Europa neu denken

Die Europäische Union nach der „Ära Delors“

Die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft aller europäischer Staaten, der im Westen wie der im Osten, ist heute die vorrangige Aufgabe jeder nationalen Europa-Politik. Denn die Alternative zur gemeinsamen Zukunft der europäischen Staaten heißt keine Zukunft.

Jacques Sanier

Zu Beginn des Jahres 1995 übernahm Jacques Santer den Kommissionsvorsitz von Jacques Delors, der nach zehnjähriger Amtszeit große Erfolge vorzuweisen hat, sich jedoch auch zu einem Zeitpunkt verabschiedete, an dem die Zukunft der Europäischen Union (EU) nur sehr schwer vorherzusehen ist. Heute über den Zustand der EU zu schreiben bedeutet deshalb in gewisser Weise, ein politisches Paradox nachzuzeichnen: Während sich die mit der Inkraftsetzung des Vertrages von Maastricht besiegelte Integration der Gemeinschaft anscheinend unumkehrbar vollzieht – deutlich sichtbar an den erweiterten Kompetenzen des europäischen Parlamentes, das erstmals in seiner Geschichte etwa der Ernennung der Kommission zustimmen muß -, artikuliert sich noch immer, oder gar immer stärker, selbst in den traditionell europafreundlichen Mitgliedsländern Skepsis vor allem hinsichtlich der Übernahme neuer Kompetenzen durch die europäischen Institutionen. Die Subsidiarität, im Maastrichter Vertrag verankert, hat immer mehr an Bedeutung gewonnen. Seit der deutsche Bundeskanzler dies Zauberwort 1992 auf dem Sondergipfel von Birmingham zur Formel für die Abwehr angeblich wild wuchender Regelungswut der sogenannten Eurokraten in Brüssel erhob, hat es die Solidarität, den anderen Begriff, auf dem die Union fußen soll, weit in den Hintergrund gedrängt.

Die Stimmung in der Europäischen Union

Die letzte repräsentative „Eurobarometer“ Umfrage in allen Mitgliedsländern hatte unter anderem folgendes Ergebnis: Die Befürwortung der EU-Mitgliedschaft ist, nach einem Höchststand vor knapp vier Jahren, konstant rückläufig (Frühjahr 1991: 72 Prozent „EG-Mitgliedschaft ist eine gute Sache“, heute: 54 Prozent). Signifikant ist, daß die „Euroskepsis“ zwar in zunehmendem Maße artikuliert wird, aber nicht auf solche Bereiche durchschlägt, in denen die Vorteile der

Europäischen Union für die einzelnen Bürger spürbar sind. So ist zum Beispiel zu erklären, daß die Funktion des Binnenmarktes nach wie vor mehrheitlich positiv beurteilt wird. Auch bedeutet die sich eher negativ entwickelnde Gefühlshaltung gegenüber der Union nicht, daß man nicht doch ein schnelleres Vorankommen auf dem Weg zur Integration wünscht. Man kann daraus den Schluß ziehen, daß die möglichen positiven Auswirkungen der europäischen Integration auf das Wohlergehen der Bürger durchaus gesehen und anerkannt werden, während die auf nationaler Ebene zu konstatierende Unzufriedenheit mit Politik und Politikern sich gleichzeitig und gleichermaßen auf die europäische Ebene überträgt. Schuld daran mag neben der modischen Renaissance des Nationalen auch das hohe Informationsdefizit tragen, das in der Umfrage in bezug auf die europäische Politik festgestellt wird. Diese Einschätzung wird durch andere Erfahrungen gestützt. In einem Europa-Seminar der Theodor-Heuss-Akademie beispielsweise wurde von den durchaus überdurchschnittlich gut informierten ca. 70 Teilnehmern dennoch mehrheitlich das Gefühl artikuliert, man werde von seiten der EU und nationaler Stellen nicht hinreichend mit Information versorgt. In der Diskussion erklärte sich dieses Gefühl auch dadurch, daß man die EU, vor allem die Kommission in Brüssel, häufig als eine Art unbekannten und bedrohlichen Moloch in der Feme wahrnimmt, der viel zu mächtig sei und deshalb leicht Unheil anrichten könne. Mehr Aufklärungsarbeit im Detail, etwa über die Programme und Maßnahmen der EU sowie über die tatsächlichen Entscheidungsabläufe, täte hier sicher gut. Freilich müßte diese Arbeit schon in der Grundschule ansetzen und danach kontinuierlich weitergeführt werden, um nicht nur auf der kognitiven, sondern auch auf der affektiven Ebene positive Wirkung erzielen zu können.

Interessant ist, daß die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik von der großen Mehrheit der Befragten (75 Prozent) befürwortet wird. Hier spielt sicher der Wunsch nach größerer Wirksamkeit der EU im bezug auf die Befriedung des ehemaligen Jugoslawien eine wichtige Rolle. Diese Interpretation wird auch dadurch gestützt, daß im September 1994 71 Prozent der Befragten in der monatlichen Umfrage der Kommission den Einsatz militärischer Mittel durch die Union zur Absicherung der Transporte humanitärer Hilfsmittel in Bosnien befürworten. Für die Notwendigkeit gemeinsamer Sicherheitspolitik scheint also das Bewußtsein der Bürger weiter entwickelt als auf anderen Gebieten.

