Freiheit der Person und soziale Solidarität

Mein Thema stellt mich vor die Notwendigkeit, zwei Definitio­nen zu versuchen, die nicht eben leicht zu liefern sind: Die Definitionen der Begriffe »Freiheit der Person« und »soziale Solidarität«. In der Bundesrepublik, und nicht nur dort, gibt es keineswegs allgemeingültige Interpretationen dieser beiden termini, die etwa für alle Demokraten gleichermaßen verbind­lich wären. Vielmehr haben sie je nach dem politischen Standpunkt des Interpreten einen ganz unterschiedlichen Inhalt und einen ganz unterschiedlichen Stellenwert. Ja, selbst inner­halb bestimmter politischer Lager sind sie von ihrer Bedeutung her durchaus umstritten. Dabei unterliegen sie für alle Demo­kraten keineswegs einer interpretatorischen Beliebigkeit, wer­den vielmehr überall als Grundwerte akzeptiert, als die der Freiheit und der Brüderlichkeit nämlich in der klassischen Grundwerte-Triade der französischen Revolution von 1789: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Dieser Tatbestand macht es nicht eben leichter, das Verhältnis der individuellen Freiheit zur gesellschaftlichen Solidarität zu bestimmen.

Was ich hier dazu vertrete, ist eine durchaus persönlich gefärbte Interpretation des Themas im Rahmen einer vom Liberalismus bestimmten Grundauffassung. Wenn ich nun den Begriff »Liberalismus« benutze, so bin ich mir sehr wohl bewußt, daß ich den zwei definitionsbedürftigen Begriffen des Themas einen dritten hinzufüge, wenn auch das lateinische libertas: die Freiheit den Liberalismus-Begriff grundsätzlich bestimmt. Aus meinen Aussagen zum Thema wird aber notwendigerweise auch mein Verständnis von Liberalismus deutlich werden müssen. 

Wenn es um die Definition des Begriffes »Freiheit der Person« geht, so begibt sich der Definierende zwangsläufig auf philosophisches Terrain. Für den Liberalen ist dabei klar, daß hier der zentrale Punkt seiner politischen Ziele liegt: Karl­-Hermann Flach, der bedeutende liberale Theoretiker des Nach­kriegs-Deutschland, wollte mit liberaler Politik die »größtmög­liche Freiheit der größtmöglichen Zahl« von Menschen errei­chen. Er verband also von vornherein die Freiheit des einzelnen mit der Freiheit aller anderen, bettete das freie Individuum in die freie Gesellschaft ein. Und nur in einer freien Gesellschaft war für ihn die Freiheit des Individuums zu erreichen.

In diesem Zusammenhang drängt sich sofort die Frage auf: Freiheit wovon? Wovon soll das Individuum frei sein? Wovon soll die Gesellschaft frei sein? Den gesellschaftlichen Aspekt will ich hier einmal vernachlässigen, auf ihn komme ich später zu sprechen. Bleiben wir beim Individuum: Die wiederum klassi­sche Antwort auf die Frage Freiheit wovon? lautet: frei von geistiger Bevormundung und von materiellem Zwang. Eine Idealvorstellung – sicher. Aber ein Ideal, dem der Liberale zustrebt. Freilich weiß er darum, daß er dieses Ideal niemals erreichen wird. Dennoch ist es für den Liberalen ganz unerträg­lich, wenn jemand aufgrund dieses Wissens das Ideal der Freiheit durch ein anderes ersetzen will, durch Ideologien oder dogmatische Setzungen. Dies wäre Resignation oder Kapitula­tion vor der Aufgabe, sich dem Idealbild immer wieder und – so es geht-immer weiter zu nähern. Und auch über den Weg der Annäherung gibt es für den Liberalen keine Diskussionen: er muß durch freie Entscheidungen und Übereinkünfte der einzel­nen gekennzeichnet sein, nicht durch Zwang und Bevormun­dung, und handle es sich bei der ein oder anderen Heilslehre um noch so sanften Zwang. Übrigens: Die Heilslehren nennen wir heute Ideologien. 

Diese knappe und unvollständige Skizzierung des liberalen Freiheitsbegriffes setzt ein bestimmtes Menschenbild voraus: das des vernunftbegabten Wesens, das grundsätzlich fähig ist zur Einsicht in das Richtige, das Menschenbild von Humanismus und Aufklärung. Immanuel Kant, der deutsche Philosoph, prägte den berühmten Satz: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«. Er schreibt damit dem Menschen und niemand sonst die Schuld zu am Zustandekommen von Lebensbedingungen, die seine Frei­heit beschneiden. Nicht obskuren anonymen Mächten, nicht den jeweils obwaltenden gesellschaftlichen Umständen, nicht den wie auch immer entstandenen Verhältnissen (die stets, wie Bertolt Brecht sagt: nicht so sind), sondern einzig und allein dem Menschen, der ja all diese Begrenzungen ermöglicht oder geschaffen hat. Damit überträgt er dem einzelnen gleichzeitig eine hohe moralische Verantwortung, nämlich die für seine eigene Freiheit und gleichzeitig die für die Freiheit aller anderen. Kant drückt diese Auffassung vom vernunftbegabten Wesen aus in seinem berühmten kategorischen Imperativ an das moralisch handelnde Individuum: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetz­gebung gelten könne.« Er betont also nicht nur die Freiheit des einzelnen, sich seine Maximen selbst zu setzen, sondern gleichzeitig seine Verantwortung, die Verpflichtung, die er damit für die Gesellschaft übernimmt. Eine Auffassung, die Karl-Hermann Flach mit anderen Worten wiederholt hat. 

Gewiß, es handelt sich hier um eine theoretische, eine grundsätzliche Sicht der Dinge. Aber gerade eine solche Sicht legt auf radikale Weise die Verantwortungsstrukturen frei, denen wir uns auch und gerade in der Politik so oft und so gern mit dem Hinweis auf vorgeblich alles beherrschende Sachzwän­ge oder soziale Bedingungen zu entziehen versuchen.

Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, weil man mir nun womöglich eine geschichtslose Betrachtungsweise entgegenstellen könnte: natürlich ist die Frage der Freiheit wovon? nur im Rahmen der jeweiligen historischen Situation zu beantworten. Indes hat der einzelne, wenn er sich von geistiger Bevormundung oder materiellem Zwang durch sein Handeln befreien will, stets gleichzeitig die Maßgabe des kategorischen Imperativs zu beachten – vorausgesetzt, er möchte sein Handeln als das eines Liberalen klassifiziert wissen. Freiheit des einzelnen ist also niemals losgelöst zu sehen von seiner Verantwortung für die Gemeinschaft, wenn er sich nicht gleichzeitig der Gefahr aussetzen will, daß die Gemeinschaft ihm die eigene Freiheit -möglicherweise willkürlich – beschneidet. 

Damit ist der homo politicus gefordert, der moralisch handelnde Mensch, der sich selbst in die Gemeinschaft der politeia stellt. Eine strenge Vorstellung, wird man möglicher­weise einwenden, wo bleibt da seine Unabhängigkeit, sein Freiraum? Und ich würde der Ansicht zustimmen, daß der mündige Bürger im demokratischen Staat das Recht auf eine private Sphäre der Unabhängigkeit hat, in der er seine eigenen, ganz persönlichen Wertvorstellungen verwirklichen kann, solange er damit die Freiheit des anderen nicht beeinträchtigt und solange er auch allen anderen diese Sphäre des Privaten zugesteht, sie nicht in der Gestaltung dieser Sphäre zu bevor­munden versucht. Solange er also dem liberalen Prinzip der Toleranz folgt. Damit entspricht er gleichermaßen dem katego­rischen Imperativ Kants, wie wenn er in der Gesellschaft und für die Gesellschaft handelte. Die Freiheit der Person, auch in diesem privaten Sinne, hat den Anspruch, von Staat und Gesellschaft geachtet zu werden. Sie gehört zu den Rechten, die dem Menschen von Natur aus zukommen, zu den Natur- oder Menschenrechten. Sie stehen in den freiheitlich verfaßten Demokratien niemals zur Disposition einer Mehrheitsentschei­dung und bilden die Grundlage für alle Übereinkünfte zwischen den Menschen, die insgesamt den Katalog des positiven Rechts, den Katalog der Gesetze ausmachen. 

Auch die Gesetze sind natürlich immer vor dem Hintergrund der historischen Gegebenheiten zu beurteilen. Das zeigt schon der Begriff der sogenannten Guten Sitten, der in aller bürgerli­chen Rechtsprechung eine feste Größe, dennoch aber niemals näher beschrieben ist, weil er sich mit den Zeitströmungen ändert. Um es salopp zu belegen: während im Deutschland des 19. Jahrhunderts als sittenwidrig und damit strafwürdig galt, wenn Damen öffentliche Bäder im Badeanzug ohne Oberteil besuchten, nimmt man zwar heute noch von Fall zu Fall- mehr privaten – Anstoß daran, als sittenwidrig jedoch gilt es in der Bundesrepublik nicht mehr und kann damit auch nicht mehr unter Strafe gestellt werden. Die Freiheit der Person in der Gesellschaft erreicht damit sozusagen auch für die menschliche Physis einen weiteren Fortschritt. Es wäre allerdings gefährlich, dies Maß an Freiheit von Textilien zum Maßstab der individuellen Freiheit insgesamt zu machen. Vielmehr wird, um zum Ernst der Dinge zurückzukehren, die Befreiung von einem bestimmten Zwang des öfteren durch die Unterwerfung unter einen anderen – möglicherweise drückenderen – erkauft. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno haben für dieses fatale Phänomen vermeintlichen Fortschritts den Begriff der »Dialek­tik der Aufklärung« bereits in den 40er Jahren unseres Jahrhun­derts geprägt. Gemeint ist damit nichts anderes als der Gedanke, den Goethe schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also noch im Nachklang der Aufklärung durch die Zeile: »Die ich rief, die Geister, werd ich nicht mehr los.« in seinem Gedicht „Der Zauberlehrling“ ausdrückte. Indem der Mensch sich löste von alten Bevormundungen wie Religion, Fürstenherrschaft oder Familien- und Berufsbindungen, indem er dadurch mehr Freiheit gewann, verschrieb er sich gleichzeitig den scheinbar. unendlichen Möglichkeiten der Naturwissenschaften. Blind­lings, eben verzaubert, baute er auf die Fähigkeiten seines Verstandes – nicht seiner Vernunft. Er blieb ein Lehrling und wurde kein Meister. Die Vernunft nämlich ist nach Kant das kritische Vermögen des Menschen, der Verstand das instrumen­telle. Indem der Mensch also nicht kritisch hinterfragte, seine Vernunft nicht einsetzte, verlieh er vermöge seiner neu gewon­nenen Freiheit und seines Verstandes den Naturwissenschaften den gleichen Rang, wie ihn die alten Dogmen besessen hatten. Er machte sich die Natur wohl untertan, unterwarf sich aber gleichzeitig der von ihm konstruierten Gesetzmäßigkeit von Maschinen, Arbeitsteilung und Profitsucht. 

Theodor Heuss: Der Mensch in der Masse 

„Masse« und„ Vermassung« sind Modewörter dieser Zeit, gegen die ich mich wegen ihrer seltsamen Ansteckungskraft ebenso stur wie erfolglos wehre. Darin, immer von der „Masse«, von der »Vermassung« zu reden, liegt nämlich eine Suggestivgefahr. Ich bitte, nicht für einen Romantiker gehalten zu werden, der nicht die Typik in den Lebens-, in den Wohn-, in den Arbeitsbedingungen der Menschen sieht, die zu einer bestimmten Stunde in einen gleichen Fabriksaal, zu einer gleichen Maschine gehen – solcher Typik literarisch nachzugehen, nennt man heute Soziologie. Aber es ist im Schicksal wie im beruflichen Vermögen, im Verhältnis zur Arbeit, zur arbeitsfreien Zeit, immer ein Mensch, dieser Mensch, auf den wir sehen sollen, zumal wenn wir von der Jugend reden. Denn dieser Mensch, wenn er nicht mit einer pessimistischen Resignation ins Leben trat und wenn er nicht zu denen gehört, die es nun doch gibt, die eben nur auf Anordnung oder Befehl hören und funktionieren und nachher nichts mit sich anzufangen wissen, wenn dieser termingemäß zuende ist – dieser Mensch will etwas mit sich anfangen und nicht bloß als »Masse« zur »Masse« addiert werden; er hat seinen Stolz, seine Bekümmernisse, seinen Lebenswil­len, seinen Ehrgeiz, freudigen und nicht bloß ängstlichen Pflichtsinn, er will sich auch in seiner Umwelt umsehen und seine Welt zu formen versuchen. Auf ihn, auf diesen kommt es an; ihm kann man nichts vormachen. 

