Die Europäische Union auf dem Weg ins 21. Jahrhundert

Herausforderungen, Risiken und Möglichkeiten

Wenn man von einer Philosophie oder einem Grundsatzprogramm der noch amtierenden Brüsseler Kommission und vor allem ihres rastlosen Motors, des überzeugten Europäers Jacques Delors, sprechen will, so kann man dafür zumindest im ökonomischen, ökologischen und sozialen Bereich getrost das häufig zitierte, aber außerhalb der relativ kleinen Gruppe europäischer Spezialisten bedauerlicherweise immer noch zu wenig bekannte „Weißbuch“ heranziehen, an dem sich die wirtschaftspolitischen Aktivitäten der letzten Monate orientieren und die Kontroversen entzünden.

 Ende 1993 legte die Kommission nach eingehender Konsultation der Mitgliedsstaaten

ihre Überlegungen zur zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung in der Europäischen Union vor. Sie gab ihrem Weißbuch den Titel: „Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung – Herausforderungen der Gegenwart und Wege ins 21. Jahrhundert„. Auf 182 Seiten analysieren die Autoren/innen die gegenwärtige, von ökonomischen Krisen gekennzeichnete Situation und entwickeln ein Netzwerk von Vorschlägen, wie dieser Situation wirkungsvoll zu begegnen sei. Im Vordergrund steht dabei stets die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, der alle Anstrengungen für mehr Wachstum und Wettbewerb zu dienen hätten. Freilich wird die Notwendigkeit, angesichts wachsender Umweltbelastung gleichzeitig stärkeren Wert auf Entwicklung und Realisierung ökologischer Programme zu legen, niemals aus den Augen verloren.

 Beeindruckend ist der Optimismus, der bei allem nüchternen Realitätsbezug das Weißbuch durchzieht. Schon in der Vorbemerkung wird pessimistischen Prognosen, wie sie gegenwärtig häufig genug zu finden sind, entschieden entgegengetreten: „Ja, wir sind in der Lage, Arbeitsplätze zu schaffen – wir müssen um der Zukunftssicherung willen Arbeitsplätze schaffen! Es geht um die Zukunft unserer Kinder, die ein Anrecht darauf haben, hoffnungsvoll und motiviert ihrer Mitwirkung an den wirtschaftlichen und sozialen Aktivitäten und der Teilnahme am Leben der Gesellschaft entgegenzusehen, die die ihrige ist.“ So heißt es dort in pathetischem Ton, wenn auch ein bißchen umständlich formuliert.

 Auf dem Kopenhagener Gipfel im Juni 1993 hatten die Regierungschefs aufgrund einer Wirtschafts-Diagnose des Kommissionspräsidenten die Kommission aufgefordert, einen Vorschlag zu erarbeiten, der den Ursachen für die kritische Entwicklung entgegentritt. Delors hatte darauf hingewiesen, daß seit 20 Jahren die potentielle Jahreswachstumrate der europäischen Wirtschaft von rund 4 Prozent auf rund 2,5 Prozent gesunken; die Arbeitslosigkeit von einem Konjunkturzyklus zum anderen kontinuierlich gestiegen; die Investitionsquote um fünf Punkte zurückgegangen ist und sich die relative Position gegenüber den USA und Japan bei Beschäftigung, Ausfuhrmarktanteilen, Forschung und Innovation sowie der Entwicklung neuer Produkte verschlechtert hat.

 Aus diesen Faktoren haben sich drei Formen der Arbeitslosigkeit entwickelt: die konjunkturelle, die strukturelle und die „technologische“. Davon sind heute nicht weniger als 16 Millionen Menschen in der Europäischen Union betroffen. Bei Fortdauern der gegenwärtigen Trends dürften es im nächsten Jahr sogar 18 Millionen sein. Angesichts dieser Situation proklamiert die Kommission das ehrgeizige Ziel, bis zum Jahr 2000 fünfzehn Millionen neuer Arbeitsplätze zu schaffen, was (bei weiterem Anwachsen der Erwerbsbevölkerung) eine Halbierung der derzeitigen Arbeitslosenquote in Europa bedeuten würde. Auch wenn sich der Europäische Rat diese Zahl nicht zu eigen machen mochte – die im Weißbuch vorgeschlagenen Maßnahmen und Instrumente sind geeignet, ihr Ziel auch tatsächlich zu erreichen, wenn die Regierungen der Mitgliedsstaaten an einem Strick ziehen.