Aus einzelnen nationalen Erhebungen zum Beispiel in Deutschland geht indessen hervor, daß die Bürger vor allem aus Furcht vor möglichen negativen Folgen und zusätzlichen Belastungen im wirtschaftlichen Bereich eine „Osterweiterung“ der Union eher negativ sehen, obwohl die Regierung ihr positiv gegenübersteht. Eine Wagenburg-Mentalität der Unions-Mitglieder gegenüber den anderen europäischen Staaten wäre indessen fatal. Der von so vielen Hoffnungen begleitete Demokratisierungs- und Öffnungsprozess in Ost- und Mitteleuropa könnte dadurch ernsthaft gefährdet werden. Um die mancherorts vorhandene Ausgrenzungsmentalität nicht um sich greifen zu lassen, ist auch hier eine intensive Informationsarbeit dringend vonnöten.

Fortschritte bei der Ausbildung einer europäischen Identität der Bürger und Bürgerinnen wären um einer friedlichen Zukunft willen gewiß wünschenswert; um solche Fortschritte zu erreichen, sollte zum Beispiel die in Artikel 128 des Maastrichter Vertrages vorgesehene kulturpolitische Verpflichtung der Union eingelöst und neben anderen Maßnahmen ein entsprechendes grenzüberschreitendes Austauschprogramm eingerichtet werden, das die osteuropäischen Staaten einbeziehen und sich an den Stipendienprogrammen ERASMUS und TEMPUS orientieren könnte. Verständnis und Toleranz füreinander fängt mit besserem Kennenlernen an.

Die EU vor der Regierungskonferenz 1996

Weltweit vernetzen sich die Wirtschaftsräume mehr und mehr. Nicht nur die traditionellen Märkte vertiefen ihre Strukturen, neue Allianzen kommen hinzu oder zeichnen sich ab. Neben Japan und den USA bildet die Europäische Union einen der drei tragenden Pfeiler im weltweiten ökonomischen Gebäude. Im Gegensatz zu den beiden anderen hat Westeuropa bisher jedoch nicht die politische und ökonomische Geschlossenheit, derer es bedürfte, um das gesamte Potential seiner wirtschaftlichen Möglichkeiten entfalten zu können. Schrittweise soll deshalb die Vertiefung der europäischen Integration erfolgen und dadurch der strukturelle Nachteil gegenüber den Hauptkonkurrenten ausgeglichen werden.

War es die Aufgabe des Binnenmarktes, die Voraussetzungen für ökonomische Effizienz zu schaffen, so geht es nun vor allem um die politische Gestaltung der Gemeinschaft. Besonderes Gewicht haben dabei die Elemente der „zweiten und dritten Säule“ der Europäischen Union: der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik. Eine politische Vertiefung erfährt der Integrationsprozeß jedoch auch durch die im Maastrichter Vertrag festgeschriebene Wirtschafts- und Währungsunion. Einerseits bezeichnet sie die Vollendung des gemeinsamen Binnenmarktes, hat also vor allem ökonomische Bedeutung, andererseits jedoch stellt sich ein politisches Signal dar, indem sie den Gesamtzusammenhang der westeuropäischen Integration festigt.

Drei markante kennzeichnen die bisherige Strukturentwicklung der europäischen Integration:

  1. zunehmende Komplexität des politischen Integrationszusammenhanges;
  2. Ausweitung materieller Zuständigkeiten;
  3. Ausweitung der Rechte des Europäischen Parlamentes.

Zu 1.: Folge der „Drei-Säulen-Konstruktion“ sind unterschiedliche Kooperations- und Entscheidungsmechanismen, die innerhalb der einzelnen Bereiche häufig noch einmal ausdifferenziert sind. So ist ein Nebeneinander von gemeinschaftlichen und intergouvernementalen Formen der Zusammenarbeit und der Entscheidungen entstanden. Obwohl der Vertrag einen „einheitlichen institutionellen Rahmen“ vorsieht, bildet die Union realiter eher ein homogenes Gesamtgefüge Die strukturelle Ausdifferenzierung hat nunmehr das sogenannte „Mitentscheidungsverfahren“ (des Europäischen Parlamentes) gezeitigt und damit die Anzahl der Entscheidungsverfahren noch einmal erweitert. Das Mitentscheidungsverfahren selbst zeichnet sich abermals durch eine Reihe von Verästelungen und deshalb durch hohe Komplexität aus.

Hinzu kommen der neue „Ausschuß der Regionen“, die Leitungsorgane des europäischen Zentralbankensystems sowie eine Reihe anderer Gremien und Ausschüsse (unter anderem der „Wirtschafts- und Sozialausschuß“), die zu einer weiteren Komplizierung des institutionellen Systems beitragen. Überdies bedeuten die „Opting-outs“, die Großbritannien in bezug auf die Währungsunion und die Sozialpolitik sowie Dänemark in bezug auf die Währungsunion und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zugestanden wurden, in prozeduraler wie materieller Hinsicht zusätzliche Komplexität.