(Quelle: Theodor-Heuss-Lesebuch, hrsg. v. Hans-Heinrich Welchert, Rainer Wunderlich Verlag, Tübingen 1975)

Um nicht falsch verstanden zu werden: ich bin nicht der Meinung, daß wir zurück zur Natur müssen. Ich halte die Möglichkeiten von Wissenschaft und Technik immer noch -trotz Atombewaffnung und Rohstoffausbeutung, trotz Daten­mißbrauch und Umweltverschmutzung-, für eine Chance, die der Mensch zu seiner Befreiung von Not nutzen kann. Ob er dazu wirklich in der Lage ist, vermag· ich angesichts der geschilderten Bedrohungen allerdings nicht zu sagen. Jedenfalls bedürfte er dazu des Einsatzes seiner Vernunft, nicht lediglich seines Verstandes. 

Bis hierher habe ich die Frage der Freiheit wovon? zu behandeln versucht. Sie wird durch die zweite klassische Frage ergänzt: Freiheit wozu? Diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten. Schon gar nicht gibt es darauf eine standardisierte Antwort – jedenfalls dann nicht, wenn man sie in Bezug auf die Freiheit der Person stellt. Sicher ist lediglich, daß die Freiheit von Zwängen positiv ergänzt werden muß durch die Freiheit zu einem bestimmten Handeln, das wiederum eine freiheitlich verfaßte Gesellschaft zur Voraussetzung hat. Diese Verfassung muß dem einzelnen Handlungsspielräume garantieren und ihn gleichzeitig zur Achtung von Recht und Gesetz verpflichten. Seine Freiheit zur Selbstverwirklichung, wenn man mir die Verwendung dieses ein wenig nebulösen Begriffes hilfsweise gestattet, ist also wieder gekoppelt an seine Verantwortung für die demokratische Gesellschaft. 

Die liberale Theorie hat zwei klassisch zu nennende Voraus­setzungen formuliert, die als Bedingungen der Möglichkeit eigenverantwortlichen Handelns gelten sollen: Bildung und Eigentum. Durch eine möglichst umfassende Bildung des Geistes soll der einzelne die Fähigkeit unabhängigen und kritischen Bewertens erreichen, durch den Erwerb von Eigen­tum soll er die materielle Voraussetzung zur Befriedigung seiner Bedürfnisse schaffen. Dabei hat die Organisation der Gesell­schaft, der staatliche Ordnungsrahmen also, Chancengerechtig­keit für alle Menschen zu gewährleisten. Daß es sich auch hierbei um eine Ideal-Vorstellung handelt, die niemals in ihrer reinen Form Wirklichkeit sein wird, ist dem Liberalen klar. 

Aber einmal abgesehen vom idealtypischen Charakter dieser Ansicht – in der Praxis haben diese beiden Forderungen zu mancherlei Ausprägungen geführt, die den eigentlichen Inhalt der Freiheit des Individuums in Frage gestellt oder gar in sein Gegenteil verkehrt haben. 

Die Vorstellung vom universell gebildeten Individuum, dem grundsätzlich alle Erkenntnis zugänglich ist (von Kant – wie dargestellt- abgeleitet), hat im Zusammenhang mit den Natur­wissenschaften eine Hybris zur Folge gehabt, die den Menschen glauben ließ, er besitze die Freiheit, die Natur und ihre Elementargewalten zu besiegen. Darin spiegelt sich die irrige Ansicht wider, mit den Kräften des Verstandes allein der hohen Verantwortung, die aus dem Gebrauch der Freiheit resultiert, gerecht werden zu können. Wissenschaftsgläubigkeit machte die Menschen so vermessen, den Naturgesetzen trotzen zu wollen. Ausgebend vom methodischen Zweifel des Rene Descartes, der die neuzeitliche Philosophie begründete, nahmen die Menschen sich die Freiheit, Gedankengebäude zu konstruieren, die zwar den Gesetzen ihrer Logik entsprachen, die natürliche Begrenzt­heit menschlicher Erkenntnis aber außer acht ließen und die Fähigkeiten des Verstandes absolut setzten. 

Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Im April des Jahres 1912 ging der Luxus-Liner »Titanic« auf große Fahrt von England nach Amerika. Diesem 250 m langen Schiff war in den Medien der Ruf vorausgeeilt, in ihm manifestiere sich der Beweis für den Sieg des menschlichen Erfindergeistes über die Natur. Es galt als unsinkbar. Am 15. April jedoch wurde das Schiff im Nördlichen Atlantik von einem Eisberg der Länge nach aufgeschlitzt und sank innerhalb von drei Stunden. 1.500 Menschen mußten ihr Leben lassen. Eine Bündelung menschlicher Unzulänglichkei­ten hatte zu dieser Katastrophe geführt. Der Weltöffentlichkeit wurde schlagartig klar, daß alle menschliche Erfindungsgabe gegen die Gesetze der Natur machtlos ist, daß die Freiheit des Menschen durch natürliche Bedingungen eingegrenzt ist. 

