Leseprobe – Eine Karriere in Deutschland

Obwohl ihm sicher mehr daran gelegen gewesen wäre, die säuberlich beschrifteten Karteikarten für sein Wohnungsinventar neu zu sortieren, raffte er sich doch dazu auf, mit der Mutter den Adventskranz zu kaufen. Schon der Gedanke daran, dass ein Adventskranz nach einer gewissen Zeit zu nadeln beginnt, irritierte ihn. So etwas pflegte die nötige Ordnung durcheinanderzubringen und gab Anlass zu tagelanger Unzufriedenheit. 

Aber schliesslich war sie seine Mutter und streng katholisch. Gegen die Religion selbst hatte er auch gar nichts einzuwenden, sie sorgte immerhin dafür, dass ein grosser Teil der Menschen nicht gänzlich über die Stränge schlug. Einiges aber, was so dazu gehörte, hätte er gern abgeschafft. Zum Beispiel die Adventskränze und Weihnachtsbäume. Nicht, dass er etwas gegen die Gemütlichkeit gehabt hätte, die sie verbreiten, wenn die Kerzen brennen und die frischen Nadeln nach Harz riechen. Aber er war mehr für eine geplante Gemütlichkeit – möglichst geplant bis in die Eventualfälle der Begleit-und Nebenerscheinungen. 

Nun, jedenfalls hatte er sich entschlossen, mit seiner Mutter in die Stadt zu fahren und den Adventskranz zu besorgen. Sie wusste genau, dass er es nicht liebte, beim Fahren eine Unterhaltung zu führen. Er hatte sich zu konzentrieren. Und er war der festen Meinung, dass, wenn alle anderen Verkehrsteilnehmer dies auch tun würden, es dann wesentlich weniger Unfälle, weniger Tote gäbe. In diesem Zusammenhang hatte ihn eine Meldung in der Tageszeitung irritiert, die sagte, auch die Leistungen für Unfälle, zum Beispiel die Arbeit der Krankenhäuser, gingen in die Zahlen des Wirtschaftswachstums und des Bruttosozialprodukts ein. An das Wachstum glaubte er. Fortschritt war für ihn nur möglich durch Wachstum. Und ebenso wie sich das Wachstum in Zahlen ausdrückte, drückte sich auch der Fortschritt selbst im Wesentlichen durch Zahlen aus. Beispielsweise durch die PS-Stärke und den Hubraum seines Autos. Aber dass die Zahlen des Wachstums auch beeinflusst wurden durch die Zahl von Toten, von Unfalltoten, diesen Gedanken verdrängte er lieber. 

Wenn die Mutter beim Autofahren redete, über die Schwierigkeiten im Haushalt oder über den letzten Besuch bei einem Onkel, das kreidete er ihr an, denn dies Verhalten trug schliesslich auch zur Zahl der Verkehrstoten bei. Tagsüber setzte er sich dann meist die Sonnenbrille auf, um signifikant klar zu machen, dass er sich von äusserlichen Einflüssen freihalten müsse. Er antwortete der Mutter nicht, was zum Glück fast immer dazu führte dass auch sie nach wenigen Minuten schwieg. Er fürchtete, dass er – wenn diese Schutzmassnahmen nicht fruchteten – ihr einmal die Notwendigkeit klarmachen müsste, warum sie zu schweigen und er sich zu konzentrieren hatte. Und dies, so meinte er, müsste doch jeder begreifen, ohne dass man es ihm eigens klarmachen musste. Überflüssige Dispute hasste er. Als ob man sich nach Jahrhunderten der Aufklärung und bei ständig sich ausweitenden Leistungen der Wissenschaft noch über Selbstverständlichkeiten unterhalten müsste! In den Fällen, wo dies tatsächlich nötig war, konnte es sich nur um Kinder, Dummköpfe oder Ignoranten handeln. 

