Es gibt nicht mehr viele der Dinosaurier, die in den sechziger Jahren die europäische Version des Rock-’n‘-Roll schufen, den britischen Beat vor allem, dessen ursprünglich simplen und eingängigen Texte und Melodien bald die ganze Welt der Pop-Musik eroberten. Eine der ersten und erfolgreichsten Bands, die den Ruhm britischer Rock-Gruppen überall auf dem Globus verbreiteten, waren die Londoner Kinks. Jetzt im Juni 1998 wurde die Formation fünfunddreißig Jahre alt wenn man die Kinks-Vorläufer The Ravens, in der drei der vier späteren Kinks-Musiker spielten, mitzählt), und es gibt sie immer noch ein Rekord, den außer den Rolling Stones niemand ihr streitig machen kann. Im Jahre 1997 veröffentlichten die Kinks zwei DoppelCDs, „To the Bone“ und „the singles collection + the songs of Ray Davies waterloo sunset“. Beide legen alte Titel neu auf, bieten aber auch einige neue Songs. lnteressanter als die zweite Doppel-CD ist „To the Bone“; frei übersetzt kann man das Album als das Bemühen der Gruppe deuten, sich noch einmal auf die Anfänge, die Substanz ihrer Musik zu besinnen. Was ist diese Substanz?
„The Kinks“ – das heißt so etwas wie die schrägen Vögel, die abartigen, unflätigen Kerle, die jede bessere Gesellschaft allein durch ihre Anwesenheit in den Horror treiben. Im Namen schon steckt das Rebellische, die Provokation, die den ursprünglichen Rock-’n‘-Roll mitgeprägt hat; die jugendliche Auflehnung war ein Markenzeichen des britischen Beat, auch wenn schmalzige Liebeslieder der Beatles oder die wohltönenden Herz- und Schmerz-Gesänge eines Cliff Richard ihm viel von dem Aufrührerischen nahmen, das amerikanische Vorbilder von Elvis Presley bis zu Gene Vincent und Eddie Cochran der vitalen, von vorwärts treibenden, ungestümen Rhythmen geprägten Musik gegeben hatten. Die Auflehnung gegen die verklemmte Doppelmoral der Gesellschaft drückte sich zunächst vor allem durch (mehr oder weniger eindeutige) sexuelle Anspielungen in den Songtexten und in den musikalischen Arrangements aus, deren freizügige Botschaften von der jungen Generation bestens verstanden wurden; erst später kamen politische Akzente hinzu, die freilich allzu oft vordergründig und modisch dem jeweiligen Zeitgeist verpflichtet blieben, etwa wenn die Rolling Stones vom „Street Fighting Man“ oder die Beatles von „Revolution“ sangen.
Die Kinks schwammen anfangs durchaus mit im erfolgreichen main stream des vergleichsweise braven und harmlosen britischen Beat, dessen provokativen Beigaben die Musikindustrie und auch die zugewandte Öffentlichkeit meist mit der verständnisvollen Attitüde repressiver Toleranz begegnete; man buchte die Rebellion unter das Konto jugendlichen Überschwangs und integrierte die profitträchtigen neuen Klänge im übrigen flugs in die Palette des Angebotes an vorwiegend seichter Unterhaltungsmusik. Der Bandleader und Songwriter der Kinks, Ray Davies, komponierte vom Blues inspirierte Lieder nach dem eingängigen Schema der drei Kadenz-Akkorde, die vor allem zum Tanzen zum Mitsingen geeignete „Juke-Box-Music“ lieferten. Indessen waren viele der Kinks-Songs von Anfang an wilder, ungestümer, auch lauter als das meiste, was die Konkurrenz zu bieten hatte. Da gab es allenfalls noch die Rolling Stones, die es ihnen gleich taten. Der erste große Kinks-Hit, aufgenommen im Juli 1964, hieß „You really got me“. Bis heute ist er einer ihrer größten internationalen Erfolge, der über die Jahre vor allem von Heavy-Metal- und Hard-Rock-Gruppen neu aufgegriffen und in immer anderen Variationen nachgespielt wurde.
