Die Parteien haben sich wie Mehltau über den Bürger gelegt

Ein MUT-Interview mit Dr. Burkhard Hirsch, Vizepräsident des Deutschen Bundestages

Das Gespräch führte Karl-Heinz Hense

MUT: Herr Dr. Hirsch, ich möchte beginnen mit einem übergreifenden Thema, mit der Universalität der Grund- und Menschenrechte. Wir haben die Diskussion in Deutschland über unser Verhältnis zur Volksrepublik China. Meinen Sie, daß es richtig ist, weiterhin einen Dialog zu führen, obwohl dort Menschen in Gefängnissen gefoltert werden?

Hirsch: Meine Antwort ist: Ja, aber. Ich finde, es kommt immer auf das Maß der Kontakte an, auf ihren Sinn und ihren Inhalt. Wenn wir nur mit den Staaten sprechen würden; die sich so verhalten, wie wir das heute von einer zivilisierten Nation verlangen, dann würde die Zahl der Gesprächspartner denkbar gering. Die Europäer, die die Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen ja erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit beschlossen haben, müssen sich sehr davor hüten, das, was wir erst in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts für richtig erkannt haben, sozusagen zu einem universalen Weltmaßstab zu machen. John Foster Dulles hat nach dem Krieg, ein Buch geschrieben, „Kreuzzug für die Freiheit“, das war ein Blankoscheck für Interventionen im Dienste einer bestimmten Idee oder Vorstellung. Ich finde, daß man sehr vorsichtig sein muß, wenn man von der „einen“ Welt spricht, in der wir leben. Ich habe immer mehr den Eindruck, daß wir eigentlich in mehreren Welten leben. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere aber ist, daß es heute, je enger die Menschen zusammenleben, je dichter die Informationen werden, je größer auch die Kenntnis über die Lebensverhältnisse in anderen Ländern wird, daß wir heute nicht einfach so tun können, als ginge uns das alles nichts an. Das beides scheint widersprüchlich zu sein, aber wenn ich mich auf die berühmte Schrift von Kant beziehe über die Idee einer Geschichte der Menschheit – dort beschreibt er, daß die Menschen, die Länder, die Staaten allmählich aus dem Urzustand des wilden Machtgetriebes heraustreten und in eine geordnete Völkergemeinschaft übergehen werden und müssen –, dann erkenne ich einen Prozeß, der sich nicht widerspruchslos vollzieht, nicht von heute auf morgen, sondern schrittweise. Also: Man muß diesen Antagonismus hinnehmen und sehen, daß wir in dieser Beziehung in einer Übergangsphase sind. Ich würde es für völlig falsch halten, den diplomatischen Verkehr, die Kontakte zu anderen Völkern davon abhängig zu machen, daß sie alles das tun, was wir für richtig halten. Man muß die Kontakte auch nutzen, um einen Wandel in solchen Staaten herbeizuführen, um Ideen auszutauschen. Aber man darf natürlich nicht liebedienerisch einem Staat nachlaufen und alles mit dem Mantel der christlichen Nächstenliebe bedecken, was dort an Verbrechen geschieht. Man muß es offen sagen, man muß es immer wieder zur Sprache bringen, man darf die Möglichkeit des Einflusses nicht zu gering schätzen.

MUT: Nun waren Sie einer der Gegner der Asylrechtsänderung, die wir in Deutschland bekommen haben. Hängt beides, Umgang mit Menschenrechtsverletzungen und Asyl, nicht eng miteinander zusammen?

Hirsch: Ich habe ja nie die Meinung vertreten, daß man eine Politik im Sinne der Bergpredigt heute verwirklichen könnte, also mit diesem „Kommt her zu uns, die ihr mühselig und beladen seid“. Das kann man sicherlich nicht. Ich habe mich in der Diskussion zum Asyl in der Bundesrepublik eigentlich immer darauf berufen, daß die Europäer nur einen ganz geringen Teil der Fluchtbewegungen dieser Erde spüren, und daß wir eigentlich unsere humanitären Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention nicht wirklich erfüllen. Wir haben heute in der Bundesrepublik 164 731 politische Flüchtlinge aufgenommen, nicht mehr. 164 731. Andere Länder haben Millionen aufgenommen …

