte. Dazu muß nicht gehören, daß der Sprecher des Parlaments eine Perücke trägt. Es muß auch nicht dazu gehören, daß man sich im Parlament gegenübersitzt, oder im Halbkreis, oder sonst irgendwie – aber es gehört dazu, daß es die Möglichkeit gibt, Regierungen loszuwerden auf eine konstitutionelle Weise; daß es für den einzelnen die Möglichkeit gibt, sich gegen bestimmte Verletzungen von Grundrechten effektiv zu wehren. Da kenne ich keine relativistischen Konzessionen.
MUT: Es wird aber häufig von den Ländern, in denen dieses Verständnis nicht vorherrscht, gesagt: Wir pochen auf unsere eigene Kultur, und ihr habt uns da nicht hineinzureden. Wie soll man sich denn nun diesen Ländern gegenüber verhalten, wenn sie andererseits beispielsweise wichtige Wirtschaftspartner sind?
Dahrendorf: Zunächst einmal sind es meist nicht die Länder, sondern die Regierungen, die so etwas sagen. Und wenn man genauer hinguckt, dann sind die Menschen in diesen Ländern genauso interessiert an den Grundrechten wie die Menschen in den Ländern, in denen die Regierungen dem zustimmen. Aung San Suu Kyi in Burma sagt genau dasselbe, wie ich es sage. Es sind die burmesischen Militärdiktatoren, die das nicht hören wollen und die daher eine andere Position vertreten. Die Auswirkung dieser Insistenz auf Menschenrechten überall für die internationalen Beziehungen ist viel schwieriger. Es stellt sich das alte Max-Weber-Problem von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Ich spreche als Intellektueller, nicht als Mitglied irgendeiner Regierung – und da kann ich keine Einschränkungen zulassen. Ich kann aber verstehen, daß Regierungen auch dort noch Kontakte aufrechterhalten und in der Tat auch Handelnde in der Wirtschaft, Unternehmer, auch dort noch Kontakte aufrechterhalten, wo ich sie jedenfalls nicht aufrechterhalten würde. Und ich betreibe hier keine Moralisierung aller Lebensbereiche. Wir sind leider nicht in einer Welt von Heiligen.
MUT: Um den Bogen zum Anfang unseres Gespräches zu spannen: Heute gibt es ja vor allem in der Literatur, aber auch am Theater in Deutschland, wichtige Stimmen, die wieder versuchen, eine Art mystisches Verständnis der Nation als Fundament für eine aufblühende Kultur darzustellen. Botho Strauß etwa, aber auch andere tendieren in die nationale Richtung. Was könnte der Grund dafür sein, und meinen Sie, daß daraus etwas Neues entstehen könnte?
Dahrendorf: Ob daraus etwas Neues entsteht, weiß ich nicht. Der Grund liegt nach unserem Gespräch auf der Hand: Das deutsche Europäertum war mir immer verdächtig. Es war eigentlich immer eine Art Vorwand, um nicht über das zu reden, wovon man eigentlich reden muß. Manchmal, so würde mein Freund Tim Garton Ash sagen, war es sogar deutscher Nationalismus in anderer Sprache, denn dieses deutsche Europa war immer ein sehr deutsches Europa, in dem sich andere gar nicht wiedererkannt haben und von dem nur Deutsche geglaubt haben, daß es europäisch sei. Und da finde ich es eigentlich ganz gesund, wenn man dann anfängt, mal darüber zu reflektieren, woher eigentlich diese diversen Beiträge zu Europa kommen. Das finde ich als solches noch keineswegs schlimm. Ich sehe in Deutschland eigentlich keine Spuren für einen militanten Nationalismus, die irgend nennenswert wären.
MUT: Auch nicht, wenn Botho Strauß im ,,Bocksgesang“ durchaus der Auffassung ist, daß man sich hierzulande wieder ein wenig mehr mit dem Blutopfer befassen müsse, um nationaler Identität und Kultur Auftrieb zu geben?
Dahrendorf: Das ist nun wahrhaftig nicht meine Position. Aber ich meine, Jefferson hat auch gesagt, daß gelegentlich das Blut der Patrioten nötig ist, um den Baum der Freiheit zu düngen. Eine solche Sprache ist nicht unbekannt in ganz anderen Ländern.
MUT: Lord Dahrendorf, haben Sie Dank für das Gespräch.