Zu 2.: Der Vertrag überträgt der Union eine Reihe neuer Kompetenzen oder erweitert bereits bestehende Kompetenzbereiche: die den neuen „Säulen“ der Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Innen- und Justizpolitik neben den währungspolitischen Befugnissen im Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion. Aber auch in den Bereichen Umwelt-, Sozial-, Forschungs- und Technologiepolitik sowie bei Bildung, Jugend, Kultur, im Gesundheitswesen, Verbraucherschutz und in der Industriepolitik wurden neue Zuständigkeiten begründet. Insgesamt verfügt die Europapolitik inzwischen über ein breites Zuständigkeitsspektrum, das nur wenige gesellschaftliche Bereiche ausspart. Mit den Zuständigkeiten für innere und äußere Sicherheit sowie für die Währungspolitik gehören nun auch klassische nationale Souveränitätsbereiche dazu. Freilich sind die Kompetenzen sehr unterschiedlich ausgestaltet. In der Bildungs- und Kulturpolitik etwa werden lediglich Fördermaßnahmen zugelassen, die auch schon vorher möglich waren, eine „Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften“ wird aber ausdrücklich ausgeschlossen.

Zu 3.: Die erweiterten Beteiligungsrechte des Europäischen Parlamentes gruppieren sich um das neue Mitentscheidungsverfahren. Es bedeutet insbesondere im Zusammenhang mit Binnenmarktfragen de facto ein Vetorecht. Daneben sind vor allem durch die zeitliche Angleichung der „Legislaturperioden“ bzw. Amtszeiten von Parlament und Kommission sowie durch das Bestätigungsrecht bei der Einsetzung der Kommission die Kontrollmöglichkeiten des Parlamentes insbesondere gegenüber der Kommission, aber auch gegenüber dem Europäischen Rat und dem Ministerrat, effektiver gestaltet worden. Freilich wird in einer Reihe von Mitgliedstaaten, auch in Deutschland, noch immer ein „Demokratiedefizit“ beklagt. Immerhin bedeutet der Vertrag von Maastricht ein ermutigendes Signal, dies Defizit nach und nach abbauen zu können. Allerdings soll nicht verschwiegen werden, daß es durchaus kritische Stimmen gibt (etwa die von Ralf Dahrendorf), die von erweiterten Parlamentsbefugnissen nichts halten, solange die Frage einer europäischen Verfassung offenbleibt.

Die Beschlüsse von Maastricht sind ein Kompromiß und markieren die Grenze des 1991, und wohl auch heute, politisch Machbaren in der Union. Die eigentliche Herausforderung der kommenden Jahre liegt darin, den Rahmen, den der Vertrag vorgibt, politisch auszufüllen. Mit der Ratifizierung wurden keineswegs auch die politischen Sachprobleme gelöst. Im Gegenteil: Es sind neue Ressentiments entstanden, die es eher schwieriger machen, den Vertrag gemäß dem vorgesehenen Fahrplan umzusetzen. Nicht zu reden von der beabsichtigten politischen und psychologischen Stärkung der Union, die jedenfalls vorerst noch ausgeblieben ist. Was viele anscheinend schon vergessen hatten, hat die Maastricht-Debatte wieder unüberhörbar in Erinnerung gerufen: Die alten Trennungslinien zwischen den unterschiedlichen Europakonzepten, von der föderal regierten Union bis hin zur losen intergouvernementalen Zusammenarbeit, treten angesichts neuer nationaler Trends wieder deutlicher hervor als in den letzten Jahren und Jahrzehnten.

Es klingt paradox: Solange das Ziel der Integration nicht genauer definiert und beschlossen war, sich allenfalls hinter wolkigen Formulierungen in den Sonntagsreden der Politiker verbarg, hatte die Gemeinschaft Erfolg, gaben die Völker ehemals nationale Kompetenzen pragmatisch an „Brüssel“ ab. Nun, da der Kraftakt einer annähernden Definition gewagt, der Maastrichter Vertrag beschlossen und das Bild einer politischen Union in einigermaßen kenntlichen Konturen gezeichnet wurde, zeigt sich, wie weit der Weg nach Europa in den Köpfen der Menschen tatsächlich noch ist.

Es zeigt sich auch, daß das Vertragswerk mit seiner schier unüberschaubaren Fülle an Regelungen kaum geeignet ist, die Voraussetzungen für eine neue, europäische Identität zu schaffen. Vielmehr befürchten die Europäer jetzt, da sie mit dem in Jahrzehnten gewachsenen, komplizierten Gefüge der Einheit im diffusen Lichte eines mühsam realisierten Vertragsschlusses konfrontiert sind, ihrer nationalen Identität zugunsten einer europäischen Anonymität beraubt zu werden. Die Annahme vieler Politiker, Maastricht vollziehe nur das nach, was in der Realität Europas längst existiere, entpuppte sich als verhängnisvolle Fehleinschätzung.

So kann denn nicht einmal der im Vertrag festgelegte Fahrplan etwa zur Wirtschafts- und Währungsunion als sicher gelten. Dabei ist Maastricht in seiner Substanz eigentlich nur ein Zwischenschritt zu einem föderalen Europa. Kein Wunder, daß angesichts sich zum Beispiel in Großbritannien vehement äußernder Europa-Ablehnung schon jetzt, bevor überhaupt Bilanz gezogen werden kann, neue Konzepte auftauchen, die den Prozeß der Integration differenzieren, variabel gestalten, in einen Kern- und einen Randbereich der Mitgliedstaaten aufspalten oder gar ganz zum Stillstand bringen, ja, sogar rückgängig machen wollen.