Und was die Mutter anging: sie war leider eine alte Frau, bei der Einsicht und Besserung nicht mehr zu erwarten waren. Es fiel ihm schwer genug, sich damit abzufinden, dass gerade sie seine Mutter war. Aber irgendwie mochte er sie, das gestand er sich zwar ungern ein, aber es kam immer wieder durch. Wenn er gefragt worden wäre, hätte er lieber geantwortet, dass die Familie schliesslich die Basis der gesellschaftlichen Ordnung darstelle, und dass jeder, der sich nicht mit ihr identifiziere, zur Unterhöhlung dieser Ordnung beitrage. Zum Glück hatte er mit den anderen Familienmitgliedern – Onkeln, Tanten, Vettern und Cousinen – kaum noch Verbindung. Man war räumlich weit voneinander getrennt, was auch eine Distanz in den familiären Beziehungen mit sich brachte. Es war ihm klar, dass er zu einer kleinen Gruppe der Gesellschaft gehörte, einer kleinen radikalen Minderheit sozusagen. Die meisten Leute pflegten den alltäglichen Schlendrian. Und wenn er einmal darüber sprach, was selten genug vorkam, reizte es ihn durchaus, die Sachlage, durch den Satz zuzuspitzen: Ich bin eine kleine radikale Minderheit. 

Er tat es dann doch nicht; und er führte selten ausführliche Gespräche, obwohl er sich – mit Vorliebe im Bett vor dem Einschlafen – manchmal ganze Reden zurechtlegte, die er eigentlich gern gehalten hätte. Anlass dazu waren meist erlebte Situationen, die ihn ärgerten; Situationen, in denen, durch die mangelhafte Sorgfalt von Personen, Dinge schiefgelaufen waren. Er legte sich dann in Gedanken eine verbale Abqualifizierung dieser Personen zurecht, die sowohl durch logischen Aufbau als auch durch die nach seiner Meinung daraus folgende sprachliche Brillanz überzeugen musste. Manchmal konnte er bei diesen gedanklichen Übungen geradezu ins Schwärmen kommen. Er verliebte sich dann in seine eigene Argumentations- und Sprachgewalt. Obwohl er einen Vergleich mit Martin Luther oder Calvin doch für ein wenig anmassend hielt, lag er ihm eigentlich nicht so fern. Es gefiel ihm, sich als Ketzer zu verstehen, als Ketzer gegen den allgemeinen Zustand der Gesellschaft und das ungeordnete Bewusstsein der meisten Menschen. Wenn er sich allerdings fragte, welche Folgerungen er daraus ziehen, welche Mittel und Wege zur Verbesserung dieses Zustandes er vorschlagen sollte, dann wurde er etwas unsicher. Eigentlich hätte er gern autoritäre Methoden vorgeschlagen, radikale Erziehungs- und Verhaltensänderungsmassnahmen von Staats wegen. Andererseits hatte er Angst, in den Geruch eines Demokratiegegners und Diktaturfreundes zu kommen. Die böse Vergangenheit der Deutschen lastete natürlich auch auf ihm; aber eigentlich …

Jedenfalls stand für ihn fest, dass es so auch nicht ging. Das einzige, was ihn an der jetzigen Ordnung, die er in Anführungszeichen geschrieben hätte, freute, war der technische Fortschritt, die Computertechnik und die Raumfahrt zum Beispiel. Hier schien eine Entwicklung Raum zu greifen, die dem menschlichen Irrtum und der selbstverschuldeten Unordnung entgegenwirkte. Wenn er in der Presse oder im Fernsehen Bilder der sauber und ordentlich montierten Schalttafeln von Computerzentralen sah, fühlte er tiefe Befriedigung. Nichts widerte ihn dagegen mehr an als verlotterte Symbole des technischen Fortschritts, zum Beispiel völlig ungepflegte Autos oder verdreckte Maschinen. 

Immerhin hatte er in dieser Beziehung auf die Mutter inzwischen einen gewissen Einfluss gewonnen. Ihre Küchenmaschinen, die er nach und nach gekauft hatte, hielt sie sauber. Es war für ihn eine Wonne, einfach in der Küchentür zu stehen und die komplette Ausrüstung zu bewundern. Natürlich alles auf dem letzten technischen Stand. Was ihn ärgerte, war, dass seine Mutter ihren Tee noch immer in dem alten Kessel zubereitete, statt mit der elektrischen Teemaschine, wenn er nicht dabei war. Er jedenfalls bestand darauf, dass zum Frühstück und am Wochenende die Maschine benutzt wurde, denn wozu wäre sie sonst nütze gewesen. Den Kritikern einer solchen technischen Küchenausstattung hielt er entgegen, dass es hier nicht nur um Arbeitserleichterung, sondern auch um Energieeinsparung gehe. Überhaupt stiess er gerade bei solchen Leuten immer wieder auf die entschiedensten Widersprüche und Inkonsequenzen. Einerseits wollten sie zum Beispiel zurück zu den alten Methoden der Essenszubereitung – natürlich auf dem Elektroherd-, andererseits redeten sie von der Notwendigkeit, Energie zu sparen. Ein Beweis mehr für die Inkompetenz der meisten Menschen, rational und logisch zu denken und zu handeln. 

