Zum Jahreswechsel 1994/95 machten zwei „neue“ Platten der Beatles mit meist mehr als dreißig Jahre alten Aufnahmen Furore: Die Firma EMI Records hatte Live-Bänder der vier Liverpooler Musiker neu abgemischt und produziert, die zwischen 1963 und 1965 vor allem bei der British Broadcasting Corporation (BBC) in London eingespielt worden waren, und sie unter dem Titel „The Beatles Live at the BBC“, von gewaltigem Werbungs-Getöse begleitet, auf den internationalen Musikmarkt geworfen1. Die Besprechungen, die ich darüber las, motivierten mich zunächst nicht besonders, die beiden Scheiben käuflich zu erwerben. Etwas für Sammler, so hieß es meist, für Hörer weniger interessant.
Dann stieß ich aber auch auf Bewertungen von Musik-Journalisten, die dem mit insgesamt 56 Songs und 13 Worteinblendungen überaus umfangreich geratenen „Spätzünder“ mehr abzugewinnen vermochten. Da war die damals noch frische, unverbrauchte Stimme von John Lennon, die gelobt wurde.2 Und auf den Gesang der Beatles bin ich schon in den sechziger Jahren ganz speziell „abgefahren“. Nun also besitze ich die Doppel-CD und höre sie mit Genuß, träume dabei von den seligen Zeiten, als wir die Musik weitgehend noch mit der Hand gemacht haben. Nostalgie entfaltet ihre magische Aura: Grund genug auch die alten Beatles-Platten nochmal zu hören, in alten Büchern zu schmökern …
Was macht die Beatles und ihre Musik so zeitlos, so „unkaputtbar“ (wie es ein Fan einmal trefflich ausdrückte)? Was ist das Besondere? Für alle Popmusik-Liebhaber, die nicht nur dem deutschen Schlager und seinen faden Texten über Liebe und Triebe, Träume und Schäume anhingen, sondern auch Ohren und Augen für Entwicklungen hatten, die sich jenseits der Grenzen abspielten, war die Dominanz der Beatles-Songs ab Mitte 1963 evident. Die internationalen Hitparaden spiegelten den Widerhall, den die vier jungen Engländer in einer fiebrigen Epoche des Umbruches und der Proteste bei der Jugend fast überall in der Welt fanden. Auch in Deutschland ließen ihre Lieder sich bald nicht mehr überhören.
Ein kurzer Rückblick auf die damalige Zeit und auf die Nummer-eins-Hits der Beatles mag die unruhigen sechziger Jahre in Erinnerung rufen. Wobei freilich nur die Singles berücksichtigt sind, die ganz vorn notiert waren. Um ihrer Dominanz wirklich gerecht zu werden, müßten wenigstens die anderen Top-Ten-Titel der Beatles und ihre Langspielplatten hinzugefügt werden. Dazu fehlt hier allerdings der Platz. Deshalb nur ein kurzes Schlaglicht: Im April 1964 waren in den USA zwölf Beatles-Nummern unter den ersten hundert, fünf davon auf den Plätzen eins bis fünf; alle Original-LPs der Beatles erreichten Platz eins der LP-Hitlisten!
1963, im Jahr, als Ludwig Erhard Bundeskanzler wird, in England der Profumo-Skandal die Politik in Verruf bringt und in Amerika Präsident John F. Kennedy ermordet wird, stehen drei Beatles-Singles insgesamt 18 Wochen lang auf Platz eins der Hitparade: ,,From Me To You„, ,,She Loves You“ und ,,I Want To Hold Your Hand„.
1964 wird Heinrich Lübke als Bundespräsident wiedergewählt, Nikita Chruschtschow wird in Moskau abgesetzt, Rotchina zündet die erste Atombombe und Martin Luther King erhält den Friedensnobelpreis; die Beatles sind wieder mit drei Nummer-eins-Titeln insgesamt neun Wochen lang präsent: „Can ‚t Buy Me Love„, „A Hard Days Night“ und „I Feel Fine„.
1965 nimmt Deutschland diplomatische Beziehungen zu Israel auf, der kritische Publizist Erich Kuby erhält Redeverbot an der Berliner Freien Universität, und die USA greifen offen in den Vietnamkrieg ein; drei Titel der Beatles führen elf Wochen lang die Hitparade an: „Ticket To Ride„, „Help!“ und „Day Tripper„.