Die Bildung des Geistes muß also gleichzeitig die Einsicht in die Grenzen der menschlichen Fähigkeiten sein, soll sie zu seinem Glück und nicht zur Hybris und damit zu seinem Unglück führen. Aber auch die Bildung von Eigentum als Voraussetzung zur Unabhängigkeit des freien Individuums hat ihre gefahrvollen Aspekte. Eigentum soll ja nach liberaler Auffassung ein Mittel sein, mit dessen Hilfe sich der Mensch von Zwängen und Not befreit. Bisweilen indes verliert es diese Funktion und wird zum alleinigen Zweck menschlichen Han­delns. Eigentum wird dann um seiner selbst willen und nicht mehr um des Zweckes der Unabhängigkeit willen erworben. Es wird zum Maßstab gesellschaftlichen Ansehens erhoben und ersetzt den Grundwert der Brüderlichkeit durch den der gnadenlosen Konkurrenz. Gewiß, ich überzeichne ein wenig, aber ich bin dennoch der festen Auffassung, daß viel Elend zum Beispiel in den Industriegesellschaften des 19. Jahrhunderts hätte vermieden werden können, wenn das Kapital und seine Anhäufung auf der einen und die vermessene Wissenschafts­gläubigkeit auf der anderen Seite nicht so sehr im Mittelpunkt aller Bemühungen um Fortschritt gestanden hätten. Sicher, es ist viel erreicht worden, zum Beispiel in Deutschland die endgülti­ge Befreiung der Bauern aus der Leibeigenschaft. Als sich aber viele von ihnen in den Städten eine Beschäftigung suchen wollten, mußten sie feststellen, daß die Frage der Freiheit wozu? nicht beantwortet werden konnte. Es entstand das in Elend vegetierende Industrieproletariat oder, wie Karl Marx es de­spektierlich ausdrückte, das Lumpenproletariat. Der dialekti­sche Materialismus ließ sich anschaulich darstellen in These:

Proletariat der Besitz- und damit Rechtlosen«. Eine Situation, in der allerdings die Synthese nur durch revolutionäres Handeln erreichbar schien. Eine Situation auch, die die Begriffe persön­licher Freiheit und gesellschaftlicher Solidarität nicht oder nur unvollkommen miteinander zu verbinden in der Lage war. 

In Deutschland hat schon Bismarck, der preußische Kanzler des Kaiserreiches, durch die staatliche Sozialgesetzgebung aus dieser Situation zu lernen und die Gegensätze abzuschwächen versucht. Wie wenig aber die Liberalen des späten 19. Jahrhun­derts die Zeichen der Zeit erkannten, zeigte sich darin, daß auch ihr fortschrittlicher bzw. freisinniger Flügel die Sozialgesetze ablehnte und meinte, die Menschen müßten sich selbst helfen und dürften nicht an das Gängelband des Staates gelegt werden. Erst sehr spät erkannten sie, daß bei aller Skepsis gegenüber staatlicher Einmischung in die Privatsphäre der Bürger auch die Akkumulation des Kapitals bestimmten Kontrollen unterliegen und die materielle Absicherung der Besitzlosen durch ein System der Sozialversicherung notwendig erfolgen muß; die Freiheitsgarantien der Verfassung müssen also durch Gewähr­leistung materieller Chancengerechtigkeit ergänzt werden, wenn sie nicht bloße Deklamationen sein sollen, die nur auf dem Papier stehen. 

Die Antwort auf die Frage nach der Freiheit wozu? bedeutet gleichzeitig eine staatliche Aufgabe, Chancengerechtigkeit näm­lich zu erhalten. Für den einzelnen bedeutet sie nicht nur das konsequente Erkennen und Wahrnehmen der sich ihm bieten­den Chancen, sondern auch das Akzeptieren der Verantwor­tung, die er damit übernimmt. Verantwortung auch dafür, daß neue Möglichkeiten der Wissenschaften nicht absolut gesetzt und unkritisch konsumiert werden. 

Bescheidener als es der Philosoph Sokrates in der von Plato überlieferten Verteidigungsrede gegen den Vorwurf, er verderbe die Jugend, ausgedrückt hat, läßt sich die Skepsis gegenüber menschlicher Erkenntnisfähigkeit wohl nicht darstellen. Er sagte: »Jener glaubt etwas zu wissen, weiß aber nichts; ich weiß zwar auch nichts, glaube aber auch nichts zu wissen.« Wir zitieren diesen Satz meistens in der Form: Ich weiß, daß ich nichts weiß. 

Eine letzte Bemerkung zu der Frage Freiheit wozu? Sie forscht gleichzeitig nach dem grundlegenden Sinn, den der einzelne seinem Leben zu geben vermag. Es sei einmal dahinge­stellt, ob die Masse der Menschen ihrem Leben wirklich selbst einen Sinn geben kann oder will, ob sie nicht vielmehr eine Sinngebung übernimmt, die andere ihr anbieten. Der Liberale glaubt jedenfalls unumstößlich daran, daß jeder Mensch grund­sätzlich in der Lage ist, seine eigenen Wertvorstellungen festzulegen, wenn er ihnen heute aus mancherlei Gründen vielleicht auch nur in einem relativ kleinen Teilbereich seines Lebens, vielleicht nur in seiner Privatsphäre, gerecht werden kann. 

Dem moralisch verantwortungsbewußten Handeln liegt ohne Zweifel eine Überzeugung zugrunde, die individuell reflektiert ist, sie kann nicht einfach nur eine unkritische Übernahme von Doktrinen, Ideologien oder Religionen sein. Freilich wird die Rechtfertigung vorgeblich moralischer Handlungsweisen des öfteren mit Hilfe solcher Gebäude aus Gedanken und Mythos versucht, sie entbehrt in diesem Falle auch nicht der von vielen Ideologien geforderten Disziplin, die Rechtfertigung eines frei und selbstverantwortlich handelnden Individuums ist sie dann indes nicht. Ich weiß, daß ich mich wieder ins Reich der Ideale begebe, wenn ich fordere, daß der Mensch vermöge seiner eigenen Vernunft seine Handlungen begründen soll und nicht mit Hilfe von vorgefertigten Meßlatten, die man ihm allerorten andient. Aber auch hier besagt die zu konstatierende Tatsache, daß niemand dieses Ideal je vollständig erreichen wird, nicht, daß wir es nicht anstreben sollten. Nur so sind wir in der Lage, uns selbst eine Antwort auf die Frage Freiheit wozu? zu geben, statt sie uns von anderen beantworten zu lassen. Vielleicht können wir damit auch dem nahe kommen, was die meisten Philosophen übereinstimmend letztlich für den Sinn des Lebens ansehen: das persönliche Glück, das näher beschreiben zu können ich mir nicht anmaße. Lediglich zu dem Weg dahin und über seine Rahmenbedingungen vermag der Liberale etwas zu sagen, nicht über seinen jeweils persönlichen Inhalt. Und dieser Weg kann nur gegangen werden in einer freien Gesellschaft, die auf dem Fundament von Humanismus und Naturrecht erbaut ist. Denn nur diese Gesellschaft bietet Vielfalt und Toleranz, damit die Möglichkeit der Wahl, nur sie garantiert die Men­schenrechte und damit die Würde jedes einzelnen. 

