Die Zukunft der Freiheit
Bedarf es angesichts der überbordenden Probleme von Schuldenlast, Arbeitslosigkeit und Überforderung unserer sozialen Sicherungssysteme überhaupt des Nachdenkens zum Beispiel über die Freiheit und über die Grundwerte und ihre aktuelle Bedeutung? Müssen wir nicht vielmehr auf die Effektivität politischer Maßnahmen setzen, auf den „output“, wie man es nennt, statt nach gesellschaftlichen Wertvorstellungen zu fragen? Horst Wolfgang Boger vom Liberalen Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung zum Beispiel bietet im Bezug auf eine erfolgversprechende Bildungspolitik folgendes Rezept an: „Grundsätzlich sollte an die Stelle der bislang praktizierten Input-Orientierung eine konsequente Output-Orientierung treten.“ Solche Sätze führen bei jemandem wie mir, der ein reflektiertes freiheitliches Fundament unserer Staats- und Gesellschaftsordnung gerade in Krisenzeiten für unabdingbar hält, fast zu einem schlechten Gewissen. Darf man überhaupt noch angesichts scheinbar viel wichtigerer Aufgaben über Grundsätzliches nachdenken? Über freiheitlichen Input und liberale Gesinnung zum Beispiel? Nachdem ich der Stimme meines Gewissens redlich gelauscht habe, komme ich aber doch zu der Überzeugung: Man darf. Ja, muß man nicht sogar, damit wir nicht auf die schiefe Bahn geraten und, zum Beispiel, den Rattenfängerklängen angeblich starker Männer oder Frauen, starker Vereinfacher oder Einflüsterer verfallen? Den wohlfeilen Rezepten demagogisch geschulter Ideologen? Jedenfalls sollte in Deutschland die Vergangenheit, aus der wir Lehren ziehen können, eigentlich noch nicht außerhalb der Wahrnehmungsweite sein.
Ich persönlich bin, ich gestehe es gern, nach wie vor Anhänger der Maihoferschen Grundwerte-Theorie aus den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Der Satz „Im Zweifel für die Freiheit“ scheint mir nach wir vor grundsätzlich richtige Orientierung zu geben. Von hier aus kann man in vielen politischen Fragen die liberale Richtung festlegen. Wenn es auch nicht immer leicht ist: wir müssen in jeder Einzelfrage den Freiheitsbegriff konkretisieren – vor allem müssen wir ihn von der Beliebigkeit unterscheiden, mit der er häufig absichtsvoll verwechselt wird.
Traditionell geht die liberale Programmatik von dem Begriffspaar Freiheit und Verantwortung aus. Wobei eigentlich spätestens seit Immanuel Kant klar sein dürfte, daß Verantwortung immer nur aus individueller Freiheit, aus persönlicher Autonomie, resultieren kann und deshalb stets mit realisierter Freiheit verbunden ist. Aber es ist sicher politisch nicht falsch, beide Begriffe zu betonen. Maihofer hat darauf hingewiesen, daß der verantwortliche Umgang mit individueller Freiheit in einer demokratischen Gesellschaft nur dann funktionieren kann, wenn auch die Begriffe Gleichheit, also gewissermaßen der staatliche Bereich, und Brüderlichkeit, der gesellschaftliche Bereich, in ihrer Bedeutung und in ihrem Verhältnis zur Freiheit geklärt sind.
Nun kann man sich auf den Standpunkt stellen, die Geltung der Brüderlichkeit oder der gesellschaftlichen Solidarität sei durch die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips hinreichend zu gewährleisten. Was uns allerdings nicht der Notwendigkeit enthebt, im einzelnen festzulegen, auf welchen Gebieten die gesellschaftlichen Organisationen tätig werden und der Staat sich zurückhalten soll und auf welchen nicht. Und diese Problematik führt uns unmittelbar zum Begriff der Gleichheit oder der Gerechtigkeit. Wo und wie muß der Staat für Gerechtigkeit sorgen, damit die Subsidiarität funktioniert? Es kann ja nicht sein, daß die Menschen der fürsorglichen Belagerung durch den Staat enthoben, dafür aber der Bevormundung durch große gesellschaftliche Interessengruppen anheimgegeben werden. Das hieße den Teufel mit Beelzebub austreiben zu wollen.
