Die Faszination der Grünen ist vorüber

Ein MUT-Interview mit Anke Fuchs, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages

Das Gespräch führte Karl-Heinz Hense

MUT: Frau Fuchs, zuerst zur Green Card-Initiative des Bundeskanzlers: Diese Initiative hat ja nicht nur Zustimmung erfahren, sondern durch alle Parteien eine kontroverse Diskussion ausgelöst. Man spricht häufig von der Gefahr, daß die Ausbildung für Informations-Experten in Deutschland dadurch noch stärker zurückgehen könnte als bisher schon. Wie stehen Sie zu dieser Einschätzung?

Fuchs: Die Initiative des Bundeskanzlers war richtig, weil mit ihr ein Mangel an Fachkräften gemildert werden kann. Übrigens hatten wir solche Engpässe schon früher und auch damals haben wir punktuell ausländische Fachkräfte, zum Beispiel Krankenschwestern aus Korea, geholt. Das spannende ist, daß eine Debatte losgetreten wurde, die dringend nötig war. Die unternehmerische Wirtschaft hat nicht genug ausgebildet. Auch die Politik hat sich den Sprung in die Informationsgesellschaft langsamer vorgestellt; und nun ist an dem Thema Green Card klargeworden: Es gibt einen Nachholbedarf, wir müssen ausbilden. Die Arbeitsämter zum Beispiel      tun das jetzt auch. Deshalb gibt es jetzt beides: Abhilfe beim Fachkräftemangel durch kurzfristige Anwerbung von ausländischen Fachkräften aber auch die Erkenntnis, daß Deutschland selbst mehr tun muß. Beides zusammen ist ein ganz erfolgversprechender Weg.

MUT: Und wie ist es, wenn die Familien mit hierherkommen? Wird es nicht ähnliche Probleme geben, wie wir sie beispielsweise in den türkischen Teilen unserer Bevölkerung – ich denke da etwa an Berlin-Kreuzberg – heute schon haben?

Fuchs: Ich weiß nicht, ob dies ein Problem ist, denn das Leben mit Ausländern ist ein Teil der Veränderungsprozesse in unserer Gesellschaft. Das Miteinander müssen wir lernen und nicht nur als Problem ansehen. Und die Frage, ob man die Familien mitholt, muß sorgfältig beraten werden. Im Moment brauchen wir die Menschen als Fachleute. Aber Sie erinnern sich an den Spruch: Wir brauchten Fachleute, und es kamen Menschen. Auf Dauer wird man um eine Beantwortung der Frage, wie wir mit den ausländischen Fachkräften umgehen sollen, ob sie nicht auch das Recht haben sollen, ihre Familien nachzuholen, nicht herumkommen. Aber zunächst einmal geht es um den wirtschaftlich-technologischen Aspekt.

MUT: Gut, aber die Begrenzung des Bleiberechtes auf fünf Jahre wird irgendwann notwendig machen, die Menschen, die wir jetzt holen – ich sage das bewußt etwas brutal –, nach fünf Jahren auch wieder loszuwerden. Und zwar möglicherweise dann mit der Familie. In den USA beispielsweise gibt es diese Begrenzung nicht. Wer eine Green Card hat, kann dort unbegrenzt arbeiten. Sollten wir das nicht ähnlich machen?

Fuchs: Bei uns ist die Green Card-Initiative etwas Neues. Deshalb benötigen wir auch eine gewisse Offenheit, um aus den Erfahrungen lernen zu können. Vor allem aber muß man das ganze Umfeld beachten. Und das bedeutet: Auch bei uns muß ausgebildet werden. Im Moment geht es um die Lösung drängender wirtschaftspolitischer und technologischer Probleme. Wie das dann in fünf Jahren aussieht, werden wir sehen. Ich habe keine Angst davor, daß die jetzt angeworbenen ausländischen Fachkräfte hierbleiben könnten, denn so viele sind es nicht.

MUT: Zu einem anderen Thema, das im Zusammenhang mit dem bisherigen steht: ein

Zuwanderungs- oder Einwanderungsgesetz. Bundesinnenminister Schily möchte dazu eine parteiübergreifende Zuwanderungskommission begründen. Bisher weigerte sich der Bundeskanzler allerdings, darüber eine Diskussion zu eröffnen. Aber werden wir auf Dauer überhaupt um ein solches Gesetz herumkommen?