Entwicklungsschwerpunkte

Als Entwicklungsschwerpunkte bis zum Ende des Jahrhunderts empfiehlt die Kommission die Bereiche „Informationsgesellschaft“ und „europäische Infrastruktur“. Mit der Informationsgesellschaft sind Breitbandnetze, Datenbanken, elektronische Post, interaktive Videodienste und neue Anwendungen der Informationstechniken im Berufsleben, im Gesundheitswesen, im Unterricht und in der Freizeit gemeint. Ziel ist ein „gemeinsamer Informationsraum“, der die Anwender in Europa und darüber hinaus optimal vernetzt. Und kosten soll das Ganze bis 1999 150 Milliarden ECU (ca. 300 Milliarden Mark), die freilich in erster Linie von privaten Investoren aufgebracht werden sollen. Die Union will aus ihrem Haushalt nur 5 Milliarden ECU beisteuern.

 An dieser Stelle könnte der Leser schon innehalten und den Autoren/innen des Weißbuches vorwerfen, sie hätten die Frage vernachlässigt, ob denn eine solche Entwicklung überhaupt wünschenswert ist. In gewisser Weise wäre der Vorwurf auch berechtigt, denn man findet in der Tat keine Auseinandersetzung mit dieser Frage. Statt dessen geht die Kommission von der Prämisse aus, daß der Marsch in die Informationsgesellschaft ohnehin nicht mehr aufzuhalten sei; die überwiegende Mehrzahl der Menschen in Europa und anderswo auf der Welt hätte in den letzten Jahren durch ihr konkretes Handeln keinen Zweifel daran gelassen, daß sie die Computer-Gesellschaft wolle. Deshalb müsse man nunmehr alle Kraft darauf richten, diesen technologischen Zukunftsentwurf human und effektiv zu gestalten. – Einer solchen Position ist angesichts des sich allerorten ausbreitenden Geflechts elektronischer Systeme wohl nur schwer zu widersprechen.

 Eine andere, ebenfalls immer wieder zu stellende Frage ist schwerer zu beantworten: Wird es gelingen, genügend finanzstarke private Investoren zu gewinnen, damit die Vision des Weißbuches keine Vision bleiben muß? Die Autoren/innen machen konkrete Vorschläge, wie dies zu bewerkstelligen sei. Ein Bedenken jedoch können auch sie nicht ausräumen, die Unwägbarkeit nämlich, ob die Mitgliedstaaten, denen im Rahmen der Subsidiarität der Löwenanteil bei der Realisierung der Vorschläge zufällt, wirklich alle gewillt sind, den Intentionen des Weißbuches entsprechend zu verfahren. Und ob sie sich in praxi tatsächlich den großen Mühen unterziehen werden, derer es fraglos bedarf, um die Exekutive im Sinne europäischer Zielsetzungen zu mobilisieren und die Privatwirtschaft hinreichend zu motivieren.

 An dieser Stelle setzt denn auch ein Grundsatzkonflikt zwischen den EU-Mitgliedern an: mehr oder weniger Staat? Die deutsche Regierung etwa vermutet, daß die Kommission zuviel Staat, zuviel Vorgaben im Sinn hat, während die französische eher noch stärkeren öffentlichen Einfluß will. Es wird die zentrale Aufgabe der nächsten Jahre sein, diese Positionen in Einklang zu bringen.

 Als zweiten Entwicklungsschwerpunkt schlägt die Kommission den Ausbau transeuropäischer Verkehrs- und Energienetze vor. Priorität soll das Transportnetz haben. Es handelt sich um neue grenzüberschreitende Verbindungen von besonderer strategischer Bedeutung für den Eisenbahnverkehr oder für den Straßenverkehr, um die bessere Kombination zwischen den verschiedenen Verkehrsträgern und um die Schaffung von Verkehrsmanagement-Systemen zur Verbesserung der Effizienz und des Umweltschutzes.

 Bei der Energie geht es insbesondere darum, die vorhandenen Kapazitäten vor allem im Elektro- und Gasbereich rationeller über die Binnengrenzen hinweg zu nutzen und die Versorgungssicherheit zu verbessern, wobei einmal mehr der Umweltschutz mit einem deutlichen Akzent belegt wird.