Gleichheit hat nach liberalem Verständnis mindestens drei Komponenten: Zum einen geht es um die politische Gleichheit, die vor allem durch die Meinungsfreiheit und durch das allgemeine, freie und gleiche Wahlrecht gewährleistet ist; vielleicht können oder müssen auch noch plebiszitäre Elemente anderer Art hinzukommen; das ändert aber nichts daran, daß die politische Gleichheit grundsätzlich realisiert ist. Dann zum zweiten die rechtliche Gleichheit, die Gleichheit vor dem Gesetz, die bei uns mindestens auf dem Papier gewährleistet ist, wenn es in der Praxis auch manche Probleme damit gibt. Und schließlich die soziale Gleichheit, die Gleichheit der Chancen oder der Startchancen, um die es vor allem bei Liberalen immer wieder heftigste Diskussionen gibt.
Wie weit muß der Staat regulierend tätig werden, damit der soziale Aspekt der Gleichheit als Voraussetzung zur Möglichkeit, Freiheit wirklich verantwortlich ausüben zu können, hinreichend und für jedermann gesichert ist? Ich behaupte, daß die Liberalen es bis heute nicht geschafft haben, diese Frage überzeugend zu beantworten und daß darin ein wesentlicher Grund dafür liegt, daß große Teile der Öffentlichkeit nicht recht wissen, welches Verständnis des Sozialstaates die Liberalen eigentlich haben. Es darf eben nicht nur darum gehen zu postulieren, was der Staat alles nicht tun darf, es muß den Menschen auch gesagt werden, was er denn im einzelnen nach liberaler Auffassung tun muß, damit die Konzeption für eine freie Gesellschaft gleichberechtigter Menschen Wirklichkeit werden kann. Muß er zum Beispiel die Finanzmärkte besser regulieren, damit auf die gierige Privatisierung der Gewinne nicht erneut eine Sozialisierung der mutwillig von gewissenlosen Zockern eingebrockten Verluste folgt? Muß er die Bürgerbeteiligung bei Großprojekten gesetzlich besser sichern, und wenn ja, wozu und bis wohin? Muß er eine materielle Grundsicherung gewährleisten, und wenn ja, wie? Muß er die Bildungsinstitutionen und –konzepte besser auf das Ziel der gleichen Chancen für alle, auch für die sozial Schwachen, abstimmen, welche Ebene des Staates muß dies tun, und wenn sie es tun muß, wie weit und auf welche Weise? Was bedeutet überhaupt: gleiche Chancen? Muß der Staat nur einmal zu Beginn einer Lebenskarriere die Gleichheit gewährleisten und die Menschen dann in die eigene Verantwortung entlassen, oder muß er auch eingreifen, wenn im Wettlauf der Konkurrenten einzelne Menschen aus welchen Gründen immer hoffnungslos zurückbleiben?
Es geht also darum, wie Raymond Aron es in der Auseinandersetzung mit Marx beschrieben hat, nicht nur die formelle Freiheit, also die entsprechenden Verfassungsrechte zu gewährleisten, sondern die Bedingungen zu schaffen, unter denen möglichst viele Menschen einen möglichst hohen Grad reeller Freiheit genießen können. Mit Rückgriff auf Felix E. Oppenheim schreibt Aron Folgendes: „Gesellschaftliche und politische Gleichheit schließt ökonomische Gleichheit keineswegs ein, aber sie erheischt eine Einrichtung der Gesellschaft, die die Gewähr dafür bietet, daß alle Individuen über ein ausreichendes Einkommen verfügen, damit sie sich nicht aus Gründen wirtschaftlichen Elends oder mangelnder Bildung aus der Gemeinschaft ausgeschlossen fühlen.“ Dies sieht Aron als Voraussetzung dafür an, reelle Freiheit in der Gesellschaft herzustellen. Und diese Voraussetzung hat seiner Meinung nach der Staat in geeigneter Weise zu gewährleisten. Ralf Dahrendorf sieht es übrigens in seinem Buch „Auf der Suche nach einer neuen Ordnung“ ähnlich: Er spricht von einer „Grundausstattung an Lebenschancen, die im Prinzip allen, also jedem Menschen zusteht“.
Um das Problem der sozialen Chancen im Bezug auf den ökonomischen Bereich zu illustrieren: In der Freiburger Schule sowie bei Alfred Müller-Armack und Ludwig Erhard ging man davon aus, daß vom Staat dreierlei zu leisten sei, damit die soziale Marktwirtschaft funktioniert: Zum einen die Garantie des rechtlichen Ordnungsrahmens, zum zweiten die Sicherung des Wettbewerbs und zum dritten der soziale Ausgleich, der in unserem Grundgesetz durch das sogenannte Sozialstaatsprinzip seinen Ausdruck findet und den viele für den Kitt halten, der die Stabilität unserer staatlichen Ordnung gewährleistet. Über die ersten beiden Punkte dürfte es unter Liberalen keinen Dissens geben, beim dritten aber gibt es wiederum keine rechte Klarheit. Wie weit muß der soziale Ausgleich gehen? Was ist eigentlich sinnvollerweise darunter zu verstehen? Muß er überhaupt sein? Und wenn ja, wo liegen vernünftigerweise die Obergrenzen etwa für die Sozialleistungen? Wo ist Solidarität zum Beispiel in Form des Länder-Finanzausgleiches nötig und wo behindert sie eher die Effektivität? Welche staatlichen Eingriffe zur Herstellung reeller Freiheit sind noch für einen Liberalen hinnehmbar und welche nicht mehr? Und schließlich: Ist reelle Freiheit überhaupt durch staatliche Organisation von Solidarität herzustellen?