Fuchs: Ich bin nicht ganz sicher. Wenn Sie die heutige Zuwanderung sehen, kommen eben mehr Menschen zu uns, als wir verkraften können. Wenn Sie also heute ein Einwanderungsgesetz machten, würden Sie vielleicht Fachkräfte holen, die wir brauchen, aber weniger Menschen zu uns kommen lassen. Deswegen muß man auf folgendes achten: Wir dürfen die Asyl-Gesetzgebung nicht noch einmal aufdröseln, sondern wir müssen dabei bleiben, daß Menschen, die aus Gründen politischer Verfolgung zu uns kommen, hier Zuflucht finden und menschlich behandelt werden. Wir haben immer noch einen Zuzug von Aussiedlern, die zu uns kommen. Auch daran werden wir gesetzgeberisch nichts ändern. Und dann kommt das spannende Thema: Was heißt eigentlich Einwanderungsgesetz? Wollen wir uns wirklich, auch auf Dauer, darauf beschränken, daß nur die Menschen kommen dürfen, die wir aus ökonomischen Gründen brauchen können? Es ist für mich eine sehr überhebliche Politik, wenn wir den Entwicklungsländern sagen: Bekommt ihr die Kinder, bildet sie aus, schickt sie zur Schule, und wenn aus ihnen brauchbare Arbeitskräfte geworden sind, dann dürfen sie zu uns kommen. Das kann nicht der Sinn eines Einwanderungsgesetzes sein. Dieses Terrain ist bei uns gesellschaftspolitisch noch nicht „beackert“ worden. Die Diskussion würde ich übrigens offener und ohne Ängstlichkeiten führen, aber wir brauchen sie. Dabei wissen wir, daß wir eine älter werdende Gesellschaft sind, und alle Experten sagen, spätestens ab dem Jahre 2007 brauchen wir hier Arbeitskräfte.

MUT: Ich habe Sie recht verstanden: Am Asylrecht sollte man zur Zeit nichts ändern?

Fuchs: Nein, überhaupt nicht.

MUT: Man sollte es auch als Individualrecht auf Dauer beibehalten?

Fuchs: Ja. Wichtiger erscheint mir allerdings – wie schon gesagt – die Debatte über die immer noch nicht beantwortete Frage: Wie gehen wir mit unseren ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern um? Ich bin sehr dankbar, daß der Bundespräsident das jetzt zu seinem Thema gemacht hat. Es treibt sich seit Jahren um. Wir haben kein gesellschaftliches Konzept für die Zuwanderung. Dabei geht es nicht um die Gesetzgebung. Das Miteinander ist nicht akzeptiert. Wir haben wahrscheinlich unsere Bevölkerung überfordert. Ich glaube auch, daß das Schlagwort von der „multikulturellen Gesellschaft“ nicht weiterhilft. Der Bundespräsident spricht von kultureller Vielfalt, auch von Toleranz und Integration und auch davon, was wir von Menschen erwarten, die zu uns kommen. Wenn wir beobachten, daß die hier lebenden türkischen Menschen sich häufig in ihre Wohnquartiere zurückziehen, ihre Kinder kaum noch Deutsch lernen, häufig auch keine deutschen Schulen besuchen, dann darf man nicht sagen: Wir überlassen euch euch selbst. Denn das hat dann auch Auswirkungen auf die soziale Akzeptanz. Der Bundespräsident hat den Anstoß zu dieser Debatte gegeben, und die Kirchen, Gewerkschaften und andere gesellschaftliche Organisationen müssen sie aufgreifen. Erst im Anschluß hieran sollte man überlegen, welche Gesetzgebung wir brauchen. Die gesellschaftliche Debatte muß vorausgehen, und ich beobachte leider, daß wir verlernt haben, gesellschaftliche Debatten zu führen. Wir waren darin eigentlich früher ganz gut, in den siebziger, auch noch in den achtziger Jahren. Aber wir brauchen nach wir vor gesellschaftliche Debatten als Anstoß für die Menschen, damit Veränderungen auch akzeptiert werden.

MUT: Eine Debatte haben wir: Der Finanzminister wird voraussichtlich Mehreinnahmen haben, und zwar aufgrund des Wirtschaftswachstums einerseits, aufgrund der Erlöse aus der Versteigerung neuer Mobilfunk-Frequenzen andererseits. Er will das Geld nun nutzen, um Schulden abzubauen. Sollte er nicht besser die Steuern senken, zur Entlastung von Bürgern und Unternehmen?