MUT: … anerkannte Flüchtlinge …

Hirsch: … ja, natürlich. Das andere ist ein Verwaltungsproblem: Wen kann ich zurückschieben, wie lange dauert das? Schicke ich jemand in die Todesstrafe, die Folter oder wohin? Aber wir haben in der Tat nur 164 000 Menschen aufgenommen. Einschließlich ihrer Familienangehörigen reden wir in Wirklichkeit, was das Asylrecht angeht, über nicht mehr als 190 000 Menschen. Und da finde ich schon, obwohl ich alle Probleme sehe, die sich daraus ergeben haben, daß die Zahlen, die es tatsächlich gibt, nicht dafür sprechen, daß wir uns einen Bruch gehoben hätten. Ich habe es für unglaublich gehalten, daß man sagt, die Verfassungsväter hätten sich nicht vorstellen können, daß das Asylrecht nicht nur Einzelfälle betrifft, sondern massenhaft in Anspruch genommen wird. Wie viele Menschen haben wir denn im „Dritten Reich“ vertrieben? Das war ja gerade eine Reaktion auf massenhafte Vertreibungen im „Dritten Reich“. Das Asylrecht des Artikels 16 Grundgesetz war die Freiheitsstatue im sicheren Hafen unserer Verfassung. Heute würde ich sagen, es ist nicht einmal mehr eine Petroleumfunzel in der Hand eines Nachtwächters. Wir nehmen uns das Recht, unseren Nachbarn zu sagen: Erfüllt ihr für uns die Verpflichtungen der Genfer Flüchtlingskonvention nach eurem Belieben. Wir kippen euch unsere Flüchtlinge auf den Hof. Selbst der politische Flüchtling, der sich an der Grenze als politischer Flüchtling meldet, wird von uns zurückgeschickt, ohne angehört zu werden. Eine Regelung, die im übrigen auch dazu führt, daß die Menschen zur Unehrlichkeit geradezu angehalten werden. Wenn sie bei uns sind, illegal oder wie immer, und ihre Papiere vernichten, haben sie eine bessere Rechtsstellung, als wenn sie an der Grenze offen und ehrlich sagen: Ich bin ein politischer Flüchtling. – Das waren meine Kritikpunkte am Asylrecht. Der Kern liegt natürlich darin, daß wir eine Überlagerung haben und gehabt haben von Asylsuchenden auf der einen Seite und von Wanderungsbewegungen auf der anderen, die ursprünglich mit dem Wohlstandsgefälle zusammenhingen. Ich glaube, daß die Vorstellung, die manche Europäer haben – man könne sozusagen um Europa eine Mauer bauen –, eine Illusion ist. Ich glaube, daß es wichtig ist, daß die Europäer ein gemeinsames Asylrecht entwickeln. Ich glaube, daß es wichtig ist, daß die Europäer gemeinsame Einwanderungsregeln beschließen, um Asyl- und Einwanderungswünsche voneinander trennen zu können. Und ich glaube, daß die Industriestaaten insgesamt, nicht nur die Europäer, weit mehr tun müssen, um ihre Nachbarn wirtschaftlich zu stabilisieren. Wir, was Osteuropa angeht, in ganz besonderer Weise.

MUT: Die liberalen Grundsätze bestehen auch darin, im Zweifel für die Freiheit des Menschen einzutreten, auch des Menschen, der bei uns lebt und kein Deutscher ist. Meinen Sie, daß die Übertragung der Freiheitsrechte an Ausländer heute in der deutschen Bevölkerung überhaupt Akzeptanz finden könnte?