Bezeichnend war auch, dass genau diese Menschen Wörter wie Toleranz mit Vorliebe im Munde führten. Sie wollten einfach, dass man sie, ohne einzugreifen, weiterwurschteln liess. Dabei bedachten sie nicht, welchen Schaden die anderen dadurch nahmen. Einigen konnte man sogar mit Fug und Recht unterstellen, dass sie der Gesellschaft den Schaden bewusst zufügten. Das Gerede von der Toleranz war nur darauf gerichtet, sich selbst zu schützen, die selbstverschuldete Unzulänglichkeit weiter kultivieren zu können. Denn im Ernstfall waren gerade sie gegenüber denjenigen, die versuchten, Ordnung in die Gesellschaft zu bringen, überaus intolerant. Dann redeten sie von der Ausweitung organisierter oder institutioneller Macht, von Diktatur oder gar von Staatsterror. Spielregeln zu akzeptieren, was nun einmal sein musste, wenn man, ohne sich totzuschlagen, zusammenleben wollte, dazu waren sie nicht bereit und in der Lage. Im übrigen war es ein grosser Irrtum, wenn gerade diese Leute meinten, die Spielregeln dürften sich nur auf Äusseres beziehen. Wie sollte denn das äussere Zusammenleben klappen, wenn im Inneren der Menschen die Diskrepanzen abgrundtief klafften? 

Versuchte man aber, sie darauf hinzuweisen, dann redeten sie von Gesinnungsschnüffelei oder meinten, man verlange Seelen-Strip-tease von ihnen. Wenn sie ein gutes Gewissen hätten, dann dürften sie ja wohl keine Angst haben, ihre innere Einstellung zu offenbaren. Und was schlimm war an dieser ganzen Sache: Die Medien entblödeten sich in einzelnen Fällen nicht, die Haltung dieser Toleranzler zu unterstützen. An der Mutter konnte er hin und wieder feststellen, welche Wirkung das hatte. Warum man denn nur so hart gegen junge Leute vorgehe, die nicht so ganz auf Staatslinie lägen und zum Beispiel Lehrer werden wollten, hatte sie kürzlich gefragt. Sie hätten doch ein gutes Examen gemacht und sogar zum Teil schon bewiesen, dass sie gute Lehrer wären. Woher anders konnte sie schon solche krausen Ansichten haben als aus den Medien? Er hatte es seit einiger Zeit aufgegeben, mit ihr über solche Dinge und über seine persönlichen Ansichten zu diskutieren. Er liess sie reden und antwortete nicht. Wie beim Autofahren hörte sie dann bald auf. 

Was den Adventskranz anging, so wollte er ihr aber auf jeden Fall noch klarmachen, dass sie für Ordnung und Sauberkeit zu sorgen hätte. Natürlich wollte er ihr den Spass nicht verderben, aber er nahm sich vor, ihr von dem Kollegen zu erzählen, der unter den Kranz eine nicht brennbare Asbestdecke legte, die die Nadeln und heruntertropfendes Wachs auffing. Eigentlich sollte er es zur Bedingung machen, dass eine solche Decke gekauft wurde, schon unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit. Aber so weit wollte er nun doch nicht gehen. Es würde ihm auch so gelingen, sie von der Notwendigkeit der Anschaffung zu überzeugen. 