 Die Kosten sind immens. Bis zum Jahr 2000 rechnet man mit 250 Milliarden ECU, die wiederum durch eine Kombination von privaten Mitteln mit Zuschüssen aus der Union und den Mitgliedsstaaten aufzubringen sind. Außerdem hat die Kommission sich sogenannte „neue Finanzierungsinstrumente“ ausgedacht, die für beide Entwicklungsschwerpunkte in Anspruch genommen werden können. Dabei handelt es sich um „Unions-Schuldverschreibungen“ mit langen Laufzeiten, die von der Europäischen Investitionsbank vermittelt werden sollen, sowie um „Wandelschuldverschreibungen“ als Bürgschaften des Europäischen Investitionsfonds. Der zweite Bereich ist in etwa mit den deutschen Hermes-Bürgschaften zu vergleichen, der erste bedeutet schlicht eine Verschuldung der Europäischen Union. Ob diese Instrumente wirklich greifen, wird abzuwarten sein. Jedenfalls müßte sich der Europäische Rat eindeutig und einstimmig dafür aussprechen, was bisher nicht der Fall ist. Freilich hat die Europäische Investitionsbank inzwischen durchblicken lassen, daß ihre Mittel ausreichend seien, um eine eventuelle Finanzlücke zu schließen, so daß es der Schuldverschreibungen möglicherweise gar nicht bedarf.

Wachstum

Zwar kann wirtschaftliches Wachstum allein die Arbeitslosigkeit nicht mehr beseitigen, davon geht auch die Kommission aus, jedoch ist es einer der Faktoren, der bei einer entsprechenden europaweiten Politik wesentlich dazu beitragen kann – keine hinreichende mehr, aber nach wie vor eine notwendige Voraussetzung. Um das Wachstum in Europa zu beleben, bedarf es indessen einer erheblichen Verbesserung der makroökonomischen Rahmenbedingungen. Ungelöste Verteilungskonflikte, zu hohe Zinsen auf die Investitionskredite, übermäßig hohe Haushaltsdefizite, künstlich gestützte Wechselkurse und mangelnde monetäre Stabilität stellen die Ursachen für zu geringes Wachstum und damit auch für einen großen Teil der hohen Arbeitslosigkeit dar.

 Es gibt zwei Wege aus der Misere. Die Verantwortlichen müssen sich jetzt entscheiden zwischen einer Politik für ein „bescheidenes Wachstum und sehr hohe Beschäftigungsintensität“ oder der für „ein stärkeres Wachstum und höhere Beschäftigungsintensität“. Weil die Gefahr groß ist, im ersten Falle vor allem „erwerbstätige Arme“ als neue Arbeitnehmer zu bekommen (siehe USA), und weil die langfristigen, stabilisierenden Effekte für die Alternative sprechen, präferiert die Kommission in Übereinstimmung mit den meisten EU-Mitgliedern das „stärkere Wachstum und höhere Beschäftigungsintensität“. Die realen Pro-Kopf-Löhne können dabei im europäischen Durchschnitt um 2 bis 2,5 Prozent pro Jahr steigen, und die Wachstumsraten können umweltverträglich gestaltet werden. Die Kommission macht sich die Faustregel zu eigen, daß der Lohnanstieg um 1 Prozent niedriger als der Produktivitätsanstieg sein sollte, damit die Wirtschaft finanziellen Spielraum für die notwendigen Investitionen habe.

 Insgesamt kommt es darauf an, eine solche Politik auch in schwierigen Zeiten durchzuhalten und nicht aufgrund von politischen Opportunitätserwägungen zum Beispiel von Staats wegen finanzielle Wohltaten zu gewähren, die den Wettbewerb verzerren und die Staatsverschuldung erhöhen. Denn nur mit einer konsequenten Politik des langen Atems ist zu erreichen, was die Grundlage aller langfristigen Stabilität darstellt: das Vertrauen der Wirtschaft und der Verbraucher in die ökonomischen und monetären Rahmenbedingungen.

Wettbewerbsfähigkeit

Um die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, bedarf es zunächst einmal und vor allem einer deutlichen, aber gezielten Erhöhung der Investitionsquote. Investitionen werden begünstigt durch die Stärken der europäischen Industrie, als da sind: geringe Verschuldung und hohe Gewinnspannen, nahezu abgeschlossene Umstrukturierung zum europäischen Binnenmarkt, bestens ausgebildete Arbeitskräfte sowie ein dichtes und leistungsfähiges Infrastrukturnetz.