Hirsch: Ich möchte Sie daran erinnern, daß wir jahrelang über das Kommunal-Wahlrecht für Ausländer gestritten haben. Dann kam der Maastrichter Vertrag, in dem das Kommunal-Wahlrecht jedenfalls für die europäischen Ausländer statuiert wird, und ich kann nicht sehen, daß sich irgend jemand darüber aufgeregt hat. Ich komme nun auf den Punkt der Doppel-Staatsangehörigkeit, weil der Doppelstaatler ja alle deutschen Rechte, also auch alle Wahlrechte, bekommen würde. Sind wir denn nicht dabei, allmählich eine Art europäischer Staatsbürgerschaft zu schaffen? Worin unterscheidet sich denn die Rechtsstellung eines Franzosen, Italieners, Engländers in Deutschland von der Rechtsstellung eines Deutschen noch im wesentlichen? Eigentlich doch nur noch durch das Wahlrecht und die Wehrpflicht. Sonst überhaupt nicht mehr. Auch das Wahlrecht in der Kommune hat er, das aktive und das passive, er hat das Wahlrecht zu den Personalvertretungen. Wir haben doch eigentlich schon eine Art übernationaler Staatsangehörigkeit. Ich glaube, daß das eine Entwicklung ist, die akzeptiert werden wird, wenn sie schrittweise erfolgt und wenn sie sich zunächst auf die Mitglieder der Europäischen Union beziehen würde. – Dahinter steht in Wirklichkeit, auch bei der Frage der Akzeptanz, die reine Machtfrage. Bei den Kommunen sagen viele Politiker: Also, na ja, das ist ja fast wie eine Spielwiese für Demokratie, das ist nicht so schlimm. Was ist denn bei der Wahl zu den Landtagen und zum Bundestag? Es ist ja kein reiner Zufall, daß unsere Kollegen von der CDU, die entschieden gegen die Doppel-Staatsangehörigkeit kämpfen, und von der CSU insbesondere, daß sie sagen: Na schön, laßt uns einen Kompromiß machen, wir führen so eine Art Optionsrecht für Kinder ein, aber mit dem achtzehnten Lebensjahr müssen sie sich entscheiden. Das ist das Wahlalter! Dahinter steckt die schlichte Frage: Wie wählen denn nun die Türken? Die Doppel-Staatsangehörigkeit wird trotzdem kommen; es wird allerdings seine Zeit dauern. Aber dahinter steht nicht etwa, wie immer gesagt wird: „Man kann nicht zwei Herren dienen“, und: „Das ist ein Integrationsproblem“ – nein, es ist ein Machtproblem, denn es ist ein Wahlproblem. Und wenn man sagt, man könne nicht zwei Herren dienen, dann sage ich erstens: Der Bürger in unserer Verfassung ist kein Diener des Staates, sondern ein Bürger; und zum zweiten sage ich: Die 200 000 Aussiedler, die wir jährlich aufnehmen, das sind Deutsche russischer und rumänischer Staatsangehörigkeit. Das sind ja alles Doppelstaatler. Und ich habe bisher nicht gehört, daß irgendeiner von denen verlangt hätte, daß sie, wenn sie nach Deutschland kommen und hier die deutschen Staatsbürgerrechte in Anspruch nehmen, dann im selben Atemzug die andere Staatsangehörigkeit aufgeben müssen. Da muß man wohl etwas mehr Motivforschung betreiben, und ich sehe die Entwicklung mit einiger Gelassenheit.

MUT: Jetzt möchte ich Sie ansprechen in Ihrer Eigenschaft als Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Es ist schon seit langem die Rede von einer umfassenden Parlamentsreform. Ein Schlagwort in diesem Zusammenhang ist das „imperative Mandat“, das in unserem System vielleicht, vielleicht auch nicht man weiß es nicht so genau-, eine Rolle spielt. Wie ist Ihre Meinung dazu? Ist es so, daß der einzelne Abgeordnete tatsächlich, wie es vom Grundgesetz vorgesehen ist, nur seinem Gewissen verpflichtet ist, oder gibt es nicht doch so etwas wie ein imperatives Mandat?

Hirsch: Also, wenn es das imperative Mandat gäbe, dann wäre es das Ende des Parlamentarismus, denn dann würden wir uns nicht als Abgeordnete gegenübersitzen, sondern als Vertreter irgendwelcher Gruppierungen. Da gibt es eine schmale Grenze zu