Fazit: Das Maastricht-Spiel ist längst noch nicht gewonnen.

Die Erweiterungen der EU: Balance zwischen Anspruch und Wirklichkeit

In der Präambel des EWG-Vertrages von 1957 geben die sechs Gründerstaaten Frankreich, Italien, Deutschland, Niederlande Belgien und Luxemburg ihrer Entschlossenheit Ausdruck, mit Hilfe der wirtschaftlichen Integration Frieden und Freiheit zu wahren und zu festigen. Sie appellieren an die anderen Völker Europas, die sich zu dem gleichen hohen Ziel bekennen, sich diesen Bestrebungen anzuschließen. Dieser Aufforderung leistete man Folge, und die Gemeinschaft hielt Wort. Inzwischen hat sie mehr als doppelt so viele Mitglieder wie in der Anfangszeit. Der Zugang blieb auch jenen Demokraten nicht versperrt, die zumindest von ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit her nicht unbedingt beitrittsfähig waren. Dabei ging es um Griechenland, Spanien und Portugal. Daß diese Länder in den achtziger Jahren dennoch Mitglieder werden konnten, zeigt eines besonders eindrucksvoll: Die Integration der Wirtschaft ist nach wie vor kein Selbstzweck, sie dient vielmehr der selbstgesetzten Verpflichtung, dem „immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker“.

Am 1. Januar 1995 sind Österreich, Finnland und Schweden zur Europäischen Union gestoßen. Weitere Länder sind mit der Union assoziiert und haben offiziell Beitrittsgesuche gestellt: die Türkei, Malta, Zypern, die Schweiz, Ungarn, Polen, Rumänien, Tschechien, die Slowakei und Bulgarien; die baltischen Länder und Slowenien werden in nicht ferner Zeit wohl ebenfalls hinzukommen. Auch in Island hat sich jüngst eine 60prozentige Mehrheit der Bevölkerung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen ausgesprochen. Die Perspektive, daß die EU langfristig zur Union der Zwanzig oder mehr werden wird, ist durchaus nicht unrealistisch. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß sie der Kandidatur der Türkei aus mancherlei Gründen, vor allem im Bereich der Menschenrechte, ablehnend gegenübersteht und daß die Schweiz sich vorerst gegen Europa entschieden hat. Sie möchte gleichwohl auf bilateralem Weg vor allem wirtschaftliche Bande mit der Union knüpfen. Das Gesuch des Schweizer Bundesrates auf Mitgliedschaft ist bisher nicht zurückgezogen worden, wenn es wegen des negativ beschiedenen Volksreferendums zum Europäischen Wirtschaftsraum wohl auch noch einige Zeit gegenstandslos bleiben dürfte.

Die EU hat schon immer den Anspruch erhoben, das freiheitlich-demokratische Europa zu repräsentieren. Während des Kalten Krieges blieb diese Ambition aus Gründen, die keiner näheren Erklärung bedürfen, auf Westeuropa beschränkt. Nach dem Fall der Berliner Mauer haben praktisch alle Länder Europas den EU-Beitritt zum Ziel ihrer Integrationspolitik erklärt. Und die EU ihrerseits ließ gleichzeitig keine Zweifel daran, daß sie an dem in den Verträgen von Rom verankerten offenen Charakter der Gemeinschaft festzuhalten gedenkt. So haben die zwölf Staats- und Regierungschefs im Juni 1993 in Kopenhagen beschlossen, daß die assoziierten Länder Mittel- und Osteuropas Mitglieder werden können, sofern sie dies wünschen und sobald sie in der Lage sind, die entsprechenden Voraussetzungen zu erfüllen. Diese Voraussetzungen, quasi die Prüfsteine für die Eignung zur Kandidatur, sind politischer und wirtschaftlicher Natur. Dazu gehören eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte und Minderheitenschutz, aber auch eine funktionierende, im Binnenmarkt wettbewerbsfähige Marktwirtschaft.

Doch was bedeutet eine wachsende Mitgliederzahl für die EU selbst? Mit jeder Erweiterung nimmt die politische, kulturelle und wirtschaftliche Vielfalt der Gemeinschaft zu. Kann man unter solchen Bedingungen am Ende überhaupt noch festhalten am ursprünglichen Gedanken des vereinten Europa? Schafft man nicht vielmehr einen Moloch, dessen Schwerfälligkeit die Entwicklung der Union und ihre Konkurrenzfähigkeit in der Welt eher behindert als fördert? Der Maastrichter Vertrag stellt auch den Versuch dar, mit Blick auf die zu erwartenden neuen Mitgliedsländer die interne Zusammenarbeit zu befestigen und zu vertiefen, damit allfällige Zentrifugalkräfte einer immer heterogeneren Gemeinschaft möglichst erst gar nicht wirksam werden können. Die zunehmende Vielfalt Europas soll dabei nicht eingeschränkt, sondern für die Konkurrenzfähigkeit der Union, für das Wohlergehen aller Mitgliedsländer genutzt und gestärkt werden. Daß es bei alledem effektiver Reformen bedarf, die der neuen Situation gerecht werden, wird nirgendwo in Abrede gestellt.