Fuchs: Wir bekommen jetzt eine große Steuerreform, und wenn diese Reform ihre volle Wirkung entfaltet hat, haben wir nach meiner Meinung eine wirkliche Entlastung für Bürger und Unternehmen. Wir haben dann also das getan, was wir den Menschen versprochen haben. Ich bin dafür, daß wir entschulden. Wir sind als Sozialdemokraten auch an die Regierung gekommen, weil wir zu Recht gesagt haben: Es kann nicht angehen, daß man jede vierte Mark der Steuereinnahmen für Zinsen ausgibt. Und daß wir von dieser Zinsbelastung und von der Belastung durch die Verschuldung wegkommen, finde ich sehr wichtig. Wenn es dann eines Tages Zinserleichterungen geben wird, hat man vielleicht wieder Spielraum für weitere Entlastungen. Zu bedenken ist aber, daß die Bundesrepublik Deutschland eigentlich ein Zukunfts-Investitionsprogramm (ZIP) braucht, denn bei Schulen und Straßen und Bahn gibt es einen riesigen Nachholbedarf. Das heißt: Ich bin für eine Kombination von Entschuldung und Zukunfts-Investitionsprogramm.

MUT: Zu einem Thema, das mit Geld zu tun hat, das aber auch eine sehr wichtige psychologische Seite hat: Der Euro – von leichten, eher kurzfristigen Erholungen einmal abgesehen – fiel in den zurückliegenden Monaten von einem Tiefststand zum nächsten. Wie schätzen Sie die Auswirkungen dieser unübersichtlichen Entwicklung auf die Haltung der Deutschen zur Europäischen Union ein?

Fuchs: Wir beide wissen, daß die Euroschwäche wirtschaftspolitisch objektiv nicht so dramatisch ist. Stellen Sie sich vor, wir hätten in der jetzigen Situation noch mehrere Währungen in der Euro-Zone, dann wären wir mit der starken D-Mark wieder die Gebeutelten. Das haben wir ja Anfang der neunziger Jahre erlebt. Der Außenwert des Euro sagt nichts über unsere Wirtschaftskraft aus, sagt auch nichts aus über unsere Wachstumschancen. Und die Exportwirtschaft boomt. Trotzdem haben Sie völlig recht, wenn Sie die Ängste der Menschen beim Thema Euro ansprechen. Das bringt mich wieder zu meinem Punkt mit der gesellschaftlichen Debatte: Ich bin eine engagierte Anhängerin von Europa, ich finde es auch ganz in Ordnung, daß wir mit Binnenmarkt und Euro angefangen haben. Aber jetzt muß den Bürgerinnen und Bürgern wieder klargemacht werden, daß die europäische Integration der wichtigste Friedensweg ist, den wir gehen. Und deswegen finde ich spannend, was Herr Fischer jetzt gesagt hat, nämlich daß wir, von den aktuell zu entscheidenden Fragen abgesehen, Zukunftsorientierung geben müssen. Und auch darüber müssen wir mit den Leuten reden. Ich bin der Meinung, daß zunächst die Hausaufgaben gemacht werden müssen, damit die Menschen sich wohl fühlen. Auch glaube ich mit Herrn Fischer, daß wir auch zukünftig Nationalstaaten brauchen. Aber die Vision der Zukunft, das Zusammenwachsen dieses Europas auch im Sinne einer sozial und marktwirtschaftlich orientierten ökonomischen Entwicklung, halte ich für ganz wichtig. Und wenn man das in die Zukunft orientiert diskutieren würde, dann würde man den Leuten auch klarmachen können, daß dieser Euro eine riesige Chance ist. Die USA haben ihren Euro schon immer gehabt, den Dollar, und die einheitliche Währung war eine der wesentlichsten Voraussetzungen für die in aller Welt bewunderte ökonomische Prosperität der USA. Wir müssen die gesellschaftliche Debatte um Europa führen und den Menschen dabei mehr die Zukunftschancen vermitteln anstatt immer wieder neue Ängste zu schüren.