dem Mitgliederentscheid, den die F.D.P. ja eingeführt und auch verwirklicht hat, wobei man aber eisern darauf achten muß zu sagen: Ein solcher Mitgliederentscheid hat nur die gleiche Wirkung wie der Beschluß eines Bundesparteitages. Man darf trotzdem die Souveränität des einzelnen Abgeordneten nicht lädieren, seine verfassungsmäßige Freiheit. Ich schulde meinem Wähler nicht Gehorsam, sondern mein Urteilsvermögen. Mein Wähler ist am Ende der Legislaturperiode frei, daraus seine Schlüsse zu ziehen – ob er das für gut gehalten hat oder nicht. Dabei muß es bleiben. Die andere Seite der Medaille sieht natürlich so aus: Daß wir nicht, jedenfalls die meisten Abgeordneten, ich bestimmt auch nicht, gewählt werden wegen unserer himmelschreienden Tüchtigkeit, sondern weil wir für Parteien und eine Basis, die uns aufstellt, kandidieren. Wir kommen auf den Schultern von soundsovieltausend Parteimitgliedern an ein Mandat. Und innerhalb einer Fraktion macht auch nicht immer jeder alles, das kann man gar nicht, sondern das muß eine Zusammenarbeit sein. Das heißt, wenn ich von den Kollegen, die sich zum Beispiel mit Landwirtschaft befassen, hoffe und wünsche, daß sie meinen Vorschlägen im Bereich der Innenpolitik folgen, dann ist das umgekehrt genauso. Wenn nun ein Abgeordneter dauernd quer im Stall steht, dann geht es ihm im Grunde genommen ebenso wie in jedem Tennisclub, in jeder Familie, an jedem Arbeitsplatz, in jeder Firma: Daß die anderen dann allmählich sagen, na gut, also, mit dem zu reden, das hat keinen Sinn. Und dann bleibt man links liegen und verliert seine eigenen Mehrheiten. Das heißt: Man muß bei der Berufung auf sein Gewissen sehr zurückhaltend sein und sich überlegen, ob es sich wirklich um eine Gewissensfrage handelt. Wenn man sich auf sein Gewissen beruft, ist das ja immer gleichzeitig auch das Bekenntnis einer Niederlage. Denn sonst brauchte man das nicht, sonst hätte der Abgeordnete ja eine Mehrheit gewonnen. Wenn ich sage, ich kann es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, so und so abzustimmen, heißt das, ich bin eben in der Minderheit geblieben. Dann allerdings, wenn man sich ernsthaft prüft und sagt, es geht nicht, dann muß man auch dabeibleiben, sonst gehört man nicht in ein Parlament. In der F.D.P.-Fraktion gibt es, solange ich das übersehen kann, also seit 1972, keinen Fraktionszwang. Natürlich erwarten die Kollegen mit Recht, daß man sich in einer politischen Frage nicht verschweigt, also nicht für die andern überraschend plötzlich gegen die Fraktion stimmt. Man muß es vorher sagen. Aber dann ist man auch frei zu tun, was man für richtig hält.

MUT: Nun haben wir seit kurzem eine Fraktion im Parlament, die der PDS, als Erbin einer Partei, die man durchaus als undemokratisch bezeichnen kann. Wenn man die Zeitungen heute aufschlägt, so werden dort häufig ihre Repräsentanten geradezu hofiert. Es könnte der Eindruck entstehen, als gäbe es keine Äquidistanz der demokratischen Parteien nach rechts und links mehr. Die Rechte ist nicht in dem Maße repräsentiert, jedenfalls nicht als eigene Fraktion im Parlament, wie es die Linke ist. Würden Sie den Eindruck mangelnder Äquidistanz bestätigen?

Hirsch: Die Frage wäre schwieriger zu beantworten, wenn Sie sie auf das Verhältnis der Parteien zueinander bezögen. Hier im Bundestag spielt die PDS überhaupt keine Rolle. Sie ist ja keine Fraktion. Wir haben ihr als Gruppe aber praktisch in allen wesentlichen Punkten dieselben Rechte eingeräumt wie einer Fraktion. Aber sie nehmen, abgesehen von den Plenarsitzungen, in Wirklichkeit an den vielfaltigen Gesprächen zwischen den Fraktionen kaum oder gar nicht teil, weil sie einseitige Positionen vertreten und kompromißunfahig sind. Es gibt natürlich in der PDS Abgeordnete, mit denen zu reden und zu debattieren ein wirkliches Vergnügen ist. Aber trotz dieser Beurteilung einzelner muß man sagen, daß die PDS als politische Kraft keine Wirkung entfaltet. Man nimmt sie hin, man hört ihre Debattenbeiträge an, ärgert sich über vieles, aber es lohnt sich nicht.