1966 wird in Bonn die große Koalition gebildet, fordert Rudi Dutschke die außerparlamentarische Opposition, machen in aller Welt Anti-Vietnam-Demonstrationen von sich reden, und in China beginnt die „Kulturrevolution“; sieben Wochen lang beherrschen die Beatles mit drei ihrer Songs die Hitparaden: „Paperback Writer“, „Yellow Submarine“ und „Eleanor Rigby„.
1967 stirbt Konrad Adenauer, in Berlin wird bei einer Demonstration gegen den Besuch des Schah von Persien der Student Benno Ohnesorg erschossen, in Bolivien findet Ernesto Che Guevara den gewaltsamen Tod, in Griechenland putschen die Obristen, und Israel gewinnt den Sechstagekrieg; zehn Wochen lang führen zwei Beatles-Singles die Hitlisten an: ,,All You Need ls Love“ und „Hello Goodbye„.
1968 wird Rudi Dutschke in Berlin angeschossen, in Bonn werden, trotz massiver Proteste, von der Großen Koalition die Notstandsgesetze verabschiedet, der „Prager Frühling“ wird durch den Einmarsch sowjetischer Panzer beendet, in Paris demonstrieren die Studenten gegen die Regierung de Gaulle, Martin Luther King und Robert Kennedy werden in den USA ermordet, und „Apollo 7″ fliegt auf den Mond; vier Wochen lang führen die Beatles mit zwei ihrer Songs die Hitparaden an: „Lady Madonna“ und „Hey Jude„.
1969 wird in Bonn die sozial-liberale Koalition unter Willy Brandt und Walter Scheel gebildet, tritt Charles de Gaulle in Frankreich zurück, beginnt der nordirische Bürgerkrieg und finden in den USA nach dem Massaker von My Lai die größten Anti-Vietnam-Demonstrationen statt; zwei Titel der Beatles beherrschen neun Wochen lang die Hitlisten: „Get Back“ und „The Ballad Of John And Yoko„.
1970 beginnt die RAF ihren Terror, Brandt besucht die DDR, die Ostverträge werden verhandelt und zum Teil verabschiedet, und in Chile wird Allende zum Staatspräsidenten gewählt; Nummer-eins-Hits der Beatles: Fehlanzeige. Die Band löst sich auf, nachdem schon seit mindestens einem Jahr jeder der vier seine eigenen Wege gegangen ist. Läßt man die umwälzenden politischen Ereignisse dieser acht Jahre und parallel dazu die Erfolge der Beatles Revue passieren, so fällt eines schon an den Titeln und Texten ihrer großen Hits auf: Mit der Politik, wie sie sich praktisch vollzog, mit den politischen Ereignissen, die uns heute von der 68er Revolte sprechen lassen, hatten sie unmittelbar nichts zu tun; auch wenn vor allem John Lennon sich in späteren Jahren den Anschein zu geben versuchte, als sei er ein „Working Class Hero“. Man mag der Biographie von Albert Goldman sonst skeptisch gegenüberstehen: wenn er das politische Engagement Lennons als naiven Opportunismus abtut, so hat er damit sicher recht.3
Zur Politik ihrer Zeit steuerten die Beatles allenfalls einen leicht ausgeflippten, von Haschisch- und Marihuanadüften umnebelten Kontrapunkt bei, mit dessen Hilfe sich jugendliche Aktionisten und ihre Mitläufer etwa an den Universitäten vergnügliche Stunden und ein unbeschwertes Lebensgefühl verschafften. Freilich gab es manche, die dieses Lebensgefühl für ein politisches Ziel ausgaben, zum Beispiel in der Flowerpower-Bewegung. Indessen waren ihre Ansichten schon damals eher Ausdruck von Naivität und Weltferne, als daß damit wirklich etwas zu verändern gewesen wäre. Allerdings wirkte sich die Faszination der Beatles keineswegs nur auf diese und andere Erscheinungen modischer Jugendkultur aus, sie ging weit darüber hinaus. Hätte andererseits ihre Strahlkraft damit ursächlich zu tun gehabt, so wäre sie mit dem Ende der „Blumenkinder“ gewiß ebenfalls verschwunden.