Einer der unbestrittenen Hauptmängel des Unionsvertrages besteht darin, daß die Tätigkeits- und Kompetenzbereiche der Gemeinschaft beträchtlich ausgeweitet, die Entscheidungsprozesse aber nicht entsprechend reformiert, nicht gestrafft wurden. Deshalb befürchten Skeptiker, daß bereits die „Nord-Erweiterung“ zu einer partiellen Lähmung der EU führen wird, zum Beispiel weil es den Mitgliedstaaten nach den Beitrittsverhandlungen mit Osterreich und den skandinavischen Ländern nicht gelang, die Sperrminorität bei Gemeinschaftsbeschlüssen an die neue Mitgliederzahl anzupassen.

Jedenfalls haben die „Architekten von Maastricht“ vorgesorgt und im Unionsvertrag die Einberufung einer Regierungskonferenz für das Jahr 1996 festgelegt. Gegenstand dieser Konferenz soll im wesentlichen eine institutionelle Reform sein. Nach der – freilich umstrittenen – Auffassung von Jacques Santer muß die Überwindung des Einstimmigkeitsprinzips, das bisher so oft die Handlungsfähigkeit der Union blockiert habe, im Zentrum der Bemühungen stehen. Eine solche technische Reform mag ausreichen, solange nur die wirtschaftlich starken Skandinavier und Österreicher zur Gemeinschaft stoßen. Doch spätestens bei einer „Osterweiterung“ wird die EU grundlegender über ihre Struktur nachdenken müssen, um der Vielfalt Europas ausreichend Rechnung zu tragen und sie als Stärke zu bewahren. Spätestens dann wird auch die Frage nach einer Europäischen Verfassung nicht mehr zu vertagen sein.

Erweiterung und Vertiefung – ein schwieriges Verhältnis

Eine künftige Erweiterung der Union nach Osten stellt nicht nur an die Beitrittskandidaten ganz neue Anforderungen. Auch von der Union verlangt sie die Erledigung schwieriger Hausaufgaben, die sie wegen ihrer politischen Brisanz bisher stets aufgeschoben hat. Dazu zählen eine grundlegende Überprüfung zentraler Gemeinschaftspolitiken sowie eine Reform der Institutionen und der Entscheidungsverfahren. Das erfordert nicht nur die Bereitschaft, neue Wege zu gehen, und die Kompetenz, Lösungsmöglichkeiten für die einzelnen Problembereiche zu finden und zu formulieren, sondern vor allem den politischen Willen, solche Lösungen auch zu beschließen und durchzusetzen. Hier ist die Solidarität der Mitgliedstaaten gefordert, deren Interesse an einer „Osterweiterung“, die möglicherweise mit dem Verzicht auf hergebrachte Vorteile und Vorrechte verbunden ist, freilich sehr unterschiedlich ausgeprägt ist.

Es ist unstreitig, daß bei einer Erweiterung der Union auch nur um die Visegrád-Staaten (Ungarn, Polen, Tschechische und Slowakische Republiken) die gemeinschaftliche Regional-und Strukturpolitik wie auch die Gemeinsame Agrarpolitik nicht in der jetzigen Form fortgeführt werden können. Nach überschlägigen Berechnungen müssen etwa die Gemeinsamen Strukturfonds, die zwischen 1986 und 1993 bereits von fünf auf sechzehn Milliarden ECU (1 ECU= ca. 1,90 DM) gewachsen sind und nach den Beschlüssen des Europäischen Rates von Edinburgh 1992 bis 1999 auf voraussichtlich 29 Milliarden ECU steigen sollen, um weitere 25 Milliarden ECU erhöht werden, wenn die bisherige Strukturpolitik beibehalten werden soll. Ähnliche Zahlen lassen sich im Bereich der Agrarpolitik errechnen. Da die größten „Nettozahler“, unter ihnen Deutschland, erklärtermaßen nicht bereit sind, die Mittel der Gemeinschaft zu erhöhen, sondern im Gegenteil deutliche Einsparungen fordern, wären massive Einschnitte in das bisherige System dieser Gemeinschaftspolitiken erforderlich. Dazu wird aber die Zustimmung auch der Mitgliedstaaten benötigt, die bislang am meisten davon profitieren. Diese wiederum haben kaum Veranlassung, ihre Zustimmung zu erteilen, da

sie ohnehin an einer „Osterweiterung“ nur ein vergleichsweise geringes Interesse haben.

Fazit: Mitgliedstaaten, die sich für die ,,Osterweiterung“ stark machen, aber gleichzeitig in Brüssel als Sparkommissare auftreten, sollten die europäische Öffentlichkeit rechtzeitig darüber aufklären, daß beides bei Beibehaltung der bisherigen Struktur- und Agrarpolitik miteinander unvereinbar ist und daß eine solche Erweiterung auf lange Frist vor allem Geld kosten wird. Woher dieses Geld aber kommen soll, darüber wäre Auskunft zu erteilen. Auf dem Tisch des neuerdings zuständigen österreichischen Kommissars Franz Fischler liegen eine Reihe von Gutachten, die alle miteinander darauf hinauslaufen, daß man die kostspielige Gemeinsame Agrarpolitik, die fast die Hälfte der gesamten EU-Budgets verschlingt, 1994 mehr als siebzig Milliarden Mark, vom Kopf auf die Füße stellen müsse, indem die Preise schrittweise auf Weltmarktniveau gesenkt und die Ausgleichszahlungen an die Landwirte renationalisiert würden. Die politische Durchsetzbarkeit dieser Konzepte dürfte derzeit freilich illusionär sein.