An dieser Stelle will ich meinen ersten Definitionsversuch, den für die »Freiheit der Person« abschließen und übergehen zum zweiten, dem der »sozialen Solidarität«. 

In dem, was ich bisher dargestellt habe, mußte zwangsläufig immer wieder auf die Verbindung, den Zusammenhang der beiden Begriffe des Themas hingewiesen werden. Sie sind für einen Liberalen isoliert voneinander nicht vorstellbar. Freiheit ist nämlich immer nur zu definieren unter den Bedingungen gesellschaftlicher Realität, sie ist eben nicht nur negativ als Abwesenheit von Zwang, sondern notwendigerweise gleichzei­tig auch positiv als Freiheit zu persönlichem und gesellschaftli­chem Handeln anzusehen. Nur dann läßt sich politischer Anspruch mit der Maßgabe individueller und gesellschaftlicher Freiheit definieren. Alle Konsequenzen, die aus solchen Ansprüchen entstehen, bedürfen der gesellschaftlichen oder sozialen Solidarität. Dabei geht es um die Organisation und die Systematik der freien Übereinkünfte, also nur um den einen Teil der sozialen Solidarität, denjenigen nämlich, der in dem Dreiklang »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« durch den Begriff der Gleichheit abgedeckt ist. Damit will ich mich zunächst befassen, zum Bereich, auf den der Grundwert Brüderlichkeit oder auch moderner: Solidarität anzuwenden ist, werde ich später kommen. 

Gleichheit bedeutet nach klassisch liberaler Vorstellung zuerst Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz. Keineswegs Gleichmacherei oder Nivellierung persönlicher Ansprüche. Zunächst sollen alle Menschen dem Gesetz gegenüber gleich behandelt werden. Eine solche Forderung setzt voraus, daß Recht und Gesetz durch solidarische Übereinkunft entstanden sind: In der Geschichte fast aller freien Demokratien durch die Proklamation einer Verfassung, die mehrheitlich – in ihrem Grundrechtsteil meist durch Zweidrittel-Mehrheit – beschlos­sen wird. Bereits in diesem Akt der Rechtsetzung bedarf es der sozialen Solidarität, das heißt: des Bemühens, die berechtigten Forderungen aller Volksgruppen auf der Basis der Menschen­rechte möglichst umfassend zu berücksichtigen und festzu­schreiben. Natürlich wird diese rechtsetzende Tätigkeit schon zu Kompromissen führen müssen, und sie wird keineswegs allen gerecht werden können. Wenn aber der Satz richtig ist, daß die demokratische Qualität eines Staatswesens an der Art und Weise zu messen sei, wie es mit seinen Minderheiten umgeht, dann muß auch die Qualität einer Verfassung daran gemessen werden, in welchem Maße sie den Minderheiten im Volke gerecht wird. Das liberale Toleranzgebot, von dem bereits früher die Rede war, ist also eine der Grundlagen für eine freie Verfassung. 

Das alles klingt in der Theorie so selbstverständlich, daß man es fast gar nicht mehr betonen müßte. Wie aber sieht die Wirklichkeit aus? Wie steht es mit dem solidarischen Eintreten für diese Verfassungsprinzipien in der Bundesrepublik? Sicher, die Spielregeln für den Prozeß der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung werden meist eingehalten, wenigstens nach außen. Die großen Interessengruppen und ihre Lobby jedoch versuchen immer wieder und allzu oft – man gestatte mir das böse Wort: skrupellos ihre eigenen Ziele zu erreichen, ohne daß sie die vielleicht mindestens ebenso berechtigten Ziele anderer weniger mächtiger Gruppen berück­sichtigen. Sie nutzen die rein formalen Möglichkeiten, die die Verfassung bietet; den Geist, der den Verfassungsinhalt prägt, vergessen sie dabei allzu oft. Die Gewaltenteilung in Regierung, Parlament und Gerichte, die den Bürger vor Machtmißbrauch schützen soll, versagt des öfteren, weil alle drei Bereiche von den gleichen Interessen beherrscht werden. Das sind harte Worte, ich weiß. Aber sie entsprechen der Wirklichkeit. Die Gleichheit vor dem Gesetz ist nur dann kein leeres Wort, wenn alle sie solidarisch für alle verteidigen, nicht wenn jeder nur das Schlupfloch für seine eigenen Interessen in den mehr oder weniger feinen Maschen von Recht und Gesetz ohne Rücksicht auf andere herauszutüfteln versucht. Mehrheitsentscheidungen, die sich als Gesetze artikulieren, dürfen nicht dazu führen, daß eine große Gruppe auf Kosten einer kleineren zu ihrem vermeintlichen Recht kommt. Das wäre gewiß keine soziale Solidarität. 

Ralf Dahrendorf, der Vorsitzende der Friedrich-Naumann­ Stiftung, hat kürzlich in einem Vortrag zum 25jährigen Jubi­läum der Stiftung bedauert, daß die großen Parteien in der Bundesrepublik heruntergekommen sind zu Macht- und Inter­essenverwaltungsinstituten, von denen kaum noch eine Initiati­ve zur Gestaltung der Gesellschaft ausgeht. Wenn diese Feststel­lung zutrifft, und ich zweifle nicht daran, liegt hier eine der Ursachen für die anscheinend übermächtigen Probleme, mit denen wir zu kämpfen haben. Konkreter gesagt heißt das: Die Volksvertreter fragen in erster Linie danach, was ihrer Klientel, nicht danach, was dem Gemeinwesen nützt. Sie üben also allenfalls eine eingeschränkte soziale Solidarität. 