 Ergebnis der höheren Investitionen bei Nutzung der Stärken würden eine höhere Produktivität und höherwertige Produkte sein.

 Konkret gilt es, vier Ziele zu erreichen wofür die Kommission einen Katalog detaillierter Mittel vorschlägt:

– bessere Einfügung der europäischen Unternehmen in ein Umfeld der weltweiten Wettbewerbsfähigkeit und gegenseitigen Abhängigkeit (z. B. aktive Politiker industriellen Zusammenarbeit und der Bildung „strategischer Allianzen“);

– Nutzung der Wettbewerbsvorteile bei der Entmaterialisierung der Volkswirtschaft (z. B. rationellere Nutzung knapper Ressourcen, Begünstigung von Ausbildung und Forschung, Qualitätsförderung);

– Förderung einer stetigen Fortentwicklung der Industrie (z. B. umweltfreundliche Techniken, bessere Umsetzung von Forschungsergebnissen in Produkte);

– Verringerung des Zeitverzugs bei den Entwicklungsrhythmen von Angebot und Nachfrage (z. B. weltweit abgestimmte Belebung des Verbrauchs, Unterstützung der Dynamik kleiner und mittlerer Unternehmen).

 Im Rahmen der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit kommt dem europäischen Binnenmarkt besondere Bedeutung zu. Um seine positiven Auswirkungen vor allem der Beschäftigung zugute kommen zu lassen, schlägt die Kommission einen „Beschäftigungspakt der Wirtschaft“ vor. Dabei sollen die kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) eine zentrale Rolle spielen, weil sie eine besonders hohe Beschäftigungsintensität aufweisen. Gemeinsam mit den Mitgliedsstaaten soll die Union den KMU das europaweite Wirtschaften und Investieren erleichtern, indem entsprechende rechtliche und steuerliche Hindernisse beseitigt, Finanzmittel bereitgestellt werden und die Beibehaltung der Beschäftigungsintensität besonders gefördert wird. Damit solche Angebote indes auch wahrgenommen werden können, ist eine spezielle Beratung für die KMU zu entwickeln, beispielsweise in den schwierigen Fragen des Managements und des europäischen Wirtschaftsrechts.

 Besondere Bedeutung für die Ankurbelung des Wachstums und für bessere Wettbewerbsfähigkeit kommt konsequenterweise den Entwicklungsschwerpunkten, den Transeuropäischen Netzen, zu, also den Infrastrukturen im Verkehrsbereich, dem Energietransport und der Telekommunikation. Für den Verkehr listet das Weißbuch 26 zum Teil bereits in Angriff genommene Projekte auf, die Modellcharakter haben sollen, von der Brenner-Eisenbahn über die Alpen bis zum „satellitengestützten multimodalen Ortungssystem“.

 Insgesamt sollen für die Realisierung der Verkehrsprojekte 81 Milliarden ECU aufgebracht werden, eine enorme Summe, die als Investition in die notwendigen Voraussetzungen für zukünftige Wachstumsstrukturen und vor allem in die bessere Beschäftigungsstruktur der Zukunft verstanden wird. Das gleiche gilt für die Transeuropäischen Telekommunikationsnetze, für die bis 1999 etwa 67 Milliarden ECU aufgewandt werden sollen, sowie für die Elektrizitäts- und Gasnetze.

 Einen der signifikanten Gründe für die mangelhafte Wettbewerbsfähigkeit und die hohe Arbeitslosigkeit in Europa sehen die Experten in der Vernachlässigung von Forschung und Technologie, die vor allem in den letzten Jahren einen erheblichen Rückstand gegenüber Japan und den USA produziert hat. Die Kommission schlägt deshalb vor, zunächst eine bessere Koordination der vorhandenen Möglichkeiten in der Union, einen besseren internen Technologietransfer, herbeizuführen. Sodann müsse man sich auf neue geographische Märkte und neue soziale Bedürfnisse ausrichten. Die neuen Märkte ortet sie vor allem im pazifischen Raum sowie bei den Ländern Mittel- und Osteuropas, die neuen Bedürfnisse in den Bereichen Umwelt, Gesundheit und Kultur. Europäische Forschungskonsortien und eine verstärkte Förderung von Eureka-, also europäischen Forschungsprojekten sollen die Initialzündung für abgestimmte Forschungstätigkeit in der Europäischen Union darstellen.