Die Frage der institutionellen Reformen ist möglicherweise von noch größerer Brisanz. Dabei geht es letztlich um die künftige politische Gestalt der Europäischen Union und damit um die weitere Zukunft des Integrationsprozesses. Pessimisten meinen, daß diese Frage geeignet sei, den bisherigen Zusammenhalt der Union in seiner Substanz zu gefährden. Die Positionen der Mitgliedstaaten gehen dazu in weit höherem Maße auseinander als seinerzeit zum Entwurf der Einheitlichen Europäischen Akte, der Grundlage für den Binnenmarkt (1986), und übertreffen selbst die Dissonanzen im Zusammenhang mit dem Maastrichter Vertrag.

Der deutsche Drang nach vertiefter Integration – als wesentlicher Voraussetzung der Erweiterung – wird keineswegs von allen geteilt. Großbritannien wird sich jeder weiteren Vertiefung der Union entgegenstellen und statt dessen versuchen, das Konzept der supranationalen Integration generell zugunsten traditioneller Mechanismen intergouvernementaler Kooperation auf der Grundlage des Einstimmigkeitsprinzips zurückzudrängen. Dabei könnte es in Einzelfällen durchaus Verbündete unter den Mitgliedstaaten finden, die – wie Frankreich und Dänemark – zwar nicht seine grundsätzliche Kritik am Integrationsgedanken teilen, aber das Gewicht der Mitgliedstaaten gegenüber den europäischen Institutionen gestärkt sehen wollen. Auch die traditionell integrationsfreundliche Einstellung der kleineren Mitgliedstaaten könnte sich ändern, wenn im Zuge einer Reform institutionelle Besitzstände dieser Gruppe zur Disposition gestellt werden müssen. Berücksichtigt man außerdem, daß das Interesse an einer „Osterweiterung“ sehr unterschiedlich entwickelt ist – selbst in der Bevölkerung von Staaten wie Deutschland, deren Regierung eine solche Erweiterung offensiv propagiert, herrscht Skepsis vor -, so ist eine Einigung auf die wegen der neuen Mitglieder erforderlichen Reformen alles andere als selbstverständlich.

Nach dem Beitritt Österreichs, Finnlands und Schwedens sind im Rat der Europäischen Union 15 Mitgliedstaaten vertreten. Die Kommission setzt sich aus 20 Kommissaren und das Parlament aus 626 Abgeordneten zusammen. Es ist offensichtlich, daß jede weitere Aufnahme neuer Mitglieder zu einer Entlastung der Institutionen und Straffung der Entscheidungsverfahren führen muß. Um in einer erweiterten Union die Entscheidungsfindung im Rat nicht etwa zu beschleunigen sondern lediglich gegenüber dem derzeitigen Zustand nicht noch schwerfälliger zu machen, müßte die Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit – jedenfalls im Bereich der Gemeinschaftskompetenzen – endlich die Regeln werden. Sie sollte aber auch in den intergouvernementalen Bereichen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Zusammenarbeit in der Innen- und Rechtspolitik schrittweise eingeführt und ausgebaut werden. Möglicherweise müßte ein solcher Reformschritt mit einer Neugewichtung der insgesamt 87 Stimmen im Rat verbunden werden.

Ratsentscheidungen auf einzelnen Gebieten könnten durch Ratsausschüsse vorbereitet werden, die nicht alle Mitgliedstaaten umfassen. Außerdem bedarf das bisherige System der halbjährlich rotierenden Präsidentschaft der Überprüfung. Die damit verbundenen Unzulänglichkeiten könnten durch eine stärkere Rolle der sogenannten Troika (das Land, das den Vorsitz innehat, zusammen mit seinem Vorgänger und seinem Nachfolger) ausgeglichen werden, die allerdings nicht mehr nur nach den Zufälligkeiten des Alphabets und Kalenders zusammengesetzt sein sollte.

Um einen immer größeren Zuwachs der Zahl der Kommissare im Zuge künftiger Erweiterungen zu verhindern, der schon verwaltungsorganisatorisch nicht mehr zu rechtfertigen wäre und wohl auch die Effizienz des Kollegialorgans Kommission beeinträchtigen würde, muß an die Stelle des bisher herrschenden Prinzips des nationalen Proporzes eine Personalisierung und Politisierung der Kommission treten. Dazu könnte eine erweiterte Mitwirkung des Europäischen Parlamentes bei der Auswahl der Kommissare sicherlich beitragen. Eine Entnationalisierung der Kommission würde besonders den kleineren Mitgliedstaaten den Abschied vom für sie verständlicherweise wichtigen Prinzip „ein Mitgliedstaat – ein Kommissar“ erleichtern. Den ersten Schritt auf diesem Weg sollten allerdings die großen Mitgliedstaaten tun, indem sie zunächst auf ,,ihren“ zweiten Kommissar verzichten.