Ich will nicht in Wehgeschrei ausbrechen, auch nicht daran herummäkeln, daß die meisten Menschen offensichtlich zuerst ihre eigenen Interessen und dann erst die anderer im Auge haben. Ich will aber darauf hinweisen, daß Interessengruppen sich nur scheinbar einen Gefallen damit tun, wenn sie den sozialen Aspekt ihrer Anstrengungen vernachlässigen. Sie wer­den dann auf Dauer die Freiheit der Gesellschaft und damit die Freiheit der Menschen preisgeben. 

Soziale Solidarität und Gleichheit vor dem Gesetz – in mancher Beziehung ist das ein heikles Thema, auch unter Liberalen. Viele meinen nämlich, das eine bedürfe nicht des anderen, sondern werde vielmehr durch das andere ersetzt. Nach dem Motto: Wenn ich mich strikt an die Gesetze halte, habe ich meiner staatsbürgerlichen Pflicht genüge getan. Für die » soziale Arbeit« gibt es andere, es genügt, wenn ich meine

» Sozialabgaben« zahle. Ein solcher Standpunkt übersieht, daß in einer freien Gesellschaft Gesetze nur durch demokratische Prozesse, also durch solidarisches Handeln zustandekommen dürfen; daß die Herrschaft von Menschen über Menschen durch die Herrschaft des Rechts ersetzt werden soll. Eines Rechts, dem sich alle gleichermaßen zu unterwerfen haben. Und bezeichnen­derweise schreien immer diejenigen am lautesten Zeter und Mordio, die sich nicht am Zustandekommen von demokrati­schen Übereinkünften beteiligt haben, wenn sie davon negativ betroffen sind. Sicher, hier ist schon wieder der homo politicus gefordert. Und auch hier sind die gleichen Einwände zulässig, wie bereits im ersten Teil meines Textes. Aber in der Demokra­tie ist in der Tat ein Mindestmaß an freiwilliger Beteiligung des einzelnen gefordert, wenn sie funktionieren soll.

Das zeigt sich vor allem dann, wenn wir übergehen zum Bereich der sozialen Solidarität, für den in der französischen Revolution der Begriff der Brüderlichkeit geprägt wurde. Hier führen solidarische Übereinkünfte nicht zu Gesetzen oder Verordnungen, sie werden vielmehr ganz freiwillig getroffen. Die Gesetze des Staates bilden dabei nur den Rahmen, der allgemeine, nicht zu verletzende Grenzen setzt.

Daneben gibt es den Bereich der orgams1erten sozialen Solidarität, in der Bundesrepublik gekennzeichnet durch den Begriff der Solidargemeinschaft. Er bezeichnet einen großen Teil unserer Sozialgesetzgebung, die den nicht oder nicht mehr im Erwerbsleben Stehenden die materielle Existenz sichert. Dies geschieht dadurch, daß diejenigen, die Geld verdienen oder besitzen, Abgaben entrichten, mit denen ein Teil der Soziallei­stungen finanziert wird. Die Renten und Kindergelder zum Beispiel. Für dieses Verfahren schreibt der Staat durch Gesetze die Einzelheiten vor. 

Staatlichen Rahmensetzungen, nicht aber Detailregelungen, unterliegen im gesellschaftlichen Bereich die Tarifverhandlun­gen der Sozialpartner. Auch hier gibt es in der Form der solidarischen Übereinkunft das Verfahren des Aushandelns von Tarifverträgen. Die Autonomie liegt allerdings bei den Partnern selbst. Der Staat mischt sich dort allenfalls durch Empfehlungen ein – dies aber mit durchaus unterschiedlicher Intensität. Eine solche Organisation sozialer Fragen in der Gesellschaft ent­spricht dem sogenannten Subsidiaritätsprinzip, nach dem der Staat in sozialen Angelegenheiten erst dann tätig werden soll, wenn diese Angelegenheiten durch gesellschaftliche Institutio­nen, eben die Sozialpartner oder auch Kirchen, Gewerkschaften und andere Verbände, nicht geregelt werden können. 

Durch dies verschränkte System sozialer Zuständigkeiten hat sich ein relativ kompliziertes Versicherungs- und Versorgungs­wesen entwickelt, das sowohl für nahezu alle Bürger des Staates Absicherungen schafft, aber auch Möglichkeiten zum Miß­brauch eröffnet. Wir haben wegen der angespannten Wirt­schafts- und Beschäftigungslage in der Bundesrepublik gerade gegen solche Mißbrauchstendenzen zu kämpfen und machen fast täglich die Erfahrung, wie problematisch es ist, mit der freiwilligen Solidarität der privilegierten Gruppen, die zum Beispiel einen Arbeitsplatz haben, gegenüber den benachteilig­ten, die arbeitslos sind, zu rechnen. Zwar wird in allen Verlautbarungen aller Interessengruppen immer wieder verkün­det, daß der unverschuldet in soziale Not geratene einzelne deswegen keine unzumutbare Beschneidung seiner persönlichen Freiheit erleiden darf; wenn dafür allerdings vor allem materielle Opfer von eben diesen Gruppen gefordert werden, die in aller Regel zu keinen besonders hohen Einschränkungen ihrer eigenen Freiheit führen würden, sind die Schmerzensschreie meist überlaut. Darauf folgt in aller Regel der Ruf nach dem Staat, der anstelle anderer alles ordnen und die Karre aus dem Dreck ziehen solle – übrigens unterscheiden sich Arbeitgeber­und Arbeitnehmerorganisationen in dieser Beziehung kaum. 

Sicher, oft hat sich der Staat an einem solchen Zustand die Schuld oder die sogenannte Schuld auch selbst zuzuschreiben, dann nämlich, wenn er zu viele Aufgaben des sozialen Bereichs von sich aus an sich gezogen hat, statt sie der freien Überein­kunft von Gruppen in der Gesellschaft zu überlassen. Gewiß: Eine Mindestabsicherung sollte von Staats wegen garantiert sein, was aber darüber hinaus geht, sollte nach Möglichkeit durch Eigeninitiative und in Eigenverantwortung der Bürger geleistet werden. Nur so bleibt eine Gesellschaft mobil und empfindet den „ Vater Staat« nicht als einen übermächtigen Moloch, der am Ende gar bis in die Schlafzimmer seiner Bürger vordringen will. 