MUT: Sie sprechen von gesellschaftlichen Diskussionen und Debatten, die geführt werden müssen. Aber wenn ich mir die Realität anschaue, zum Beispiel die 57 Prozent Wahlbeteiligung bei den letzten Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen oder daß sich die junge Generation immer weniger für die Politik interessiert, die die klassischen Parteien anbieten, dann frage ich mich, wie denn diese Debatte in der Gesellschaft geführt werden soll?

Fuchs: Wenn man lange in der Politik ist, muß man es immer wieder mit einem „Und dennoch!“ bekräftigen: Wir müssen es um unserer Demokratie willen tun. Wir müssen, wie gesagt, die gesellschaftlichen, die Nicht-Regierungs-Organisationen einbinden. Und wir müssen das Thema finden, mit dem zum Beispiel junge Leute für Europa begeistert werden können. Ich glaube, daß die jungen Leute Europa akzeptiert haben. Sie reisen in der Welt herum, sie reden nicht mehr nur deutsch, sie haben Freunde im Ausland, es gibt einen regen schulischen Austausch – da ist ja einiges an Boden bereitet. Dies alles muß man so nutzen, daß den jungen Menschen auch die politischen Dimensionen klarwerden. Ich glaube auch: Wenn es wieder spannend wird – und Europa wird spannend werden –, wenn es Auseinandersetzungen geben wird, wenn eine intelligente Debatte zustande kommt und Pro und Contra auf den Tisch kommen, dann sind wir auch wieder interessant. Denn wenn Sie zurückdenken – sei es bei der Notstandsgesetzgebung, beim NATO-Doppelbeschluß, beim Ausstieg aus der Kernenergie –, zu all diesen Fragen gab es streitige Debatten. Sie haben immer dazu geführt, daß die Leute Anteil genommen und mitgemacht haben, und bei den Wahlen gab es hohe Beteiligungen. Ich kann kein anderes Rezept anbieten und bin überzeugt, daß es auch wieder Zeiten geben wird, in denen die Menschen für politische Themen begeistert sein werden. Aber wir müssen uns sehr bemühen.

MUT: Was auch mit der jungen Generation zu tun hat, ist das Thema Wehrpflicht. Es gibt die Debatte, ob man sie abschaffen sollte.

Fuchs: Woher sollen denn die Menschen kommen, die für uns in der Bundeswehr ihren Dienst leisten? Ich finde schon, daß die Wehrpflicht auch im Hinblick auf die Personalpolitik der Bundeswehr wichtig ist, da sie die Rekrutierungsform darstellt, die das breiteste Angebot an jungen Menschen aus allen gesellschaftlichen Kreisen bereithält. Ich würde ungern den damit implizierten gesellschaftspolitischen Aspekt, die Demokratisierung der Armee und ihre Verankerung in der Gesellschaft, die Innere Führung – Erfolge, die wir in langen, schmerzlichen Diskussionen erreicht haben –, aufgeben wollen. Ich möchte aus grundsätzlicher Überzeugung an der Wehrpflicht festhalten. Wie können wir wirksamer garantieren, daß die Bundeswehr nicht zum Staat im Staate wird, daß sie nicht überwiegend mit Menschen besetzt wird, die eine Law- and Order-Politik vertreten? Wir wollen die liberale und demokratische Ausrichtung der Bundeswehr beibehalten. Dafür ist die Wehrpflicht von hohem Wert.

MUT: Aber wird die Bundeswehr nicht zukünftig in erster Linie eine Interventionsarmee im Rahmen internationaler Bündnisse sein müssen, und brauchen wir dafür nicht ganz anders ausgebildete Soldaten, als es über die Wehrpflicht möglich ist?

Fuchs: Das kann sein. Die Frage, wieviel wir an internationaler Eingreiftruppe und entsprechender Organisation brauchen, muß noch ausführlich diskutiert werden. Ich bin kein Experte. Mir geht es um die demokratischen Strukturen und die Akzeptanz der Bundeswehr, um ihre demokratische Einbindung. Und dann geht es mir natürlich um die Frage: Was lernen wir eigentlich aus militärischen Aktionen wie denen im Kosovo? Ich würde gern diskutieren: Was war an der Beteiligung richtig, was falsch? Grundsätzlich möchte ich bei dem Prinzip bleiben: Von deutschen Boden darf nie wieder Krieg ausgehen. Militärische Aktionen lösen keine Probleme. Das sind für mich Grundüberzeugungen. Daß die Bundesrepublik Deutschland und die deutsche Bevölkerung insgesamt sehr zurückhaltend sind was militärische Aktionen anlangt, freut mich sehr. Ich glaube, wir haben aus der Geschichte gelernt. Diese Grundhaltung möchte ich in der zukünftigen Sicherheits- und Verteidigungspolitik beibehalten.