MUT: Das könnte sich ja ändern, wenn sich tatsächlich das Verhältnis zwischen SPD und PDS aufgrund einer Mehrheit, die es auf Bundesebene irgendwann geben könnte, verändern würde.

Hirsch: Ich habe es immer für falsch gehalten, die PDS, die ja in Teilen der neuen Bundesländer ganz beachtliche Wahlergebnisse erzielt hat, sozusagen an den Pranger zu stellen. Sie haben gesagt: die Erbin der SED. Nein, es ist die SED, nur mit anderem Namen. Es ist ja die völlige Identität, sie haben nur den Namen geändert. Ich selber ich komme ja aus Mitteldeutschland – komme darüber nicht hinweg, daß die SED einer ganzen Generation vierzig Jahre ihres Lebens gestohlen hat. Es ist auch nicht möglich, die Vergangenheit der DDR mit dem Strafgericht aufzuarbeiten, es sei denn, es handelt sich um normale Straftaten. Ich halte nichts von Ausgrenzung. Sie sollten nicht zu Märtyrern gemacht werden. Sie sind, was das Wahlrecht angeht, sogar bevorzugt worden. Wir haben bei der ersten Legislaturperiode gesagt, fünf Prozent, das reicht, bezogen auf die neuen Bundesländer, es müssen nicht fünf Prozent, bezogen auf das ganze Bundesgebiet, sein. Ich wäre auch extrem dagegen, zu sagen: Wir heben das Quorum von drei auf fünf Direktmandate an, was etwa der Bevölkerungsentwicklung entsprechen würde. Ich würde es für ganz verfehlt und abwegig halten. Mir ist die PDS im Bundestag als Gegner der Auseinandersetzung viel lieber, als wenn die sagen könnten: Wir sind durch irgendeinen Trick aus dem Bundestag rausgeflogen und machen jetzt eine außerparlamentarische Opposition. Nein, der Wähler muß sehen, was sie hier tun, was sie tatsächlich betreiben, ob sie Erfolg haben, welche Position sie vertreten. Was sie auch machen, ich will mich offen politisch mit ihnen auseinandersetzen und nicht mit Hilfe irgendwelcher Ausgrenzungsmechanismen. Darum ist diese „Rote-Socken-Kampagne“ so albern. Ich halte sie für wirklich töricht.

MUT: Das Verhältnis der nationalen Parlamente zum Europäischen Parlament ist immer wieder Thema diverser Debatten. Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen den nationalen Parlamenten und dem Europäischen Parlament?

Hirsch: Was Europa angeht, da verhülle ich mein Haupt. Ich bin für Europa, ich möchte Europa haben, aber ich möchte Europa nicht als ein Europa der Ministerialräte, der Ministerräte, der Kanzler oder der Notenbankpräsidenten oder der Ministerpräsidenten ich möchte ein Europa der Bürger. Und ich möchte, daß europäische Entscheidungen parlamentarisch legitimiert getroffen und uns nicht übergestülpt werden. Ich bin der felsenfesten Überzeugung: Wenn es zu Maastricht eine Volksabstimmung gegeben hätte, dann wären die Politiker ausgeschwärmt wie die Wilden, um den Leuten das im einzelnen zu erklären, was sie ihnen heute sozusagen von hoher Hand oktroyieren. Und das ist der Grundfehler an der ganzen Sache. Ich bin für eine Volksabstimmung über Maastricht und über Europa und meinetwegen auch über den Euro. Ich bin dafür, daß er kommt. Ich bin für die Verwirklichung des Maastrichter Vertrages, aber auf der Grundlage einer Volksabstimmung und rocht auf der Grundlage irgendwelcher weiser Regierungsbeschlüsse. Ich denke, daß ohne demokratische Legitimation und das bedeutet: entweder durch die nationalen Parlamente oder durch ein Europa-Parlament, die europäischen Entscheidungen auf die Dauer Schiffbruch erleiden werden, weil die Frage nach der Legitimität immer dringender wird. Je tiefer die Entscheidungen von Europa in das tägliche Leben der Leute eingreifen, um so mehr wird ihre Legitimität hinterfragt werden. Und je schneller die Leute begreifen, daß die europäischen Regelungen ohne demokratische Legitimation nicht mehr akzeptabel sind, um so eher wird das Europa in der heutigen Konstruktion Schiffbruch erleiden. Darum muß das europäische Parlament gestärkt werden. Wenn das nicht möglich ist, weil die anderen nicht wollen, dann müssen die nationalen Parlamente aktiv an Europa-Entscheidungen beteiligt werden.