Mitte bis Ende der Sechziger folgten diesem Hit eine Reihe anderer, die ähnlich angelegt waren und deren Texte das ewig alte und neue Thema jugendlicher Liebe in recht simpler Form behandelten, „Till the End of the Day“ etwa oder „Tired of Waiting for You“ und „All Day and all of the Night“. Eines jedoch fällt von Anfang an auf: Es geht schon in den frühen Liedern um die zornige Sehnsucht, sich zu befreien von den überkommenen Moralvorstellungen des (Klein)Bürgertums, die Liebe aus den überholten Ritualen der Eltern-Generation zu erlösen. Auch dies Motiv teilten die Kinks indessen mit manch anderer Band; was sie von ihnen unterschied, waren der durchgängig rauhere Sound und die unverwechselbare Stimme ihres Lead-Sängers Ray Davies, meist im Duett mit seinem jüngeren Bruder Dave, der die Solo-Gitarre spielt und dessen schriller, quäkiger Tenor sich ausgezeichnet für den Background eignet.
Während aber die meisten anderen Bands nicht nur in England bei jenem eher seichten und auf die Dauer phantasielosen Motiv jugendlicher, romantischer Sehnsucht nach der Befreiung der Liebe stehenblieben, wandte sich Ray Davies schon früh seinem zentralen Anliegen zu, dem er bis heute verbunden bleibt: der Charakterisierung und Karikierung des britischen Kleinbürgertums, dessen Fundamente im Laufe der Nachkriegsjahre einer schleichenden Erosion ausgesetzt wurden, weil die ehemals relativ sichere Existenz etwa der kleinen Angestellten und Beamten durch die industrielle Entwicklung und ihre Rationalisierungen immer stärker gefährdet wurde, bis die wuchernde Krise in den Siebzigern nirgends mehr zu übersehen war und schmerzliche Einschnitte in die traditionelle Gesellschaftsstruktur notwendig machte, von denen sich die Engländer erst heute allmählich erholen. (Andere Länder, auch Deutschland, haben inzwischen ähnliche Erfahrungen machen müssen, ohne daß freilich ähnlich anspruchsvolle Reflexionen darüber in ihrer Pop-Musik zu finden wären.) Ray Davies hat diese Entwicklung mit seinen Liedern begleitet, wobei er ein durchaus ambivalentes Verhältnis zum Kleinbürgertum seines Landes, dem er selbst entstammt, artikulierte: Der Sympathie für die Kleinen Leute, denen es immer schwerer (gemacht) wurde, das materielle Niveau ihrer Existenz und damit ihre meist konservativen Wertvorstellungen zu retten, stehen Hohn und beißender Spott für die Spießbürger gegenüber, denen die trivialen Symbole ihres Status und die egoistische Orientierung am Geldscheffeln wichtiger sind als der Zusammenhalt des Gemeinwesens und die Solidarität mit den Underdogs – von zivilisierter Sensibilität für eine kreative, lebendige Kultur ganz zu schweigen.
Ray Davies schrieb unvergeßliche Lieder, die stets aufs neue diese widerstreitenden
Motive zum Inhalt haben: von dem frühen Titel „A Well respected Man“ (Juli 1965), der ironisch den Alltag eines kleinen Angestellten nachzeichnet, bis hin zu der ersten britischen Rock-Oper „Arthur or the Decline and Fall of the British Empire“ (Oktober 1969), die noch vor den berühmten Konzept-Alben der Who, „Tommy“ und „Quadrophenia“, die Fixierung der Rock-Musik auf einzelne meist kurze Lieder aufgab und eine ganze oder später gar mehrere Langspielplatten einem in sich geschlossenen inhaltlichen Anliegen verpflichtete. Ihre Vollendung fand diese Arbeit von Ray Davies in den beiden großartigen Alben „Preservation Act I“ (November 1973) und „Act II“ (Mai 1974), die das Aufeinanderprallen der Gegensätze in einer Gesellschaft zeigen, die von egoistischen, teils kriminellen Interessen beherrscht und nur noch zum Schein von einer gemeinsamen Kultur zusammengehalten wird – diese findet in England nach Ray Davies (nicht ohne schelmisches Augenzwinkern) eines ihrer anschaulichsten Symbole im sakrosankten
Cricket-Spiel („it has honour, it has character and it’s british“!).
