Die gefährliche Arbeit des Biographen

Der Schriftsteller Hans Anklam, der sich mit Journalisterei, Taxifahren, Aushilfen für eine chemische Reinigung und Urlaubsvertretungen bei der Post über Wasser hält, bietet seine kreativen Dienste als Biograph per Annonce an. Er bekommt auf diesem Weg die Gelegenheit, die Lebensgeschichte des Juristen· Max Wagenschieds aufzuzeichnen. Eine Biographie, deren Oberflächenstrukturen viele typisch deutsche Elemente enthält: Kindheit in den unsicheren 20er Jahren, jugendliche Begeisterung für den Sozialismus, Studium in Bonn unter den Nationalsozialisten, Emigration nach London und Engagement gegen die Nazis im Exil, Rückkehr in die neuentstandene DDR mit anschließender Ernüchterung der sozialistischen Begeisterung. Wagenschied will durch das Erzählen seiner Lebensgeschichte jedoch eine Frage im besonderen klären: Inwieweit trägt er die Schuld am Tode einer Frau, Rosel Lutens, die sich selbst unter den widrigsten Bedingungen noch nicht einmal zu einer Vernunftehe mit ihm entschließen konnte. Das konkrete Aussprechen seiner Version(en) der Erinnerung, der sprachlose und nicht zur Sprache kommende Hintergrund (S. 88) seines Bewußtseins, soll von Anklam in Worte gefaßt, konkretisiert werden. Wagenschied negiert die Existenz der allgemeinen Wahrheit (mit Hinweis auf die bekannte Kleist’sche grüne Scheibe vor unseren Augen); er will wenigstens seine subjektive, individuelle Wahrheit suchen und finden (S. 118 ff.)

 Hense legt den Prozeß der Niederschrift der manchmal auch in unterschiedlichen Versionen angebotenen Erinnerungen Wagenschieds als Struktur des Romans zugrunde. Der Biograph Anklam fügt als große und kleine Exkurse nicht nur eigene biographische Versatzstücke, sondern auch seine Tag- und Nacht-Träume oder Geschichten ein, die im Verlauf des Buches in noch zu klärender Weise mit der Geschichte Wagenschieds zu tun haben. Hervorzuheben ist der Versuch Henses, durch spiegelbildliche Verknüpfungen der Biographien Vergangenheit und Gegenwart zu verbinden.

 Wagenschieds persönliches Schuldgefühl manifestiert sich also nicht in seiner Beziehung zur Politik, sondern im Persönlichen. Seine obsessive Liebe zu Rosel führt zu zwei Todesfällen. Der 44jährige Erzähler Anklam memoriert seine eigenen vielfältigen Beziehungen zum weiblichen Geschlecht, die tendenziell ähnlich Ich-bezogene Handlungsweisen zeigen. Wagenschieds historische Wirklichkeit in Nazizeit und Exil wird gespiegelt von der deutschen Wirklichkeit 1994, die eine Welle ausländerfeindlicher Aktionen erleben mußte. Parolen der „Ewiggestrigen“ („Mit dir hätten wir früher kurzen Prozeß gemacht“, S. 80), das latent ausländerfeindliche Geschwätz erfahrener Urlauber („Nach drei Wochen Spanien weiß man, was man hier hat“, S. 135), die offene Ablehnung eines Taxifahrers, einen Schwarzen zu fahren (S. 137 f.) und die Geschichte des Neonazis Ollie (S.140 ff.), der es schließlich bis zum Anwalt der besagten Gruppe schafft – Mosaiksteine des Alltags, die auf der entsprechenden sprachlichen Ebene präsentiert werden.

 Der Versuch Wagenschieds, wie bei einem ägyptischen Palimpsest (S. 20), durch mehrmaliges Überschreiben ein Durchschimmern der Wahrheit zu erreichen, bleibt bis zum überraschenden Ende auch ein Versuch des Lesers, den objektiven Ablauf der Handlung zu rekonstruieren. Der Schluß, der mit der mondgesichtigen Haushälterin Wagenschieds Dorothea (S. 256) als Rächerin – sie mordet allerdings im Namen einer rechtsextremen Partei – an einige Romane Faulkners erinnert, läßt bei Anklam nur die lakonische Aussage „Mir schwirrt der Kopf“ als Schlußpointe zu.

 Hense erzielt dadurch aber genau den Effekt, der auch das Gesamtanliegen des lesenswerten und mit zahlreichen literarischen Anspielungen versehenen Buches ist: Autor und Leser knüpfen Beziehungsfaden, ähnlich denen des Spinnennetzes auf dem Buchumschlag, die nur eine scheinbare Klarheit haben und durch eine Bewegung zerstört werden können. Um dann eine zweite Unschuld zu schaffen.

Eva Bezzeg-Frölich