MUT: Aber eigentlich müßten die nationalen Parlamente, wenn ich Sie richtig verstehe, zugunsten eines mit wirklichen parlamentarischen Kompetenzen versehenen Europa-Parlamentes abgeschafft werden?

Hirsch: Ja, richtig. Das wäre gut, weil es viele Probleme gibt, die wir auf nationaler Ebene gar nicht mehr lösen können. Also muß man die Zuständigkeiten abgrenzen, muß sagen, welche Umwelt-Fragen, welche gesellschaftlichen, gesellschaftsrechtlichen und wirtschaftspolitischen Regelungen, welche steuerlichen, sozialen Regeln müssen europäisch entschieden werden. Wir müssen wirklich gemeinschaftliche, gemeinsame Lebensverhältnisse schaffen. Wir brauchen ein zentrales Parlament, wir müssen ihm die richtigen Zuständigkeiten geben – oder das Europa in seiner jetzigen Konstruktion wird sich nicht verwirklichen lassen.

MUT: Zu Ihrer Partei, der F.D.P.: Bevor das neue Hoch nach den letzten drei Landtagswahlen kam, war überall von einem programmatischen Defizit der Partei die Rede. Nun gibt es Umfragen, die wieder besser aussehen für die F.D.P. Ist das programmatische Defizit beseitigt?

Hirsch: Ich habe den Eindruck, daß die Wahlergebnisse und die programmatischen Grundlagen nur einen sehr mittelbaren Zusammenhang haben, und daß die Programme heute mehr Plattform als Programme sind, also eine Vergewisserung der jeweiligen Parteimitglieder, auf welcher Grundlage sie arbeiten. Dabei stehen seit Mitte der achtziger Jahre im Vordergrund aller Überlegungen immer stärker wirtschafts- und finanzpolitische Fragen als Strukturfragen unserer Gesellschaft. Wir sind dabei, das programmatische Defizit der F.D.P., von dem Sie mit Recht sprechen, aufzuarbeiten. Es gibt den Karlsruher Entwurf, dem ich in Teilen zustimme. Aber dieser Entwurf ist eben noch ein Entwurf. Und wir haben ihn in der Absicht in die Welt gesetzt, damit innerhalb der F.D.P. und der Öffentlichkeit einen Diskussionsprozeß in Gang zu setzen. Wir werden dann auf dem nächsten Bundesparteitag sehen, ob wir ein Programm haben, das sich vorzeigen läßt. Ich bin der Überzeugung, daß es ein wirklich liberales und vernünftiges Programm sein wird.

 Dieses Defizit – Sie haben Ihre Frage speziell auf die F.D.P. bezogen – dieses Defizit kann man im Grunde genommen bei allen Parteien feststellen, denn wir haben eine Veränderung der politischen Strukturen erlebt mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch des Sozialismus, auf die alle Parteien bisher nicht richtig geantwortet haben. Dazu gehört, was jetzt unter dem Stichwort „Globalisierung der Märkte“ läuft oder in Ihrer Frage am Anfang anklang: Die größere Verantwortung, die jetzt die Bundesrepublik etwa in bezug auf die Menschenrechte übernehmen soll. Wir sind dabei, eine Antwort zu formulieren. Und ich bin ziemlich optimistisch, daß was Vernünftiges dabei herauskommen wird. Auch ein Verdienst von Westerwelle, Maihofer, Gerhardt.

MUT: Sie sind ein prominentes Mitglied, vielleicht das prominenteste Mitglied des „Freiburger Kreises“. Der Freiburger Kreis hat von sich reden gemacht als eine Art linkes Gewissen der F.D.P. Aber ist es nicht so, daß die „Freiburger Thesen“ 1972 ihre Berechtigung gehabt haben mögen, heute aber doch überholt sind?