Eines seiner besten Lieder in diesem thematischen Zusammenhang, das die Orientierungs- und Perspektivlosigkeit des britischen Kleinbürgertums der sechziger und siebziger Jahre in grelles Licht taucht, ist „Dead End Street“ (Mai 1966) mit seiner desillusionierenden Quintessenz: „What are we living for? Two-roomed apartment on the second floor.“ Später, als Maggie Thatcher der britischen Gesellschaft eine ökonomische Radikalkur verabreichte, griffen Davies und die Kinks auch diese politische Tendenz auf mit ihrem vorzüglichen, musikalisch einen Höhepunkt markierenden Album „Low Budget“ (Juli 1979), dessen Lieder, wieder nicht ohne Ironie und Kritik, den rigiden Sparkurs der britischen Regierung aufs Korn nahmen. Und nach der „Europäischen Revolution“ von 1990/91 ließ sich der unbestechliche Beobachter Davies keineswegs von kurzfristiger Euphorie blenden; vielmehr sang er von „aggravation“, von einer Verschlimmerung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse, die Folge des Zusammenbruches im Osten sein werde, deren Keime indes schon in der bipolaren Nachkriegsordnung für Europa Ende der vierziger Jahre gelegt worden wären. Die kritische Beobachtung seiner näheren und weiteren Umgebung ist überhaupt die Grundlage der Davies’schen Musik: „Every day I look at the world from my window“, heißt es in seinem Song „Waterloo Sunset“.
Die magischen Jahre 1967/68, als die Beatles „Sergeant Pepper“ aufnahmen, kennzeichnen eine Art qualitativen Sprung in der Rock-Musik, was den künstlerischen Gehalt vieler nun folgender Produktionen angeht. Die Kinks hatten schon vorher musikalisch und textlich anspruchsvollere Titel veröffentlicht, die gleichwohl Welt-Hits wurden. Mit ihrem Album „Face to Face“ (Oktober 1966) hatten sie den Grundstein für eine kunstvollere Musik gelegt, ohne freilich den harten Rock-’n‘-Roll deshalb aufzugeben. Zeitlosen Glanz haben aus dieser Periode zum Beispiel ihre Singles „Waterloo Sunset“ (April 1967) und „Autumn Almanac“ (September 1967). Die Palette ihrer Stil-Adaptionen wurde nun immer breiter: von Vaudeville-Klängen über Jazz-Elemente bis zu mit dem modernen Rap verwandten Sprech-Gesängen floß reichhaltiges Material in ihre Kompositionen und Konzerte ein. Weil dieser für eine Rock-Gruppe macht gerade alltägliche Weg zunächst noch von gelegentlichen „Ohrwürmern“ flankiert wurde, die die Serie der Welt-Hits fortsetzten (am eindrucksvollsten von ihrem Titel „Lola“, April 1970, des Liebesliedes auf einen Transvestiten), blieb das Gros der Fans den Kinks vorläufig treu. Diese Treue schwand jedoch, je weiter sich die Band von eingängiger „Juke-Box-Music“ entfernte. Ende der Siebziger schließlich war ein Punkt erreicht, an dem die Qualität ihrer Musik zwar unvermindert hoch war, die Popularität der Gruppe indes, zumindest in Europa, mehr und mehr zurückging. Widerwillig warf Ray Davies, auch auf Betreiben seiner Plattenfirma, das Ruder herum und produzierte wieder gefälligere Rock-Titel. Der Langspielplatte, die diese Umkehr markiert, gab er den bezeichnenden Titel „Give the People what they want“ (August 1981). Allerdings waren nun trotz aller Anstrengungen die Zeiten der Welt-Hits vorbei. Für Ray Davies setzte eine Phase der Neurorientierung ein, in der er sich nicht nur als Texter und Komponist für die Kinks, sondern auch als Filmemacher, Musical-Autor und Schriftsteller betätigte. Die Kinks freilich blieben der Mittelpunkt seiner Aktivitäten. Mit dem 1997 erschienenen Doppel-Album „To the Bone“ hatte die Gruppe wieder einen internationalen Erfolg zu verzeichnen, der indessen eher unerwartet kam. Man hatte alte Titel neu aufgenommen, teils im Studio, teils auf großen Live-Konzerten, und, mit zwei neuen Liedern angereichert, auf eine Doppel-CD gepreßt. Der Anklang, den diese Revival-Produktion fand, ist verblüffend. Er zeigt, wie zeitlos die Kinks-Songs geblieben sind und wie unverbraucht ihre nun immerhin die Fünfzig erreicht oder schon überschritten habenden Komponisten und Interpreten.