 Schließlich spielen die Biotechnologie und der Audiovisuelle Sektor eine zunehmend wichtige Rolle für die Wettbewerbsfähigkeit. Für den ersten Bereich sind inzwischen die entsprechenden Beschlüsse im Rat und im Parlament gefaßt, so daß Europa in den Wettbewerb mit seinen Konkurrenten in der Welt eintreten kann. Freilich verkennt die Kommission die ethischen Probleme nicht und erinnert an die wichtige Funktion der Beratergruppe zur Prüfung ethischer Fragen. Insgesamt jedoch spricht sie sich eindeutig für den kompromißlosen Einstieg in diese Form der Technologie aus, auch im Bereich der Biomedizin, damit Europa den internationalen Anschluß nicht verpasse. Die kontroverse Diskussion im Europäischen Parlament um die Einführung von Patentrechten für gentechnisch veränderte Gewebeteile des Menschen, auch für Keimbahneingriffe ex vivo, hat jedoch gezeigt, daß sich die Union hier auf ein Gebiet begibt, dessen Chancen und Gefahren längst noch nicht hinreichend abgewogen sind.

 Für den audiovisuellen Sektor schließlich will die Kommission Maßnahmen aufzeigen, die verhindern können, daß Europa „zu einem passiven Verbraucher der audiovisuellen Produkte anderer Länder und damit wirtschaftlich und kulturell von anderen abhängig wird“. Welche Komplikationen dies im internationalen Handel mit sich bringt, haben die jüngsten GATT-Verhandlungen gezeigt. Nunmehr ist zu hoffen, daß sich die Position Europas vor allem gegenüber den USA verbessern läßt, damit auch dieser Bereich in der neuen Welthandelsorganisation (WTO) liberaler geregelt werden kann.

 Überhaupt sind die internationalen Regelungen im Bereich Handel und Wirtschaft für die Union von vitaler Bedeutung, denn nicht weniger als ein Fünftel des weltweiten Warenverkehrs entfällt auf die Gemeinschaft. Das bedeutet wiederum zwölf Millionen Arbeitsplätze in Europa, die direkt vom internationalen Geschäft abhängen. Deshalb gibt es zu einer auf offene Märkte zielenden Welthandelspolitik der Union keine Alternative. Wirtschaftliche Verflechtungen müssen also gefördert, die Regeln der WTO konsequent angewandt und ihre Einhaltung streng kontrolliert werden. Neue Märkte in der Welt, zum Beispiel die Länder Osteuropas und der ehemaligen UdSSR, aber auch der südliche Mittelmeerraum, sollten besondere Beachtung finden.

Beschäftigung

Gelegentlich ist gegen das Weißbuch der Kommission eingewandt worden, es setze die Prioritäten falsch, weil es die Beschäftigung in seinem Titel zuletzt statt zuerst nenne. Diese Kritik Jedoch verfängt dann nicht wenn man die Intentionen der Autoren/innen, mit mehr Wachstum und Wettbewerb zu mehr Beschäftigung zu kommen, akzeptiert. Insofern muß man die vorhergehenden Kapitel als Teil des Netzwerkes der Beschäftigungspolitik verstehen, wenn sie sich auch nicht immer unmittelbar darauf richten, sondern mittelbar dazu beitragen sollen. Das Beschäftigungs-Kapitel macht m seinem zweiten Teil im einzelnen klar, wie man Wachstum in mehr Arbeitsplätze umsetzen möchte.

Man kann der Kommission und ihrem Weißbuch ohnehin sozusagen als axiomatische Grundüberzeugung unterstellen, daß die Förderung von Wachstum und Wettbewerb ihre Legitimation ausschließlich in der positiven Wirkung für die Beschäftigung erfährt, wenn man einen solchen Satz explizit auch nirgends finden wird.