Hirsch: Es ist richtig, daß die „Freiburger Thesen“ mit den Augen von 1972 gelesen werden müssen. Und ich will gar nicht darüber rechten, ob manches von dem, was da drin

steht auch heute noch gilt. Sehen Sie sich meinetwegen den ganzen umweltpolitischen Teil an. Der Grundgedanke des Freiburger Programms war, zurückgehend auf Friedrich Naumann, aus dem Industrieuntertanen einen Industriebürger zu machen. Mehr Demokratie wagen, hätte Willy Brandt gesagt. Und ich habe den Eindruck, daß diese Frage: mehr Demokratie wagen, aus dem Industrieuntertanen einen Industriebürger zu machen, sich eigentlich neu stellt. Denken Sie an die Überlegungen, Formen der direkten Demokratie einzuführen, also sich zu lösen von dem Schreckgespenst, von der alten Klamotte, daß die Weimarer Republik an Elementen der direkten Demokratie zugrunde gegangen wäre – was ja einfach nicht stimmt. Die Weimarer Zeit ist daran gescheitert, daß die bürgerlichen Parteien die Demokratie nicht akzeptiert haben.

Heute leben wir in einem System, das eigentlich erstarrt ist, obwohl die Stärke unserer Verfassung die Beweglichkeit, die Reformfähigkeit sein sollte. Die Parteien haben sich massiv wie Mehltau über den Bürger gelegt, der nun freier werden möchte, der dereguliert werden möchte, der mehr Mitwirkungsrechte haben möchte, mehr Informationsmöglichkeiten. Insofern ist der eine Grundgedanke Freiburgs nicht überholt. Und der zweite Grundgedanke war die Versöhnung mit der sozialen Verantwortung. Ich habe es für einen schweren Fehler gehalten, daß es uns nicht gelungen ist, die Staatsziele Wohnen und Arbeit in unsere Verfassung aufzunehmen. Was ja manche Verfassungen der neuen Bundesländer nachgeholt haben und was im übrigen – was die meisten nicht wissen – geltendes Recht ist, weil sie nämlich im Internationalen Pakt für bürgerliche und soziale Rechte verankert sind, den die Bundesrepublik unterschrieben hat. Das ist auch eine Facette Freiburgs: Eine liberale Gesellschaft kann es nicht geben ohne soziale Verantwortung. Sie kennen dieses Zitat: Das Gesetz in seiner schlichten Erhabenheit erlaubt es Reichen und Armen gleicherweise, unter den Brücken zu schlafen. So kann ich mir eine liberale Gesellschaft nicht vorstellen. Und das bleibt gültig. Daran zu erinnern in einer Zeit, in der man sich eben nicht nur um Besserverdienende kümmern darf, schien und scheint uns wichtig zu sein.

MUT: Sie haben den Mitgliederentscheid angesprochen, den die F.D.P. eingeführt hat. In dem Programmentwurf ist auch die Rede von mehr und besserer innerparteilicher Demokratie. Meinen Sie, daß die Themen, die heute für die F.D.P. im Vordergrund stehen, eben Wirtschaftsthemen, mit dem Ziel „Mehr innerparteiliche Demokratie“ zusammenpassen?

Hirsch: Ich bin skeptisch in der Frage, ob ein Mitgliederentscheid zu richtigeren Ergebnissen führt als andere Entscheidungsmechanismen. Das haben wir beim Lauschangriff vorexerziert mit einem Ergebnis, das ich für im höchsten Maße bedauerlich halte. Aber man kann auf Dauer keine Politik machen gegen die Überzeugung der Bürger. Und solche Formen direkter Demokratie oder Mitwirkung haben nicht nur das Ziel, eine richtige Entscheidung zu treffen – was ist schon richtig! –, sondern eine Entscheidung zu treffen, die akzeptiert wird, die Gültigkeit hat, die zum Rechtsfrieden in einer Debatte innerhalb einer politischen Gruppierung führen kann. Nun muß man fragen: Welche Themen stehen denn an? Ich denke, daß wir einen Mitgliederentscheid machen werden zu der Frage: Wehrpflicht ja oder nein? Wenn man sagt, wir wollen die Mitglieder mehr an Entscheidungen heranführen, ohne daß sie deswegen Politiker werden müssen, dann muß man das ohne Angst tun und muß sagen: Laßt uns öfter und offener um bestimmte Entscheidungen kämpfen.