MUT: Ein anderes Thema: Der Atom-Ausstieg, der zu Beginn der rot-grünen Koalition eines der Schlüsselthemen war, ist mit seiner soeben zwischen Bundesregierung und Stromindustrie vereinbarten 32jährigen Laufzeit eher zu einem Reizthema bei den Grünen geworden. Vor allem die Basis der Grünen oder das, was einmal ihre Basis war, unterstützt die Partei, so wie sie sich jetzt darstellt, kaum noch. Könnte die Koalition an diesem Thema scheitern?

Fuchs: Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Sie müssen dabei folgendes bedenken: Ich bin noch groß geworden mit dem Glauben an die Atomenergie als der sichersten und saubersten Energiequelle überhaupt. Die Experten haben uns damals versprochen: Die Entsorgungsfrage wird gelöst werden. Wenn wir ehrlich sind, ist die Entsorgungsfrage bis heute nicht gelöst. Als wir Sozialdemokraten in dieser Frage umschwenkten und „Raus aus der Kernenergie“ sagten, konnten wir viele Sympathien bei den Wählern gewinnen, und viele Menschen sind in die Partei eingetreten. Später kamen dann die Grünen hinzu. Ich sage das deswegen, weil das Thema für die Grünen, aber auch für große Teile der Sozialdemokratie eine der wichtigsten Fragen ihres politischen Engagements betrifft. Auch deshalb muß der Ausstieg aus der Kernenergie gelingen. Im übrigen ist der Atomausstieg in unserer Gesellschaft bereits weitgehend akzeptiert. Keine Partei will mehr neue Atomkraftwerke dazu-bauen. Auch die Energiewirtschaft macht deutlich, daß sie in Zukunft nicht mehr auf die Nutzung der Kernenergie setzen will. Wenn wir unter diesen Umständen gar nichts mehr täten und auch nicht nachrüsten würden, würden irgendwann die Atomkraftwerke von selbst abgeschaltet werden. Nun geht es um die spannende Frage: Setze ich mir Fristen, und in welchem Rahmen tue ich das? Das heißt, wir haben nicht mehr die Diskussion: Atomausstieg – ja oder nein, sondern es geht um die Frage, wie und in welchem Rahmen wird der Ausstieg vollzogen. Und es geht um die Frage – und deren Beantwortung halte ich für mit am schwierigsten – wie können wir das technische Know-how das in der Atomwirtschaft steckt, nutzen, und uns im internationalen Bereich nicht von der technologischen Entwicklung abzukoppeln? Das sind die Themen, die ich sehe. Die Koalition muß daran überhaupt nicht zerbrechen, denn der gesellschaftliche Konsens, daß wir aussteigen wollen, ist, wie gesagt, eindeutig vorhanden.

MUT: Ja, aber wenn ich jetzt an die aktuelle Diskussion bei den Grünen denke, die sich zum Beispiel darum dreht, daß dreißig und mehr Jahre zuviel sind, und an die fortschreitende Zersplitterung der Partei wegen dieses Themas, da stellt sich mir die Frage, ob es nicht dazu kommen könnte, daß die Grünen überhaupt marginalisiert werden, und ob die SPD dann nicht einen neuen Koalitionspartner braucht.

Fuchs: Für die SPD ist es immer gut, wenn sie sich auf ihre eigene Kraft verläßt, wenn sie das konzipiert und in Angriff nimmt, was sie sich selbst zutraut. Das haben wir in der Kernenergie getan. Wir werden sehen, wie sich der Koalitionspartner entwickelt, was nicht voraussehbar ist. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß die Koalition an dieser Frage jetzt im Jahre 2000, noch vor Abschluß des Gesetzgebungsvorganges, zerbricht. Aber wer weiß, wie die grüne Basis diesen Prozeß begleiten wird? Mit der Bundestagsfraktion von I Bündnis 90/Die Grünen gibt es durchaus Möglichkeiten zu Kompromissen.