 Zunächst geht es um die notwendige Anpassung der Bildungssysteme in Europa. Die Kommission möchte einen wirklichen europäischen Markt der Qualifikationen und Berufe schaffen, den es heute noch nicht gibt, der jedoch im Rahmen des Binnenmarktes dringend nötig ist. Allerdings bleibt Bildung vorläufig noch eine nationale Angelegenheit; es soll indessen in der Union zu einer echten „Ausbildungspolitik“ kommen, die die öffentliche Hand, Unternehmer und Sozialpartner beteiligt und zu konzertierten Aktionen führt. Über die Vergabe von europäischen „Ausbildungskrediten“ und die Förderung der Partnerschaft von Hochschulen, Unternehmen und öffentlicher Hand sollen Erstausbildungs- und Weiterbildungssysteme entstehen, die den neuen, europäischen Anforderungen entsprechen.

 Gewiß, so muß angemerkt werden, sind all‘ diese Vorschläge der Kommission durchaus des Schweißes der Edlen wert. Jedoch setzen sie eine Fülle von Anstrengungen voraus, die zunächst auf Ebene der Mitgliedsstaaten zu leisten wären. Als einfaches Beispiel sei nur der Sprachunterricht genannt. Was nützen alle gemeinsamen Anstrengungen wenn in den nationalen Schulen und Ausbildungsstätten noch immer nicht überall von der Grundstufe an die wichtigsten Sprachkenntnisse vermittelt werden! Und die Bundesrepublik Deutschland ist dabei anderen Ländern beispielsweise den Niederlanden und Dänemark gegenüber, weit im Hintertreffen. So mutet das hier behandelte Kapitel des Weißbuches gelegentlich ein wenig künstlich an.

 Ähnlich schwierig verhält es sich mit dem Ziel einer beschäftigungsintensiven Wachstumsstruktur in Europa, wenn es sich dabei auch um andere Adressaten handelt. Die Kommission mahnt eine neue Solidarität praktisch aller beteiligten Gruppen an um dieses Ziel zu erreichen. Bei 10,5 Prozent Arbeitslosigkeit in der Gemeinschaft, einer abnehmenden Erwerbsquote und dem Anwachsen der Zahl der Langzeitarbeitslosen ist es mit Solidarität allein freilich nicht getan. Überdies sind die Verhältnisse in den einzelnen Mitgliedsstaaten so sehr von signifikanten Unterschieden geprägt, daß der Unions-Strategie eine Fülle differenzierter einzelstaatlicher Maßnahmen hinzugefügt werden muß, um die Problemlage zu mildern. Die Kosten der Arbeitslosigkeit sind jedoch in fast allen Ländern zu einem Faktor geworden, der die Flexibilität staatlichen Handelns auf ein Minimum reduziert. Die Notwendigkeit neuer politischer Antworten ist deshalb nirgends mehr von der Hand zu weisen. Nach Ansicht der Kommission muß es zu einer Deregulierung des Arbeitsmarktes in Europa kommen, ohne daß man sich freilich allein auf die Marktkräfte verlassen dürfe.

 Vier Ziele werden konkret ins Auge gefaßt: breitere Verteilung von Arbeitsplätzen und Einkommen; Verbesserung des Zugangs zum Arbeitsmarkt; Erhöhung des Humankapitals (sprich: der Qualifikation der Erwerbspersonen); mehr neue Arbeitsplätze und Tätigkeiten. Diese Ziele sollen mit einem Bündel von Maßnahmen beschäftigungspolitischer Art erreicht werden, unter anderem durch maßvolle Lohnerhöhungen, intelligente Arbeitszeitverkürzungen, Verringerung der Lohnnebenkosten (vor allem im unteren Bereich) und Kompensation etwa durch Energie- und Umweltsteuern, Förderung der beschäftigungsintensiven kleinen und mittleren Unternehmen sowie Verbesserung der Ausbildung.

 Besonders will man sich für Jugendliche stark machen. Die Autoren/innen verlangen deshalb die Einführung einer gemeinschaftsweiten Garantie, daß kein Jugendlicher unter 18 Jahren arbeitslos sein darf. Diese Garantie, „Youth Start“ genannt, soll ganz besonders aus Mitteln der Union gefördert und durch grenzübergreifende Austauschmaßnahmen begleitet werden. Eine Investition in die Zukunft, die nicht nur der Beschäftigung dienen, sondern auch zur europäischen Integration beitragen sowie multikulturelle Verständigung fördern soll. „Oberstes Ziel sollte es sein, daß die einzelstaatlichen Arbeitsmärkte zunehmend in einem gemeinschaftlichen Arbeitsmarkt aufgehen.“