Der Grund oder die Gründe für die andauernde Faszination der „Fab Four“, für die weltweite Beatles-Manie ist also weder in den politisch unruhigen Zeiten noch in zeitgebundenen Modeströmungen zu suchen, er muß anderswo liegen. Ich meine, daß die Beatles und ihre Songs den Nerv der Zeit so genau trafen, weil es ihnen in erster Linie um die Befreiung der Gefühle ging. Sie stellten eine unbekümmerte, unbeschwerte, ehrliche und naive Welt der Liebe und menschlicher Zuwendung der überkommenen, häufig von verlogener Doppelmoral gekennzeichneten Gefühlsverklemmung der Erwachsenenwelt entgegen. Gleichwohl konnten sie sich selbst noch keineswegs wirklich emanzipieren, gaben sich allenfalls den Anschein – genau wie das Gros ihres Publikums.
Zum anderen symbolisierten sie die Abkehr von überholten Autoritätsklischees, sagten sich los von einer sterilen, freudlosen Strebergesellschaft, boten dem Establishment die Stirn und ihrem Publikum (scheinbar) eine Alternative. Aber auch hier blieben sie selbst doch Teil des verachteten Systems, machten sich zwar darüber lustig, hingen in Wirklichkeit jedoch davon ab – womit sie wiederum der Situation vieler ihrer Fans entsprachen. Am deutlichsten wurde das vielleicht in den USA mit ihrer ungenierten Vergötterung des finanziellen Erfolgs, der am Ende auch die Beatles salonfähig machte, trotz aller anfänglichen Skepsis bei den Bossen -und Bonzen der Musikindustrie. Der Amerikaner Carl Beiz schreibt 1972 darüber: „Sie (die Beatles) waren Millionäre, aber sie hatten die Welt der Erwachsenen erobert, ohne sich ihr zu unterwerfen.“4 Freilich unterwarf sich die Welt der Erwachsenen auch den Beatles nicht, vielmehr beeilte sich die Plattenindustrie, die so stark nachgefragte Musik der Vier nahtlos in ihr weltweites Marketing zu integrieren.
Vielleicht kann man es so beschreiben: Eine von emotionalen und ideologischen Auseinandersetzungen aufgeheizte Epoche, in der alte Maßstäbe ins Wanken gerieten, aber keineswegs gänzlich fielen, fand ihre Entsprechung in der Ambivalenz, im Spagat der Beatles. Das machte ihre spezifische, rein rational nicht erklärbare Anziehungskraft auf eine Jugend aus, die in den sechziger Jahren den Aufstand probte, schließlich aber doch nur einen Teilerfolg erzielen konnte.
Ambivalenz kennzeichnet auch die Musik der Beatles. In den fünfziger Jahren feierte der amerikanische Rock ’n‘ Roll eines Bill Haley, Elvis Presley, Chuck Berry, Little Richard und anderer auf dem alten Kontinent erste Erfolge, auch der schwarze Blues und der Jazz machten in Europa von sich reden; die englische Hitparade wurde aber daneben vom süßlichen Gesang Cliff Richards und vom typisch britischen Rock ’n‘ Roll-Verschnitt der Tommy Steele, Billy Fury und Johnny Gentle bevölkert. John Lennon und Co. verstanden es indessen meisterhaft, die unterschiedlichen Popmusikspielarten ihrer Zeit auf gefällige und (zumindest in späteren Jahren) auch originelle Art und Weise miteinander zu vermischen.5 Der BBC-Produzent Peter Pilbeam drückt es schon 1962 mit britischer Ironie recht zutreffend aus: „An unusual group. Not as ,Rocky‘ as most, more country and western with a tendency to play music.“6 Dieser „neue“ Stil, der aus dem Mixtum compositum des Vorgefundenen entstand, wurde allerdings durch einen Gesang transportiert, der bis dahin noch niemals zu hören war: Die zwei- und dreistimmigen Sätze von Lennon, McCartney und Harrison, auch die gelegentlichen stimmlichen Einlagen von Ringo Starr schlugen die Beatles-Hörer sofort in ihren Bann. Und so blieb es durchgehend bis 1970, bei aller Veränderung und aller excellenten Verfeinerung ihrer Musik in diesen acht Jahren. Wie die unterschiedlichen Veranlagungen der vier Musiker eine Einheit ergaben, die die Herzen ihrer Fans im Sturm eroberte, so fanden ihre gesanglichen Fähigkeiten zu einer Synergie, deren Faszination sich bis heute kaum jemand entziehen kann – wenn er denn bereit ist, sich überhaupt einigermaßen vorurteilsfrei auf die Beatles