MUT: Die F.D.P. hat wieder Einzug gehalten in den nordrhein-westfälischen Landtag, mit einem sehr guten Ergebnis. Es wird viel darüber spekuliert, ob das auch Auswirkungen auf die Bundesebene haben könnte, unabhängig von der Koalitionssituation in Düsseldorf. Sieht es nicht so aus, als ob die F.D.P. mit einem Bundeskanzler und Parteivorsitzenden Gerhard Schröder viel mehr Gemeinsamkeiten hat, als die Grünen sie noch haben?

Fuchs: Wir wollen beim nordrhein-westfälischen Wahlergebnis zunächst bedauernd festhalten, wie niedrig die Wahlbeteiligung war. Ich finde es interessant, daß die F.D.P. die Protest-Wähler an sich gezogen hat. Das ist viel sympathischer, als wenn das eine linksextreme oder eine rechtsextreme Partei erreicht hätte. Herr Möllemann mit seiner Art von Politik hat viel mobilisiert, und das ist zu akzeptieren. Auswirkungen von Wahlergebnis und Koalitionsverhandlungen in

NRW auf die Bundesebene sehe ich im Augenblick nicht. Der Bundeskanzler hat gesagt, Optionen zu haben ist immer von Vorteil. Dies war aber keine Andeutung über einen möglichen Wechsel der Koalition. Ich habe noch meine eigenen Erinnerungen an die sozial-liberale Koalition. Als Sozialpolitikerin habe ich wenig Lust, mich wieder mit der F.D.P. auf dieses Feld begeben zu müssen. Ich weiß allerdings, daß die Grünen auf diesem Feld auch nicht unproblematisch sind. Insofern überlassen wir die Koalitionsfrage der weiteren Entwicklung. Die sozialdemokratische Partei ist gut beraten, sich auf ihre eigene Kraft zu verlassen. Ich sage immer spaßeshalber: Wenn die SPD so gut wäre, wie sie sein könnte, wäre sie unschlagbar.

MUT: Nun laufen die jungen Wähler ja gerade den Grünen davon, wie man in Nordrhein-Westfalen feststellen konnte. Die F.D.P. scheint mit ihrer Art und Weise des Auftritts diese jungen Wähler anzuziehen. Muß nicht auch die SPD daraus lernen, daß sie sich nach außen hin anders darstellt?

Fuchs: Es gibt immer ein Auf und Ab in der Politik, und es kommen immer wieder neue Wellen. Es ist richtig: Die Faszination des grünen Politikansatzes ist vorüber. Die Faszination der Grünen lag auch darin, daß die Partei politisches Personal anzubieten hatte, das interessant war, das modern war, das gegen den Strich bürstete. Diese Faszination ist vorüber. Und was die F.D.P. mit ihrer neugewonnenen Attraktivität bei jungen Menschen angeht, so ist sicher klar: Wir leben in einer Spaß-Gesellschaft, die wir als Politiker auch als solche akzeptieren müssen. Das auf kurzfristigen Lustgewinn, auf den momentanen „Kick“, ausgerichtete Verhalten und Empfinden hat sich bei den jungen Menschen durchgesetzt. Manche erwarten dies auch in irgendeiner Form in der Politik. Für die sozialdemokratische Partei mit ihrer Tradition und mit ihrem sozialen Engagement für Menschen, die nicht zu dieser Spaß-Gesellschaft gehören, ist das eine Herausforderung. Wir werden nicht wie Herr Möllemann mit Fallschirmabspringen oder flachgeistiger Reklame Politik machen. Junge Leute zu begeistern wird nicht mehr nur über Inhalte gehen, sondern es wird auch über Symbole und über Personen gehen müssen. Daran werden wir arbeiten. Ich bin überzeugt: Plötzlich entwickelt sich etwas, das trägt. Sie können Veränderungen nicht aus dem Hut zaubern oder einfach auf Papier schreiben. Menschen und Programme sind gefragt. Wir sind eine große Partei wir werden Angebote und Wege finden, und junge Leute anzuziehen.

MUT: Sie sind Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Nun laufen die Debatten des Bundestages häufig doch sehr zähflüssig. Gerade junge Leute kann das eigentlich nicht begeistern. Muß nicht eine Reform stattfinden, die die Debatten des Bundestages und überhaupt die Darstellung des Bundestages attraktiver macht?