 Ein eigenes Kapitel widmet das Weißbuch der Abgabenbelastung der Arbeit. Wichtig ist der Kommission dabei zu betonen, daß es nicht wünschenswert sei, in der Union ein niedriges Niveau von Löhnen und Gehältern anzustreben, um gegenüber sogenannten Niedriglohnländern konkurrenzfähiger zu werden. Dies würde den sozialen Konsens gefährden und den Stärken des europäischen Arbeitsmarktes nicht entsprechen. Vielmehr muß es darum gehen, Kosten umzuschichten und Qualifikationen zu verbessern, um die Wirtschaft wettbewerbsfähiger zu machen und die Zahl der Beschäftigten zu erhöhen. Nach Auffassung der Autoren/innen können letztlich nur eine Qualitätssteigerung und Diversifizierung der europäischen Produkte sowie eine erheblich verbesserte internationale Zusammenarbeit die Optimierung der Wettbewerbsfähigkeit leisten und damit die Arbeitslosigkeit zurückführen.

 Heute beträgt die öffentliche Abgabenlast der Arbeit in der Gemeinschaft 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Diese Zahl ist eindeutig zu hoch. Die Kommission schlägt vor, die Steuerlast um 1 bis 2 Prozentpunkte des BIP zu senken und den Einkommensausfall des Staates durch Umwelt- und Energiesteuern zu kompensieren. Daraus sollten, je nach der Situation in den einzelnen Mitgliedsstaaten unterschiedlich, ebenfalls Teile der Lohnzusatzkosten, also in Deutschland etwa ein Teil der Sozialabgaben, finanziert werden, um dem Circulus vitiosus zu entkommen, daß die Kosten für steigende Arbeitslosigkeit zu höheren Sozialabgaben führen, die wiederum durch Entlassungen eingespart werden sollen, was erneut zu steigenden Kosten für Arbeitslosigkeit führt u.s.w. Überdies erzeugt ein solcher Teufelskreis eine Schattenwirtschaft, die die Einnahmen des Staates noch stärker verringert.

 Einer solchen scheinbar ausweglosen Situation kann nur durch eine Senkung der Arbeitskosten und eine Flexibilisierung der Arbeitsorganisation begegnet werden. „Das beste Resultat ist mit einer Senkung des Arbeitgeberanteils (an den Sozialabgaben) bei den unteren Lohngruppen und der Einführung einer CO₂ und Energiesteuer anstelle einer Mehrwertsteuererhöhung zu erzielen. Unter günstigen Voraussetzungen weisen diese Modellrechnungen bei einer Senkung der Sozialbeiträge der Arbeitgeber um 1 Prozent des BIP einen Rückgang der Arbeitslosenquote von 2,5 Prozent in vier Jahren aus.“ Daneben weist die Kommission auch auf die stärkere Besteuerung der Kapitalerträge hin, die für eine Kompensation der Ausfälle bei den Sozialabgaben denkbar wäre.

Ein neues Entwicklungsmodell

Den Schluß des Weißbuches bilden Gedanken zu einem neuen Entwicklungsmodell in Europa. Gemeint ist damit eine Ausrichtung der europäischen Wirtschaft auf umweltfreundlichere Verfahren, die gleichzeitig neue Impulse für mehr Beschäftigung bedeuten können: „Die Gemeinschaft muß untersuchen, auf welche Weise ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum gefördert werden kann, das zu einer stärkeren Arbeitsintensität bei gleichzeitig niedrigerem Verbrauch an Energie und natürlichen Ressourcen beiträgt.“ Bisher war es immer umgekehrt, mehr Wachstum bedeutete auch mehr Umweltbelastung. Das Schlüsselwort der Kommission, um dies Verhältnis umzukehren, heißt „saubere Technologie“. Sie kann nicht nur europäische Probleme lösen, sondern eignet sich auch als Exportartikel in die Entwicklungsländer.