Kritisch diskutiert wird mancherorts auch das alleinige Initiativrecht der Kommission. Es gibt eine Reihe von Vorschlägen, wie man es reformieren könnte, von der unwesentlich modifizierten Beibehaltung bis zur gänzlichen Aberkennung und zur Übertragung etwa auf die nationalen Regierungsvertreter im Ministerrat oder auf das Europäische Parlament. Durch den Artikel 138 des Maastrichter Vertrages wird eine Art Vorstufe des Initiativrechts ohnehin bereits heute dem Europäischen Parlament zuerkannt. Den Parlamentariern wird dort das Recht übertragen, die Kommission um die Ausarbeitung einer spezifischen Gesetzgebung zu ersuchen. Im April 1994 hat das Parlament erstmals von seinem neuen Recht Gebrauch gemacht, indem es die Kommission ersuchte, eine Richtlinie über die zivile Haftung bei künftigen Umweltschäden zu erarbeiten. Es dürfte niemanden überraschen, wenn das Parlament zum Beispiel die Einsetzung der Kommission oder die Billigung ihres jährlichen Legislativprogramms an die Erfüllung der Verpflichtung bände, die vom Parlament eingeforderten Vorschläge für spezifische Gesetzgebungen vorzustellen.

Wie immer man indes zukünftig in der Frage des Initiativrechts verfahren will, eines sollte nicht vergessen werden: Initiativen müssen dem Interesse der gesamten Union dienen, nicht dem einzelner Mitgliedstaaten oder Gruppen von Mitgliedern. Das war bisher der gute Grund, warum dies Recht ausschließlich bei der Kommission angesiedelt war; im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens könnten hier zusätzliche Abstimmungen und Kontrollen eingeführt werden (wobei freilich mehr als nur eine neue Bürokratie herauskommen sollte!), ein Abgehen von der bisherigen Konstruktion, das die Gefahr separatistischer Initiativen eröffnen würde, ist aber sicher nicht anzuraten.

Die Zuweisung weiterer Kompetenzen an das Parlament insbesondere auf dem Gebiet der gemeinschaftlichen Rechtsetzung und bei der Ernennung der Kommission, die zur Verminderung des häufig beklagten Demokratiedefizits erforderlich ist, sollte sich einfügen in eine vereinfachende Neuordnung der bestehenden Verfahren parlamentarischer Beteiligung. Es ist mit dem vielbeschworenen Prinzip der Transparenz unvereinbar und dem Bürger nicht zuzumuten, sich mit den subtilen Unterschieden zwischen Anhörungs-, Mitwirkungs-, Mitentscheidungs-, Zustimmungs- und Haushaltsverfahren und ihren Anwendungsfällen vertraut machen zu müssen, um die parlamentarische Arbeit zu verstehen.

Institutionelle Reformen sollen dazu beitragen, die Europäische Union zu vertiefen, damit sie künftige Erweiterungen ohne Abstriche am Integrationsziel verkraften kann. Sie dürfen sich daher nicht allein am Kriterium effizienter Gestaltung von Entscheidungsabläufen orientieren, sondern müssen mehr als bisher auch darauf ausgerichtet sein, der Politik der europäischen Integration die Unterstützung einer möglichst großen Mehrheit der Bürger in den Mitgliedstaaten zu sichern. Angesichts der wachsenden Skepsis der Europäer gegenüber einem anonymen „Brüssel“ oder auch „Straßburg“ müssen Begriffe wie Subsidiarität und die politische, aber auch administrative Umsetzung ihrer Inhalte nachvollziehbar werden; der neue Ausschuß der Regionen sollte es als eine seiner vorrangigen Aufgaben betrachten, nicht nur in die europäischen Institutionen hinein zu wirken, sondern Scharnier, Schaltstelle zwischen der europäischen Öffentlichkeit und der europäischen Politik (inklusive Administration) zu sein, um dem so häufig zitierten Anspruch der Transparenz auf diesem Wege endlich gerecht zu werden; das Europäische Parlament sollte engere Beziehungen zu den nationalen Parlamenten suchen und seine Aufgaben konsultativ und kooperativ wahrnehmen; schließlich sollte Transparenz auch über die Abstimmungsergebnisse im Ministerrat herrschen und endlich dem Antrag Dänemarks entsprochen werden, das Stimmverhalten der einzelnen Ratsmitglieder offenzulegen, damit sich kein Minister und keine Partei auf nationaler Ebene mehr hinter einem anonymen „Brüssel“ verstecken kann.

Und last, not least sollte eine Reform der Auswahlverfahren für die Beamten in der Union erfolgen; sie sollten entformalisiert und stärker auf die tatsächlichen Aufgaben der Kommission, des Rates und des Parlamentes abgestimmt werden, damit die am ehesten geeigneten Personen auch tatsächlich rekrutiert werden können, wobei im übrigen auch darauf geachtet werden sollte Beamte einzustellen, denen bewußt ist, daß sie Repräsentanten der Europäischen Union und keine anonymen „Paragraphen-Hengste in Ärmelschonern“ oder gar von Arroganz und Dünkel gekennzeichnete Vertreter einer abgehobenen Mandarin-Kaste sind.