Fuchs: Zunächst sind wir ein Arbeitsparlament, das als Gesetzgeber seine Aufgaben erledigt. Die Attraktivität der Parlamentsdebatten hängt vor allem von den Abgeordneten selbst ab. Wir haben immer dann spannende Debatten, wenn wir die gesetzgeberische Art der Diskussion hinter uns lassen. Wenn Sie daran denken, wie wir über den Umzug Bonn – Berlin diskutiert haben oder über die Strafbarkeit von Schwangerschafts-Unterbrechungen, über die Verpackung des Reichstages oder zuletzt über das Kunstwerk von Herrn Haacke, dann haben Sie einige Beispiele für spannende Debatten. Die Abgeordneten können auf einem hohen Niveau mit viel Witz, auch mit großer Sachkompetenz argumentieren. Was andere Debatten anlangt, so müssen wir uns fragen, ob wir nach einer Regierungserklärung drei Stunden Diskussion brauchen? Sie müssen allerdings sehen, daß die Fachleute debattieren wollen und daß es für die Auseinandersetzung über komplexe und sehr ins Detail gehende Themen auch längere Debatten geben muß. Mein Problem ist vor allem, daß zuwenig Abgeordnete im Parlament anwesend sind. Wir haben versucht festzulegen: Der Donnerstag ist die Kernzeit, und dann seid mal alle da, liebe Leute. Man redet besser, wenn Kolleginnen und Kollegen zuhören und mitgehen. Ich habe mir übrigens vorgenommen: Wenn ich präsidiere, höre ich genau zu. Und wenn man mit Geduld zuhört – so wie man sich ja auch auf ein Buch einlassen muß, und nicht nach einer Seite schon sagen kann, ich mag nicht mehr lesen –, dann stellt man fest, daß die Debatten zum Teil sehr interessant sind. Insofern beantworte ich Ihre Frage folgendermaßen: Jeder Abgeordnete muß sich auch einlassen und interessieren, auch wenn er nicht der Redner ist …

MUT: … also im Prinzip keine Änderungen …

Fuchs: … wir haben schon soviel versucht: Kernzeit am Donnerstag, zu der alle dasein sollen mit den großen Debatten; wir haben die Fragestunden. Was wir nicht nutzen, ist die

Regierungsbefragung. Es können mehr Themen angemeldet werden, aber dennoch ist noch keine lebhafte Debatte entstanden. Ich bin für sinnvolle Änderungen, aber im Kern ist die Debattenstruktur in Ordnung.

MUT: Es gab früher auch einmal den Vorschlag, daß der Bundestag ins Land gehen sollte und in Form kleiner Gruppen auf Veranstaltungen bestimmte Themen darstellen müßte. Halten Sie so etwas für sinnvoll?

Fuchs: Es gibt eine weitverzweigte parlamentarische Tätigkeit außerhalb des Bundestages. Die Ausschüsse tagen außerhalb, es gibt Kontakte zu den Landtagen, der Bundestag ist präsent mit Ausstellungen, mit Informationsangeboten vor Ort. Ich bin auch nicht so pessimistisch. Wir sind jetzt in Berlin. Ich beobachte, daß Menschen in Schlangen anstehen, um auf die Kuppel des Reichstages zu gelangen. Immerhin sind sie damit schon in der Nähe des Parlamentes. In Bonn hatten wir 500 000 Besucher, hier haben wir 2,5 Millionen. Es gibt gute Informationen. Der Kern wird sein, ob die Menschen bereit sind, sich auch wieder auf die Politik zuzubewegen. Wenn wir Politiker die Brücke betreten, um zu den Bürgern zu kommen, müssen die Bürger zumindest auch auf die Brücke kommen. Es gibt soviel Engagement vor Ort, soviel ehrenamtliche Betätigung, soviel demokratische Substanz, daß wir daran weiterarbeiten müssen. Es gab Phasen, in denen wir die Leute begeistern konnten, auch Phasen, in denen wir es nicht konnten. Besonders problematisch finde ich das politische Desinteresse bei jungen Leuten, die – wenn sie enttäuscht sind – eher nach rechts abdriften.

MUT: Und wie ist es mit der Vereinigung Deutschlands? Meinen Sie, daß die Zustimmung im Osten Deutschlands wachsen wird? Im Moment ist es ja eher umgekehrt.