Um nicht mißverstanden zu werden: Obwohl der Staat sich als Handelnder zurückhalten sollte, hat er selbstverständlich die ihm und niemand sonst zukommende Funktion des Wächters über die Chancengerechtigkeit wirkungsvoll auszuüben. Er kann es nicht zulassen, daß zum Beispiel durch gesellschaftliche Machtkonzentration der in der Verfassung festgeschriebene Freiheitsspielraum des einzelnen willkürlich beschnitten wird, so daß mächtige Gruppen schwächere unterdrücken können. In solchen Fällen hat er einzuschreiten und hierfür müssen ihm wirkungsvolle Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Im übrigen aber sollte er sich möglichst zurückhalten.

So verstandene soziale Solidarität setzt zweierlei voraus: Erstens eine demokratische Organisation von Staat und Gesell­schaft, die dem einzelnen die Chance bietet, mitzubestimmen, und zweitens die Möglichkeit für den einzelnen, sich aufgeho­ben zu wissen in der Gesellschaft, sich als ihr zugehörig zu empfinden. Es nützt wenig, wenn staatliche und gesellschaftli­che Institutionen zwar ein gutes Versorgungssystem anbieten, der einzelne aber keine Chance hat, seine eigenen Wertvorstel­lungen zu entwickeln und sich mit anderen, die dieselben Werte vertreten, solidarisch zu fühlen. Wenn ich darauf hinweise, so habe ich die grausige Vision von Orwell‘s 1984 vor Augen. Sie zeigt in ihrer warnenden und mahnenden Darstellung dessen, was machbar und möglich ist, daß sich soziale Solidarität nicht nur auf die materielle Versorgung der Menschen beziehen darf. Wenn das Versorgungsdenken in sinnentleerte Organisations­strukturen mündet, in denen der einzelne zwar genug zu essen und zu trinken, aber nicht genug zu denken und zu empfinden hat, dann ist sein Unglück programmiert. Es kommt deshalb darauf an, Prozessen in Staat und Gesellschaft gegenüber kritisch zu bleiben. Kritisch dann, wenn sie Schwächere und Minderheiten benachteiligen oder wenn sie die Menschen unmündig machen, wenn Grund- und Menschenrechte, wenn Humanität und Menschenwürde bedroht sind. Auch dies ist ein Gebot der sozialen Solidarität. Der Demokrat darf sich nicht erst dann engagieren, wenn er selbst betroffen ist, sondern er muß seine Solidarität auch dann unter Beweis stellen, wenn andere durch staatliche oder gesellschaftliche Maßnahmen betroffen sind, die den Grundsätzen der freiheitlichen Verfas­sung widersprechen. Als letzte Möglichkeit, wenn alle anderen rechtlichen Wege nicht mehr gangbar sind, billigt die Verfassung der Bundesrepublik ihren Bürgern dafür das Recht auf Widerstand zu.

Soziale Solidarität und Brüderlichkeit ist also sowohl ein Thema, das die in und für die Gesellschaft handelnden Indivi­duen betrifft, es ist aber auch eines, das den einzelnen ganz privat angeht. Durchaus im biblischen Sinne des Satzes: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst. Friedrich Naumann hat diese Forderung der Bibel ganz gewiß im Kopf gehabt, als er das Programm eines sozialen Liberalismus formulierte. Er war von Haus aus Theologe und arbeitete anfangs in der Inneren Mission. Freilich hat er das Christentum niemals als Dogma empfunden, hat auch vor einer Verquickung von Kirche und Staat gewarnt; den Teil der Soziallehre aber übertrug er auf seine Politik. Für ihn war der selbstbewußte und kritische Bürger zugleich der von moralischen Handlungsmaximen geprägte einzelne, dem das Prinzip der Brüderlichkeit auch ohne gesellschaftliche Vorgaben ganz selbstverständlich war. Dieses Verständnis, das noch zu Naumanns Zeiten sich darstellte in Form von freiwilliger Nachbarschaftshilfe, christlicher Fürsor­ge und auch genossenschaftlicher sowie gewerkschaftlicher Organisation, geht in der modernen Gesellschaft, die an der Schwelle zum Computerzeitalter steht (oder sind wir gar schon mitten darin?), mehr und mehr verloren. Die Menschen sind isoliert, sie fühlen sich nicht mehr zuständig für die Nöte und Sorgen der anderen. Ich weiß, es hilft wenig, diesen Zustand zu bedauern oder aus der Gesellschaft auszusteigen und zum sogenannten alternativen Leben Zuflucht zu nehmen. Die fortschreitende Versachlichung der Welt mit ihren vorn geschil­derten Bedrohungen können wir damit nicht aufhalten. 

Was können wir tun? Ich habe kein Patentrezept, eines allerdings, meine ich, dürfen wir niemals aufgeben: die Huma­nität. Der Mensch ist das Maß aller Dinge, so lautet der zentrale Satz des aufgeklärten Humanismus. Ich weiß, daß er vor allem in der Theologie, aber auch in materialistischen Ideologien sehr umstritten ist. Die Liberalen aber haben den Menschen immer in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen gestellt; heute wird mit Blick auf das technische Zeitalter bei ihnen oft die Forderung zur »Rückkehr zum menschlichen Maß« laut. Das menschliche Maß aber meint auch die Brüderlichkeit, das Mitgefühl, die Hilfsbereitschaft. Ich weiß, daß man in der Politik über solche vermeintlich mehr privaten Dinge heutzutage ungern spricht. Dort geht es um die Gestaltung staatlicher Maßnahmen. In der Bundesrepublik vertrat der sozialdemokratische Kanzler Hel­mut Schmidt die Meinung, ein Politiker habe sich um die Moral möglichst wenig zu kümmern, er dürfe nicht den Vordenker der Nation spielen wollen. Er sei also nicht dazu da, den Menschen ihre Wertungen vorzuschreiben. Er hat sicher Recht; was aber nicht ausschließt, nicht ausschließen darf, daß die Politiker sich in ihrem Handeln immer wieder besinnen müssen auf die Grundlage der Verfassung: auf Humanismus und Aufklärung.