 Strukturwandel ist europaweit nötig, wenn das Ziel der sauberen Technologie erreicht werden soll. Dazu wiederum bedarf es ordnungspolitischer Maßnahmen durch die Mitglieder der Union, zum Beispiel indirekter Steuern für Umweltbelastung, Steuervergünstigungen für umweltgerechte Aktivitäten, Aufnahme umweltgerechter Zielsetzungen in öffentliche Vergabenormen, sowie internationaler Ausrichtung der Umweltpolitik. So soll eine „Umweltinfrastruktur“ entstehen, in der das Verursacherprinzip für die Deckung der Kosten sorgt. Die Kommission meint, daß sich das Prinzip des Marktes gerade im Bereich der natürlichen Ressourcen bisher nur sehr mangelhaft durchgesetzt habe und die Öffentlichkeit noch zu oft die Kosten für privat zu verantwortende Umweltschädigungen tragen müsse. Es gehe deshalb darum, „das bestehende makroökonomische und sektorpolitische Instrumentarium systematisch zu überprüfen, geleitet von dem Grundsatz, daß alle externen Kosten in die Marktpreise eingehen müssen“.

Resümee

Es stimmt zuversichtlich, daß die Kommission mit ihrem Weißbuch nicht nur linear ausgerichteter Wachstumspolitik das Wort redet, sondern neue Wege vorschlägt, die mittel- und langfristig zu einer qualitativ anderen, einer vor allem auf die „Humanressourcen“ (ein schreckliches, wenn auch gut gemeintes Wort!) und auf Umweltverträglichkeit zielenden Wirtschaftsstruktur in Europa führen soll. Die Mitgliedsstaaten haben sich im wesentlichen den Forderungen des Weißbuches angeschlossen eine Reihe von Maßnahmen sind bereits auf den Weg gebracht. Der deutsche Außenminister Klaus Kinkel hat die Realisierung der Weißbuch-Vorschläge als eine der wichtigsten Aufgaben für den deutschen Ratsvorsitz in der zweiten Hälfte 1994 bezeichnet. Optimismus ist also angebracht?

 Hoffentlich. Wenn da nicht die vielfältigen Tendenzen in Europa wären, die Union zu zerreden, ihre positive Funktion in Frage zu stellen. Platter Nationalismus, ja eine europäische Form von Tribalismus stellen den Zusammenhalt der Staaten auf eine harte Probe. Gewiß, noch ist die Gefährdung nicht allzu ernst, die Politiker/innen konnten die Probleme bisher immer noch einigermaßen in den Griff bekommen. Deshalb soll man die Krise nicht herbeireden. Bedauerlich ist allerdings, daß selbst akademisch vorgebildete Bürger/innen in Europa den simplen Zusammenhang zwischen Abbau von Handelshemmnissen und dem daraus erwachsenden Vorteil vor allem für stark exportorientierte Wirtschaften anscheinend immer weniger verstehen wollen und ihre Präferenzen wieder bei den Nationalstaaten sehen, vom Aufwallen anderer Instinkte nicht zu reden. – Indessen dürfte die bisher erreichte Entwicklungsstufe in der Union eine beträchtliche normative Kraft des Faktischen ausstrahlen. Die Verantwortlichen in Handel und Industrie jedenfalls haben die europäische Dimension ihrer Tätigkeit längst als selbstverständlich abgehakt. Und das gibt Anlaß zu Optimismus.

 Nur eines noch: Parkinson ist überall, und auch aus der vergleichsweise gertenschlanken europäischen Bürokratie (zum Beispiel Stadtverwaltung Köln: ca. 15000 Beamte; Kommission in Brüssel: ca. 14000 Beamte) könnte ein Moloch entstehen, der statt Effektivität Redundanz erzeugt. Dem vorzubeugen, ist auch eine Aufgabe des Parlamentes, dessen Kompetenzen deshalb gestärkt werden sollten. Der deutsche Wirtschaftsminister Günter Rexrodt hat einen anderen Weg vorgeschlagen: eine unabhängige Expertengruppe, die das Regelgeflecht der Union auf wettbewerbshemmende Bestimmungen untersuchen und Vorschläge zur Deregulierung unterbreiten soll. Diese Initiative stieß auf gemischte Resonanz, ist aber inzwischen auf den Weg gebracht. Es bleibt indessen fraglich, ob immer neue Gruppen und Gremien geschaffen werden sollten, die im europäischen Brei rühren, ob nicht eine der bestehenden Institutionen die Aufgabe der Revision übernehmen könnte, zum Beispiel ein Ausschuß des Europäischen Parlamentes, der 1996 gebildet werden könnte, wenn ohnehin die erste Überprüfung der europäischen Praxis nach Inkraftsetzung der Maastrichter Verträge ansteht.