Ich meine, daß alle verantwortlich denkenden und handelnden Staatsbürger gerade in einer Situation, in der viele Leistungssysteme des Staates nicht mehr tragen, das Ihre beitragen müssen, um der mit Fug und Recht zu fordernden Solidarität zu genügen. Wir müssen das schuldentreibende System der staatlichen Subventionen entschlacken, das ist keine Frage mehr. Aber wir müssen Subventionen überall dort streichen, wo sie überflüssig oder gar schädlich sind, nicht nur dort, wo stets andere betroffen sind. „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß“, das war schon immer die falsche Parole und ist es in Schuldenzeiten erst recht. Im Wohnungsbau, im Bergbau, bei den Berufspendlern und den Nachtarbeitern, im Agrarbereich und bei der Kultur – überall müssen wir uns einschränken, damit die Versorgungsmentalität durch ökonomische Vernunft ersetzt wird. Dies zu akzeptieren, und zwar jeder in seinem Leidensbereich, bedeutet aktive Solidarität für die freie Gesellschaft.
Ein anderes wichtiges Thema ist die Problematik der Toleranz in einer freien Gesellschaft, die zum Beispiel dann eine wichtige Rolle spielt, wenn es um den Einfluß der Religion auf die Politik geht, wie ihn zum Beispiel Muslime mit der Scharia, dem umfassenden religiösen Gesetz, fordern. Toleranz hängt nach liberaler Auffassung mit Freiheit eng zusammen. Ich kann meine Freiheit nur verwirklichen, wenn meine Mitmenschen mich in meiner Eigenart tolerieren. Natürlich im Rahmen der Gesetze und nach dem Satz von Friedrich Naumann: „Die Freiheit des Einzelnen hört dort auf, wo die Freiheit des anderen, des Nächsten anfängt.“ Andererseits scheint mir die Feststellung wichtig zu sein, daß Toleranz kein einseitiges Geschäft ist. Diejenigen zu tolerieren, die ihrerseits nicht gewillt sind, Andersdenkende gleichberechtigt zu behandeln; die für sich und ihr Handeln Akzeptanz fordern, aber keine fremden Götter neben ihren eigenen dulden, hieße die Rolle des nützlichen Idioten einzunehmen, wie Lenin es so treffend bezeichnet hat.
Mir scheint, daß im Umgang unterschiedlicher Kulturen, Religionen und Ideologien miteinander hier manche Mißverständnisse entstanden sind, die erst allmählich, vor allem vor dem Hintergrund des fundamentalistischen Terrors, sichtbar werden. Ich halte es jedenfalls für unabdingbar, daß für alle Menschen, die in einer rechtsstaatlichen, liberalen Demokratie leben, die Grundrechte ohne Abstriche zu gelten haben. Minderheitenschutz kann nicht bedeuten, daß einer bestimmten Gruppe in der Gesellschaft, nur weil sie zum Beispiel aufgrund ihrer Religion danach verlangen, Ausnahmeregelungen zugestanden werden, die fundamentale Rechte außer Kraft setzen.
Mit hohem Respekt habe ich zur Kenntnis genommen, daß für die holländischen Liberalen, die VVD, vor einigen Jahren eine Frau in das Parlament gewählt wurde, die ihrerseits unter Diskriminierung gelitten hat und vor ihr fliehen mußte (sie wurde als Muslimin von ihrer Familie an einen Mann verheiratet, den sie gar nicht kannte, weil der Koran dies angeblich zuläßt), ja, die im Zusammenhang mit dem Mord an dem Regisseur Theo van Gogh ihrerseits Morddrohungen ausgesetzt ist und die dennoch kompromißlos die Achtung der Menschenrechte von allen fordert, die in den Niederlanden leben wollen, auch wenn ihre Religion dies vor allem im Bezug auf die Gleichberechtigung der Frau angeblich anders vorsieht. Ich meine Ayan Hirsi Ali, die durch ihr Buch „Ich klage an. Plädoyer für die muslimischen Frauen“ weltweite Bekanntheit erreichte. Inzwischen gehört sie dem Parlament nicht mehr an, muß sich aber mit Bodyguards umgeben, damit sie vor mordgierigen Nachstellungen geschützt ist.