Der konservative Kanzler Helmut Kohl wiederum hatte nichts eiligeres zu tun, als in seiner Regierungserklärung die geistige Erneuerung anzukündigen. Auch das ist keine liberale Haltung. So wenig wie die geistigen und moralischen Grundla­gen der Verfassung vergessen werden dürfen, so wenig darf sich der Politiker anmaßen, dem Bürger die Wertvorstellungen seiner jeweiligen Partei zu oktroyieren. 

Zum Schluß möchte ich versuchen, die beiden Begriffe meines Themas als eine Einheit zu betrachten. Die liberale Theorie geht davon aus, daß der einzelne die Verantwortung für die Freiheit hat, sowohl für seine eigene als auch für die der Gesellschaft. Immanuel Kant hat das Verhältnis der Menschen zueinander unter der oben formulierten Prämisse folgendermaßen festge­legt: »Niemand kann mich zwingen, auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zweck nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann ( das ist diesem Rechte des anderen), nicht Abbruch tut.« Eine Definition, wie sie besser nicht sein könnte – wenn man einmal von dem Kant leider eigenen System des Schachtelsatzes absieht. Eine Definition, die der menschlichen Vernunft zutraut, den eigenen Anspruch auf Freiheit mit dem aller anderen in Einklang zu bringen. 

Den Grundstein für die Kantische Philosophie legte kein geringerer als Sokrates, der große, vielleicht der größte Sohn Griechenlands. Ich stieß bei der Erarbeitung dieses Textes auf einen meiner Meinung nach haargenau zutreffenden Satz des Schweizer Philosophen Charles Werner. Er schreibt: »Wenn man Sokrates als den Begründer der Philosophie angesehen hat, dann deshalb, weil er als erster die Vernunft als das wahre Prinzip hingestellt hat und erkannte, daß diese Vernunft nicht nur alle Dinge zu ihrem Ziele führt, sondern sie allein auch den Menschen zur Erfüllung seines Schicksales bringen kann!« Hinter diesen Satz stellt Werner ein Rufzeichen, und er ist dieser Bekräftigung durchaus würdig. Auch wenn der deutsche Den­ker Friedrich Nietzsche diesem Standpunkt vorgeworfen hat, er drücke nur die halbe Wahrheit aus und unterdrücke das Dionysische, Mythos und Irrationalität, aus dem zum Beispiel die künstlerische Kreativität des Menschen gespeist werde. Er mag Recht haben, keineswegs aber könnte dadurch die Leistung des Sokrates geschmälert werden. Der Liberale jedenfalls beruft sich darauf und läßt es nicht zu, daß an die Stelle der Vernunft ein anderes Prinzip gesetzt werde. Nur die solidarische Ver­pflichtung der Menschen auf die Vernunft ermöglicht die Freiheit von Individuum und Gesellschaft. Und durch diese Freiheit allein ist Kreativität möglich, die Werte entwickelt und das Leben mit Sinn erfüllt. 

Die Freiheit der Person ist allerdings niemals gesichert, unter keiner Regierungsart oder Verfassungsform. Sie muß vielmehr täglich neu durch soziale Solidarität erstritten werden. Alle von Menschen geschaffenen Institutionen, auch die demokratisch strukturierten, neigen nämlich zur Verfestigung und verlieren immer wieder ihre Übereinstimmung mit der jeweiligen histo­rischen Realität. Deshalb müssen sie ständig fortentwickelt werden und kritikwürdig bleiben. Nur so lassen sich Staat und Gesellschaft mit Leben erfüllen. Für den einzelnen bedeutet das dauernde Wachsamkeit und Zivilcourage. Die Demokratie braucht nicht den Duckmäuser und Opportunisten, sondern den kritischen und selbstbewußten Bürger. So jedenfalls sieht es der Liberale. 

Der Engländer Bertrand Russell hat diese Auffassung in die Form von »Zehn Geboten eines Liberalen« zu bringen versucht. Er veröffentlichte sie am 16. Dezember 1951 in der New York Times unter der Überschrift: »Die beste Antwort auf Fanatiker: Liberalismus.« Diese zehn Gebote möchte ich komplett zitie­ren:

1. Fühle dich keiner Sache völlig sicher.

2. Trachte nicht danach, Fakten zu verheimlichen, denn eines Tages kommen die Fakten bestimmt ans Licht.

3. Versuche niemals, jemanden am selbstständigen Denken zu hindern, denn das würde dir gewiß gelingen.

4. Wenn dir jemand widerspricht, und sei es dein Ehegatte oder dein Kind, bemühe dich, ihm mit Argumenten zu begegnen und nicht mit Autorität, denn ein Sieg, der von Autorität abhängt, ist unrealistisch und illusionär.

5. Habe keinen Respekt vor der Autorität anderer, denn es gibt in jedem Falle auch Autoritäten, die gegenteiliger Ansicht sind.

6. Unterdrücke nie mit Gewalt Überzeugungen, die du für verderblich hältst, sonst unterdrücken diese Überzeugungen dich.

7. Fürchte dich nicht davor, exzentrische Meinungen zu vertre­ten; jede heute gängige Meinung war einmal exzentrisch.

8. Freue dich mehr über intelligenten Widerspruch als über passive Zustimmung, denn wenn dir Intelligenz soviel wert ist, wie sie dir wert sein sollte, dann liegt im erstgenannten eine tiefere Zustimmung als im letztgenannten.

9. Befleißige dich peinlich der Wahrheit, selbst dann, wenn sie nicht ins Konzept paßt; denn es paßt noch viel weniger ins Konzept, wenn du versuchst, sie zu verbergen.

10. Beneide nicht das Glück derer, die in einem Narrenparadies leben, denn nur ein Narr kann das für Glück halten. Sicher, hier handelt es sich ganz überwiegend um den Anspruch eines freien Geistes, einer freien Persönlichkeit – die allerdings, das habe ich zu zeigen versucht, nur im Rahmen der sozialen Solidarität bestehen kann.