Dieser Aufsatz wäre allerdings unvollständig und es wäre unfair, wollte man dem jüngeren der beiden Davies-Brüder, Dave, die Reverenz versagen. Vor allem als Solo-Gitarrist hervorgetreten, hat er aber auch einige glänzende Kinks-Titel getextet und komponiert; am berühmtesten wurde der Welt-Hit „Death of a Clown“ (Mai 1967), Insider halten seinen Song „Living on a thin Line“ (September 1984) freilich für seinen besten. Eine Solo-Karriere, die drei zwar erfolglose, aber musikalisch beachtliche Alben zeitigte, mißlang. Also blieb der exzentrische Dave bei den Kinks und kultivierte die Haßliebe zu seinem Bruder, die vor allem in dem von Ray geschriebenen Titel ,,Hatred (A Duet)“ (März 1993) ihren brillanten musikalischen Ausdruck fand. Von der Spannung zwischen den beiden ungleichen Brüdern, die allerdings gelegentlich in der Werbung unziemlich überstrapaziert wurde, lebt auch die Musik der Gruppe: Was Ray melodisch und harmonisch vorgibt, kontrastiert Dave mit seinen harten, harschen und eigenwilligen Gitarren-Soli. Immerhin notierte das allseits angesehene amerikanische Fach-Magazin Sounds ihn dieser Qualitäten wegen in den Achtzigern mehrfach unter den zehn besten Rock-Gitarristen der Welt.
Die beiden Davies-Brüder sind heute die letzten aus dem Gründungs-Quartett von 1963/64 dem außer ihnen der Schlagzeuger Mick Avory und der Bassist Pete Quaife angehörten. In der Zwischenzeit hat die Besetzung häufig gewechselt; in den Siebzigern hatte sie zeitweise nahezu Big-Band-Ausmaße, heute ist sie wieder auf fünf Musiker zusammengeschmolzen. Neben Ray und Dave Davies: Bob Henrit am Schlagzeug, Jim Rodford am Baß und Ian Gibbons an den Key Boards.
Mag sein, daß „To the Bone“ das letzte Album der Kinks ist, das internationalen Ruhm erntet; immer wieder munkelte man in den letzten Jahren vom Ende ihrer Karriere. Allerdings würde es den Autor dieser Zeilen nicht wundern, wenn zukünftig gleichwohl überraschende Erfolge von den alten Herren des britischen Rock-’n‘-Roll zu vermelden wären. Ihr Potential scheint unerschöpflich, und es lohnt sich allemal, den Botschaften der Kinks Gehör zu schenken. Ray Davies hat übrigens ein blitzgescheites Buch mit dem Titel „X-Ray“ geschrieben, das Autobiographisches und Chronologisches zu den Kinks mit einer fiktiven Story über den Musikmarkt und seine Perversionen zu einer Einheit verbindet. (Vorlesungen aus diesem Buch und einige neue Lieder dokumentiert die Ray-Davies-CD „The Storyteller“ von Ende 1997.) Es ist informativer und ergiebiger als das meiste, was sonst an Büchern und Artikeln über die Gruppe veröffentlicht wurde. Inzwischen ist die Anzahl der Publikationen unübersehbar. Das Internet verzeichnet fast 19000 Seiten über-die Kinks. Sogar die alte, konservative Tante FAZ widmet sich in jüngerer Zeit ihrer Musik und flicht ihr Lorbeerkränze – was auch ein Beleg für die unerschütterliche Einschätzung des Autors dieser Zeilen sein mag, daß die anspruchsvollen Rock-Produktionen unserer Zeit (und dazu zählen die meisten Alben der Kinks allemal) im dritten Jahrtausend zur Klassischen Musik der Vergangenheit zählen werden. Wie Mozart und Beethoven den Gipfel ihres Ruhms erst erreichten, als sie längst tot und Legende waren, so werden Rock-Giganten unserer Tage den Zenit ihrer Anerkennung erst in späterer Zeit erreichen, wenn unser Jahrhundert aus größerer Distanz besichtigt werden kann.