Wenn er seinen Kollegen A. zitierte, würde ihm das ohnehin einen Vorteil einbringen. Die Mutter hatte ihn nämlich einmal kennengelernt und war sehr von ihm angetan. Das hatte ihn mit Befriedigung erfüllt, denn auch er hielt A. für einen der wenigen Menschen, die mit der richtigen Überzeugung lebten. Sein Ordnungssinn war vorbildlich und seine Abneigung gegen alles, was sich hinter dem Wort Toleranz versteckte, schien genauso stark wie bei ihm selbst. Eigenartigerweise war es ihm aber noch nie gelungen, eine engere Verbindung zu A. herzustellen. Sicher, sie hatten sich gegenseitig das eine oder andere Mal auf ein Gläschen eingeladen, aber sie waren sich nie so recht nahegekommen. Eine gewisse Scheu, sich gegenseitig in ihren Ansichten zu bestärken, stand schemenhaft zwischen ihnen. Allerdings war ihm auch nicht alles geheuer an A. Wie er sich anderen gegenüber benahm, das störte ihn schon. Gegen den höflichen Umgangston hatte er nichts einzuwenden, im Gegenteil, aber dass A. auch mit total anders gearteten Menschen umging, als akzeptiere er sie völlig, ging ihm gegen den Strich. Er hatte es sich angewöhnt, die Leute, mit denen er zu tun hatte, merken zu lassen, wenn er mit ihnen nicht übereinstimmte. Er legte Wert auf Distanz und vermied in solchen Fällen den allzu herzlichen Kontakt. A. dagegen galt überall als freundlicher Mensch, der jedem anderen Verständnis und Toleranz entgegenbrachte. Er kannte ihn anders aus einigen grundsätzlichen Gesprächen, die sie geführt hatten. Und manchmal fragte er sich, ob A. in diesen Gesprächen wohl geschauspielert haben könnte, um ihn nicht zu enttäuschen. Er hielt es jedoch nicht für wahrscheinlich, denn A.s Ordnungsliebe, die an seinem Arbeitsplatz offenkundig wurde, seine korrekte Kleidung und der einwandfreie Leumund sprachen eine deutliche Sprache. Anderes wiederum irritierte ihn in dieser Einschätzung, zum Beispiel die Situation, in der A. folgenden Ausspruch ihm und anderen Kollegen gegenüber anscheinend im Scherz getan hatte: Niemand soll ihm einmal nachsagen können, er sei ein Schreibtischtäter gewesen. So wurde er ein Schreibtischnichtstuer, der die Technik des Däumchendrehens derart perfektionierte, dass er auf einen Ventilator verzichten konnte. – Nicht nur, dass ihm bei diesem Scherz die logische Schlüssigkeit fehlte, er meinte auch, dass man über die Arbeit am Schreibtisch, über ihre Arbeit, nicht so abfällig reden sollte. 

Er jedenfalls nahm seine Arbeit sehr ernst. Und deshalb war es nicht ein Gefühl von eitel Freude, das er empfand, weil A. seiner Mutter gefiel. Aber immerhin, in der jetzigen Situation war er ihm eine Hilfe. Ein so feiner Mensch, pflegte seine Mutter über A. zu sagen, wenn die Sprache auf ihn kam. Nur eines bedauerte sie an A. und gleichermassen an ihrem Sohn: dass sie nicht verheiratet waren und auch keine feste Beziehung, die etwa einem Verlöbnis entsprochen hätte, pflegten. Nicht nur, dass er sich ärgerte über die rührselige Art, mit der seine Mutter oft ihre Sehnsucht nach einem Enkelkind zum Ausdruck brachte, vor allem die Tatsache, dass sie sich in keinem Augenblick ernsthaft mit seiner tatsächlichen Lage auseinandersetzte, störte ihn. Für ihn war es eben nicht nur ein ganz natürlicher Akt, der im Einklang mit dem Rhythmus der Schöpfung stand. Aufwachsen, heiraten, Kinder zeugen, alt werden, sterben – so einfach, wie sich das sagt, war es für ihn nicht. Natürlich hatte er sich seit seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr des öfteren selbst mit diesen Fragen beschäftigt. Und gegen die Familie, die Basis aller gesellschaftlichen Ordnung, hatte er wie gesagt nichts einzuwenden, im Gegenteil. Aber was ihn persönlich betraf, so war die Gründung einer eigenen Familie doch ein ernsthaftes Problem. Nicht, dass es ihm schwer gefallen wäre, eine passende Frau zu finden. Er war ein attraktiver, sportlicher Mann, dessen berufliche Karriere sich sehen lassen konnte. Und es gab durchaus junge Damen, die sich sehr intensiv für ihn interessierten. Jedoch seine Liebschaften hielten sich in Grenzen. Vor einigen Jahren lediglich hatte es einmal eine Beziehung gegeben, die fast ein ganzes Jahr lang dauerte.