MUT: Ich habe den Eindruck, daß Themen häufig wirkliche Probleme verdecken, daß etwa die Arbeitslosigkeit häufig marginalisiert wird. Mir scheint dahinter eine Art Kapitulation vor diesen Problemen zu stecken. Man buhlt um die Stimmen der neunzig Prozent, denen es gutgeht, für die anderen zehn Prozent kann man eigentlich nichts tun. Ist das nicht eine Kapitulation der Politik, und ist das nicht auch das Ende dessen, was früher einmal sozialer Liberalismus genannt worden ist?

Hirsch: Mich überrascht Ihre Schlußfrage, die sich jetzt wieder auf den sozialen Liberalismus bezieht. Es ist ja nicht so, daß die Fragen Arbeitslosigkeit, Ausbildungsplätze, Sozialleistungen, vernachlässigt würden, im Gegenteil. Steuerreform, Deregulierung, weg von der weiteren Verschuldung, das sind ja alles Überlegungen, die gerade im Zusammenhang mit diesen Themen angestellt werden. Es kann sein, daß jemand sagt: Eure Antworten sind falsch. Aber daß die Themen verdrängt werden, das kann ich nicht finden. Die Vertreter der Regierung handeln nicht so, als hätten wir sozusagen eine gespaltene Gesellschaft, nach dem Motto: Man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht. Im Bundestag sind sich alle der Tatsache bewußt daß die hohe Arbeitslosigkeit und der Mangel an Ausbildungsplätzen nicht akzeptabel und das politische Kernproblem sind, dem wir uns gegenübersehen. Ich wiederhole: Es ist durchaus akzeptabel zu sagen, die Antworten, die die eine oder andere Fraktion gibt, sind falsch. Ich bin auch nicht mit allen Antworten einverstanden, die wir geben, habe meine Zweifel, ob das reichen wird. Aber den prinzipiellen Vorbehalt teile ich nicht.

MUT: Zur letzten Frage, die nicht mehr so ganz ernst gemeint ist. Obwohl ich seinerzeit das Gefühl hatte, daß Sie es doch durchaus sehr ernst genommen haben: Sie waren gegen die Reichstagsverhüllung. Mich hat sehr beeindruckt, mit welcher Ernsthaftigkeit Sie dagegen gesprochen haben. Nun ist dieses Projekt doch ein weltweiter Erfolg geworden. Wie stehen Sie heute dazu?

Hirsch: Unverändert. Ich halte das, was dort bejubelt worden ist, für Gebrauchsgrafik und nicht für Kunst. Aber unabhängig davon – über Kunst kann man ja unendlich streiten – ist der Einwand ein prinzipieller. Ich glaube, daß der Reichstag nach seiner Architektur, nach seiner Lage in Berlin, nach der Geschichte, die sich in und um ihn herum abgespielt hat, ein Gebäude und ein Symbol ist, eine Res extra commercium, die privaten Vergnügen nicht zur Verfügung steht. Und ich könnte mir nur schwer vorstellen, daß die Amerikaner bereit gewesen wären, das Kapitol zu verhüllen und zu verpacken, die Engländer das Parliament Building und die Franzosen das Palais Bourbon. Das hätten sie sicherlich nicht tun wollen. Ich könnte mir auch vorstellen, daß die Katholiken im Rheinland sich empören würden, wenn einer vorschlüge, den Kölner Dom zu verpacken. Weil man sagt, dafür ist er nicht da. Ich sehe das inzwischen insofern ein bißchen gelassener, als von dem Reichstag ohnehin nichts mehr übriggeblieben ist. Wenn Sie sich heute den Zustand des Reichstagsgebäudes ansehen, dann ist außer den Außenmauern nichts mehr stehengeblieben. Das heißt, die Architekten haben es gründlicher zerstört als die Russen nach 1945. Aber ich habe die Verhüllung als eine außergewöhnliche Stillosigkeit empfunden und empfinde das auch heute noch so.

MUT: Danke schön für dieses Gespräch Herr Dr. Hirsch.