einzulassen. Man möge sich nur einmal die Songs „Baby’s In Black“ oder „Nowhere Man“ zu Gemüte führen, am besten mit Hilfe eines guten Kopfhörers, um diesen Tatbestand zu überprüfen. Ihr Gesang, so meine ich, ist neben der außergewöhnlichen kompositorischen und textlichen Begabung, neben der sprühenden Kreativität des Teams Lennon/McCartney (wenn sie ihre Songs auch vielfach einzeln geschrieben und erst später gemeinsam arrangiert haben) der ausschlaggebende Grund dafür, daß im Laufe der Zeit Musiker aus allen Sparten, von Friedrich Gulda und Leonhard Bernstein über Yehudi Menuhin und Pierre Boulez bis zu Ella Fitzgerald und der Glitzergruppe Take That, ihrer Beatles-Verehrung Ausdruck gegeben haben7. Und diese Qualitätsmerkmale ihrer Musik sind es auch, die die Faszination der Vier bis heute quer durch die Generationen konservieren. Darüber, daß man wiederholt versucht hat die Beatles-Songs in klassische Musik zu transponieren, mag der Klassik-Kenner lächeln; aber auch das zeigt in welchem Maße die Musik der vier Engländer, die nicht einmal Noten gelernt haben, zu beeindrucken vermag.8
Einem Irrtum freilich sollte man nicht verfallen: sie hätten etwa einzig durch die Faszination ihrer Lieder und ihrer persönlichen Aura den Erfolg des Unternehmens Beatles bewerkstelligt. Rainer Moers, der Chef des Beatles-Museums in Köln, sagt dazu: „Für die damaligen Jugendlichen waren die Beatles fast so etwas wie Vorreiter für ein neues Lebensgefühl. Kaum Jemand erkannte, daß es ich damals schon um einen geschickt gelenkten Werbefeldzug der Industrie um die Gunst der Jugend handelte.“9 Es mag also sein, daß in der Anfangszeit, bevor sie in England die Hitparaden eroberten, allein ihre jugendliche Unbekümmertheit und ihre frische Musik Grundlage des Erfolgs waren, spätestens als sie 1963 ihren ersten Nummer-eins-Hit landeten, änderte sich das indessen radikal. Brian Epstein, ihr Manager, George Martin, ihr Produzent, und der gesamte dazugehörige Troß der Unterhaltungsindustrie machten die vier einfachen Liverpooler Jungs zu einem Erfolgsprojekt ungeahnten Ausmaßes, indem sie die Regeln hemmungsloser Vermarktung anwandten, mit allem dazugehörigen Hokuspokus. Woran die Band vielleicht fünf Jahre später zerbrechen mußte.
Und heute? Wir leben doch wieder in einer Epoche des Umbruchs, der großen politischen Ereignisse, die abermals Sehnsucht nach mehr Menschlichkeit, nach Zuwendung und Liebe zeitigen könnte. Wäre heute noch ein solch kometenhafter Aufstieg aus dem Nichts allein mit Hilfe der oben beschriebenen Beatles-Ingredienzien denkbar? Haben sich dafür die Bedingungen, unter denen das Popmusikgeschäft betrieben wird, nicht allzu sehr geändert? – Nicht mehr die Atmosphäre einer Zeit, die Gefühlslage der Jugend ist ja heute ausschlaggebend für den (kommerziellen) Erfolg von Musik, vielmehr sind es der Aufwand an Werbung und die Medienpräsenz, die Hits und Stars erzeugen. Massenmedien, vor allem Fernsehsender, die von der Musikindustrie betrieben werden, bestimmen den Konsum: „big brother MTV“ und all die anderen, die nach seinem Muster Programme stricken.
Gleichzeitig sorgen sie für das dazugehörige „feeling“ und kreieren gar das „cool outfit“, das man braucht, um dazuzugehören. Man könnte fast den Eindruck haben, daß heute schlechterdings alles vermarktbar ist, wenn man nur genügend Aufwand betreibt. Wie anders ist zu erklären, daß die Plattenindustrie in Zeiten von Rap, Grunge und Jungle nicht nur die Beatles und ihre alten BBC-Aufnahmen wiederentdeckt, sondern der Zielgruppe Jugend nun auch die klassische Musik und gar Klosteraufnahmen gregorianischer Choräle verkaufen kann. Also wäre ein Aufstieg nach dem Muster der Beatles heute nicht mehr möglich, weil die Rahmenbedingungen dafür nicht mehr gegeben sind? Wahrscheinlich – aber so ganz sicher bin ich mir am Ende doch nicht. Denn wie sagte Rainer Moers auf die Frage, was denn wohl die Vier aus Liverpool so unsterblich gemacht habe: „Das Phänomen ist nicht erklärbar.“10