Fuchs: Auch daran müssen wir arbeiten. Die Menschen haben sich nicht vorstellen können, daß sie nach einer Lebensphase mit sicherem Arbeitsplatz und gewohntem sozialen Umfeld mit so vielen sozialen Veränderungen und Problemen konfrontiert werden würden. Die Menschen im Osten haben wie in einem Kloster gelebt. Jetzt sind die Klostermauern offen, und sie müssen sich ohne Vorbereitung auf einem freien Markt durchsetzen. Zustimmung wird nur kommen, wenn wir gute Politik machen. – Dazu brauchen wir Geduld. Die Kommunen sind zum Beispiel aufgerufen, sich um ihre Jugendlichen zu kümmern. Es wurden Jugendhäuser dichtgemacht und dafür die Disco eröffnet. Die Disco kostet Eintritt, in der Disco muß ich etwas trinken. Das heißt: Wir haben den Zugang zu Institutionen zugunsten von marktwirtschaftlichen Angeboten verändert. Nun wundern wir uns, daß sich dies auch auf die jungen Menschen auswirkt. Jugendarbeit vor Ort, öffentliche Angebote und natürlich Jobs und Ausbildungsplätze, das ist für junge Menschen die Eintrittskarte in unsere Gesellschaft. Der demokratische Aufbau im Osten wird länger dauern, als wir gehofft haben. Und es gibt keinen anderen Weg, als sich in der Demokratie immer wieder zu engagieren und mit einem guten Programm und guten Leuten die Menschen auch gegen diesen Trend der Häppchen-Kultur und der Häppchen-Informationen zu überzeugen.

MUT: Die schlechten Wahlergebnisse der SPD in den östlichen Ländern hängen auch mit dem Rücktritt Ihres ehemaligen Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine zusammen. Er hat

das selbst auch eingestanden. Nun ist er in der SPD wieder aufgetreten. Welche Funktion wird er denn zukünftig haben?

Fuchs: Oskar Lafontaine wird in der SPD, soweit ich das einschätzen kann, keine führende Rolle spielen. Daß er sich als einfaches Parteimitglied wieder engagiert, ist zu akzeptieren. Es war ein großer Bruch. Wir haben viel Vertrauen verloren. Und das nordrhein-westfälische Wahlergebnis zeigt noch einmal, daß Menschen, insbesondere Menschen, die mit Parteien verbunden sind, behutsam behandelt werden wollen. Man darf nie unterschätzen, was Vertrauensverlust in den eigenen Reihen bedeutet. Es ist dramatischer, als man gemeinhin denkt. Die F.D.P. hat das erfahren nach der Wende 1982, und wir haben das sicherlich jetzt erfahren, nach dem Rücktritt von Oskar Lafontaine. Das gilt auch für Ostdeutschland, weil viele diesen Schritt nicht verstanden haben. Wir müssen daran arbeiten, verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen. Und das geht nicht mit Hauruck. Das geht auch nicht mit einem schönen Design oder irgendeiner Hochglanzbroschüre, sondern das ist Parteiarbeit vor Ort. Die war immer mühsam, aber um die kommen wir nicht herum.

MUT: Jetzt tritt auch Rudolf Dressler von der aktiven Bühne ab. Sind die Traditionalisten, wie sie ja häufig in der SPD genannt werden, nun vollends auf dem Rückzug?

Fuchs: Wir haben junge und alte Traditionalisten, junge und alte Modernisierer, und wir haben gute Debatten. Bundeskanzler Schröder hat zusammengefaßt: wirtschaftliche Vernunft und sozialer Anstand. Wenn man etwas Neues will, muß man darauf achten, daß man die Menschen mitnimmt, die in der Partei aktiv sind oder die zu unserer Wähler-Klientel gehören. Sie wollen ja nicht sitzengelassen werden. Die angeblichen Traditionalisten schauen auch in die Zukunft, und sie wissen, daß es technische Veränderungen gibt, daß wir uns zu einer Informationsgesellschaft entwickeln. Auch der Stahlarbeiter weiß, daß wir eine Dienstleistungsgesellschaft werden. Aber der Stahlarbeiter will von uns in die Zukunft mitgenommen werden. Wir dürfen nicht sagen: Du bist von gestern, dich brauchen wir nicht mehr. Sondern wir brauchen alle – und auch zusätzliches Wählerpotential.

MUT: Frau Fuchs, haben Sie vielen Dank für dieses Gespräch.