Die innere Reform der Europäischen Union ist das große Thema der Regierungskonferenz 1996. Ob dabei die Vereinbarung der oben angerissenen, notwendigen Reformen erfolgen wird, ist ungewiß. Ungewiß ist deshalb auch, ob mit Hilfe einer Vertiefung der Union die Tür nach Mittel- und Osteuropa aufgestoßen werden kann. Die Unterschiede in den Positionen der Mitgliedstaaten sowohl in der Frage „Osterweiterung“ als auch hinsichtlich des Fortgangs der europäischen Einigung sind erheblich. Während eine Mehrzahl der Mitgliedstaaten als Ziel einer Reform nach wie vor die Vertiefung der Integration will, sieht das jedenfalls ein Mitglied, nämlich Großbritannien, genau umgekehrt. Unter den anderen gibt es wiederum einige, die die Vertiefung, die die Erweiterung auch nach Osten befürworten, und andere, die wohl das erste, aber nicht das zweite wollen. Manch einer, der die Vertiefung nicht will, will gerade deswegen die Erweiterung. Andere wollen die Erweiterung und gerade deswegen die Vertiefung. Viele kleinere Mitgliedstaaten gehören zu überzeugtesten Anhängern der Vertiefung, aber nicht auf Kosten dessen, was im Kreis der größeren zuweilen als ungerechtfertigte Privilegierung der kleineren angesehen wird. Im Kreis der großen Mitgliedstaaten wird wiederum bisweilen vergessen, daß manche kleinere Mitglieder oft mehr für den Zusammenhalt der Union geleistet haben und leisten als einzelne große und daß es ohne die Zustimmung auch des kleinsten Mitgliedstaates 1996 kein Ergebnis geben wird.

Soll ein Mißerfolg vermieden werden, der für das politische Gefüge Europas unabsehbare Konsequenzen hätte, so könnte sehr wohl ein Europa der zwei oder mehrerer Geschwindigkeiten oder auch der variablen Geometrie, der konzentrischen Kreise oder welchen anschaulichen Begriff man immer finden mag unvermeidbar sein. Möglicherweise wird sich dies ohnehin daraus ergeben, daß nicht alle Mitglieder bis zum Jahr 1999 die Voraussetzungen zur Teilnahme an der Währungsunion erfüllen. Der Maastrichter Vertrag bindet die Teilnahme an folgende vier „Konvergenzkriterien“:

1. Der Anstieg der Verbraucherpreise darf nicht mehr als 1,5 Prozentpunkte über der Teuerungsrate der drei preisstabilsten EULänder liegen.

2. Das Haushaltsdefizit darf in der Regel drei Prozent des Sozialproduktes nicht über

schreiten und die Staatsverschuldung soll im Grundsatz unter 60 Prozent des Sozialproduktes liegen. 3. Die langfristigen Zinssätze dürfen das Niveau in den drei preisstabilsten Ländern um höchstens zwei Prozentpunkte übersteigen.

4. Die Währung muß in den letzten zwei Jahren vor Eintritt in die Währungsunion gegenüber den anderen EU-Währungen stabil geblieben sein.

Im Februar 1995 konnten lediglich Luxemburg, Österreich und Deutschland diese vier Konvergenzkriterien erfüllen.

Sicher ist, daß die von Frankreich und Deutschland angestoßene Diskussion über eine Union mit einem Kerneuropa, um das sich die anderen Mitglieder bzw. die anderen europäischen Staaten in unterschiedlichem Abstand gruppieren, nur der Anfang einer Debatte ist, an deren Ende hoffentlich 1996 die Verständigung auf einen gangbaren Weg steht, damit der oben zitierte Anspruch des EWG-Vertrages von 1957 nicht aufgegeben werden muß. Sicher ist auch, daß diese beiden Staaten eine besondere Verantwortung für den Ausgang der Debatte tragen. Vielleicht trifft zu, wie der französische Verteidigungsminister Francois Leotard im September 1994 die Situation der Europäischen Union illustrierte: „Die deutsch-französische Kooperation ist bereits heute ein Modell und eine Matrix für die europäische Kooperation. … Was heute deutsch-französisch ist, wird morgen europäisch sein.“

Jacques Santer, dem neuen Kommissionspräsidenten, sagt man eine reichliche Portion „Kultur-Verstand“ nach. Er zitiert gern berühmte Europäer. So mag auch hier zum Schluß eine Vision in Erinnerung gerufen werden, die von einem prominenten Verstorbenen stammt, von keinem Geringeren als Victor Hugo. Er sagte 1848 auf dem Pariser Weltfriedenskongreß: „Ein Tag wird kommen, wo all ihr Nationen des Kontinents, ohne die besonderen Eigenheiten eurer ruhmreichen Individualität einzubüßen, euch eng zu einer höheren Gemeinschaft zusammenschließen und die große Europäische Bruderschaft begründen werdet. … Ein Tag wird kommen, wo es keine anderen Schlachtfelder mehr geben wird als die Märkte, die sich dem Handel öffnen, und die Geister, die für die Ideen offen sind. Ein Tag wird kommen, wo die Kugeln und Granaten vom Stimmrecht ersetzt werden.“