Es würde den deutschen Liberalen sicher gut anstehen, wenn sie stets mit der gleichen Entschiedenheit für die Grundrechte eintreten und nicht aus falsch verstandener Toleranz hinnehmen, daß zum Beispiel mitten in unserer Gesellschaft Gebilde entstehen, ähnlich wie seinerzeit der Kölner Kalifats-Staat, die es darauf abgesehen haben, unsere liberale Gesellschaftsordnung zu unterminieren und am Ende zu beseitigen. In rechtsreaktionären Sumpfgebieten unseres Landes, nicht nur in Zwickau, haben sich viel zu viele solcher Gebilde etabliert, und wir tun viel zu wenig dagegen. Ich finde es im außenpolitischen Bereich auch nicht verwerflich, wenn man von einem muslimischen Partner-Land, etwa der Türkei, fordert, daß dort genauso das Glockengeläut christlicher Kirchen erlaubt sein muß wie bei uns das Gebet des Muezzin, damit wir zum Beispiel im Rahmen der Europäischen Union echte Partner werden können. (Wenn ich auch, das will ich nur am Rande bemerken, dem Glockengeläut grundsätzlich skeptisch gegenüberstehe. Jeder, der mal in Münster gelebt hat, wird das verstehen.)
Ich meine, wir sollten auch mit muslimischen Partnern über die Notwendigkeit diskutieren können, wo nötig die Aufklärung nachzuholen, damit ein tolerantes Miteinander möglich wird. Im übrigen möchte ich auf das Buch von Dirk Maxeiner und Michael Miersch „Die Zukunft und ihre Feinde“ hinweisen und dort auf das Kapitel „Die erfolgreiche Mission der Gotteskrieger“. Gegen vieles andere in diesem Buch habe ich durchaus Vorbehalte, aber was den leichtfertigen und einseitigen Umgang mit der Toleranz angeht, so kann man viel besser als im genannten Kapitel nicht darüber schreiben. Ich meinerseits möchte mich der Formulierung des holländischen Literaten Harry Mulisch anschließen, der gesagt hat: „Es ist dumm, wenn man seinen Gegner behandelt, als wäre er ein Feind. Aber es ist lebensgefährlich, wenn man einen Feind behandelt, als sei er nur ein Gegner.“
Nach wie vor gilt, daß die Zeiten eigentlich günstig sind für liberale Politik. Wir müssen indessen die geeigneten Wege finden, die liberalen Rezepte an den Mann und die Frau zu bringen. Es stärkt unsere Position nicht, wenn wir die Menschen nur verschrecken, weil die liberale Sozialpolitik mit sozialer Kälte verwechselt wird und weil die Betonung des Leistungsgedankens uns in den Verdacht der Klientelpartei für die Bessergestellten in der Gesellschaft bringt. Wir müssen argumentieren statt leere Parolen vorzutragen. Wenn es in Schweden mit seiner langen sozialdemokratischen Tradition möglich war, den Versorgungsstaat zu beschneiden und den Menschen mehr Verantwortung für ihr Leben zu übertragen, warum sollten wir es nicht können? Und wenn es in Finnland möglich ist, eine faire soziale Balance für alle Menschen zu schaffen, warum dann nicht auch bei uns?
Zuletzt gestatten Sie mir noch, wie es sich gehört, den angemessenen Schlußjubler. Ich habe mir zu diesem Zweck ein Zitat von Thomas Dehler ausgesucht. In seinem Text „Das liberale Leitbild“ heißt es: „Es gibt nur eines: das mutige Bekenntnis zu den liberalen Wahrheiten, wirtschaftliche Macht und Eigentum in möglichst vielen Händen, Mißtrauen gegen alle dunklen Mächte, Verteidigung der Freiheit mit Klauen und Zähnen, Einsatz für die Sache der Freiheit mit der Zuversicht, der Glaubenskraft, dem Elan, die sie verdient. Ohne Leidenschaft wird in der Welt nichts bewegt, auch nichts behauptet. Freiheiten werden nicht wie Pensionsrechte gewährt, sie müssen immer wieder errungen werden. Unsere vordringliche Aufgabe ist es, den Menschen deutlich zu machen, was die Freiheitsrechte bedeuten, was sie geistig sind, was sie politisch, wirtschaftlich bedeuten, daß in ihnen die Antworten auf die dringenden Fragen unserer Zeit liegen.“