Eine Zwischenbilanz zur deutschen Einheit
Dieser Band soll Defizite im Vereinigungsprozeß nicht verschweigen, aber auch Leistungen zur Sprache bringen. Nur so ergibt sich ein vielschichtiges Bild, das der komplexen Realität entspricht. Eine angemessene Diagnose bildet die Voraussetzung für weitere Verbesserungen. Gesundbeterei ist damit nicht verbunden.“ (S. 14) So heißt es in den einleitenden Überlegungen, die Ralf Altenhof und Eckhard Jesse zu ihrem Sammelband „Das wiedervereinigte Deutschland“ anstellen. Es ist allemal ein schwieriges Unterfangen, in einer Zeit, deren politische Konturen sich von Tag zu Tag verändern, eine Zwischenbilanz der Entwicklung anzubieten. Zumal wenn es sich um etwas so Unausgegorenes wie den Vereinigungsprozeß zweier mehr als vierzig Jahre in fast jeder Hinsicht voneinander getrennter Teilstaaten und ihrer Menschen handelt, die eben erst fünf Jahre Zeit hatten, sich unter einem gemeinsamen Dach zu arrangieren. Jedoch läßt schon die Auswahl der Autoren eine anregende Lektüre erwarten: Neben bestens in die öffentliche Debatte eingeführten Namen (Jürgen Falter, Eckhard Jesse, Cora Stephan, Paul Noack, Henri Ménudier, Oscar Gabriel, Richard
Woyke) findet man die jungen Wissenschafter, deren Publikationsliste noch nicht allzu lang ist.
Das Buch untergliedert sich in vier Teile die den ausführlichen einleitenden Überlegungen folgen. Zunächst geht es um die Innenpolitik, und hier speziell um Wahl- und Parteienforschung, politischen Extremismus und Vergangenheitsbewältigung. Danach wird teilweise sich Überschneidendes, aber auch mit dem ersten Teil Korrespondierendes unter der Überschrift ,,Ausgewählte Policy-Bereiche“ zusammengefaßt. Die Qualität des Einigungsvertrages, die wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen sowie die Angleichung der Lebensverhältnisse werden kritisch untersucht. Teil drei behandelt die deutsch-deutschen Bewußtseinslagen. Ob wir es mit einer neuen oder einer erweiterten Bundesrepublik zu tun hätten, wird gefragt, wie es um die politische Kultur in Deutschland stehe, ob wir von einer DDR-Nostalgie sprechen könnten, wie sich die politische Einheits-Rhetorik beschreiben lasse und was man über die Intellektuellen hüben und drüben sagen könne. Schließlich finden wir im vierten Teil die Sicht von außen und die Außenpolitik. Um die Urteile der Nachbarn geht es dort, um die Einbettung Deutschlands in den Europäischen Einigungsprozeß, um die Frage der Kontinuität deutscher Außenpolitik und um die Aussichten der „Berliner Republik“. Den Abschluß des Buches bildet eine annotierte Bibliographie, die dem Leser einen zusätzlichen Einblick in die aktuelle Debatte ermöglicht.
Nun ist ein Sammelband nicht unbedingt dazu da, von vorn bis hinten gelesen zu werden. Dem Interessierten bietet er die Möglichkeit, sich das herauszupicken, was ihn besonders neugierig macht. Liest man dies Buch dennoch Aufsatz für Aufsatz, so hat man nach dem ersten Teil das Gefühl, von Fakten und Daten gesättigt, um nicht zu sagen: ein wenig übersättigt zu sein. Durch wissenschaftliche Solidität beeindruckt, stellt sich der Rezensent doch die Frage, ob hinter die Darstellung der fast mechanistisch zusammenwirkenden, vor allem demoskopischen Forschungsergebnisse das Inhaltliche der Politik, ihr Gehalt, nicht allzu weit zurücktreten muß. Wenn es zum Beispiel nur noch darum geht, mit welcher Strategie welche Wählerpotentiale von welcher Partei zu erschließen sind, und nicht mehr oder doch allzu marginal untersucht wird, ob sich das inhaltliche Selbstverständnis der jeweiligen Partei und ihrer Mitglieder mit einer solchen Strategie überhaupt verträgt, dann wirkt die Darstellung gelegentlich ein bißchen „blutleer“. So ging es mir etwa bei der Frage einer eventuellen „schwarz-grün-Koalition“ und bei den Spekulationen über den künftigen Ort der FDP. Kleine Anmerkung am Rande: Es ist die seit Jahren, und auch hier wieder, kolportierte Falschmeldung richtigzustellen, Ralf Dahrendorf sei einer der Vordenker sozialliberaler FDP-Politik und ihrer Programme in den siebziger Jahren gewesen. Er hat diese Richtung vielmehr stets zurückgewiesen und hält sie nach wie vor für „nostalgisch und romantisch“.
Überhaupt ist das vielleicht der Schwachpunkt des Buches, der freilich aus einer streng politikwissenschaftlich angelegten Konzeption zwangsläufig resultieren mag: daß es meist nicht so sehr um inhaltliche Bewertungen, sondern um die Darstellung und demographisch nachweisbarer Ergebnisse, Entwicklungen und Trends sowie um die Erläuterung politischer Deklarationen und Handlungsmuster geht – weniger darum, sie zu hinterfragen. Eine zusätzliche Schwierigkeit ergibt sich dabei aus der atemberaubenden Geschwindigkeit, mit der sich die Realität seit 1989 verändert: Einige Daten (etwa die Tabelle über das „Lohn-Niveau im Ost-West-Vergleich“ auf Seite 209) sind schlicht veraltet und erschweren es dem Leser, die gegenwärtigen Trends tatsächlich einigermaßen zutreffend zu bewerten.
Jedoch soll es hier nicht um Erbsenzählerei gehen. Vielmehr stellt sich mir die Frage, ob der allgemeine Eindruck, den das Buch vermittelt, daß nämlich die Dominanz des Westens und seiner Regeln die Vereinigung insgesamt zu einem erfolgreichen, wenn nicht gar zu einem überaus erfolgreichen Projekt gemacht habe, so wirklich stimmt – und vor allem, ob er weiterhilft beim Nachdenken über den Vereinigungsprozeß und seine zukünftigen Erfordernisse. Gewiß, die Fakten sprechen für sich, daran ist kaum zu rütteln, auch wenn sie gelegentlich schon überholt sind. Jedoch gibt es inhaltliche Bereiche, die (nicht nur im hier vorgestellten Sammelband) allzu knapp repräsentiert sind, und dazu zählt für mich die Art und Weise, wie unsere Verfassung von den Politikern, von den Medien und vom Volk behandelt worden ist, wie mit ihr umgegangen wurde und wird. Diesem Komplex widmen sich in einzelnen Beiträgen zwar einige Kapitel, auch immer wieder kürzere Exkurse, nicht aber zentrale Überlegungen. – Wäre nicht eine Vereinigung nach Artikel 146 des Grundgesetzes geboten gewesen, eine direkte Zustimmung des gesamten deutschen Volkes zu einer neuen Verfassung? Und ist es wirklich so, daß das unzweifelbar imponierend voranschreitende Projekt der Einheit im nachhinein auch die Vereinigung nach Artikel 23 rechtfertigt? Cora Stephan wendet Bedeutsames dagegen ein und formuliert dazu eine in jeder Hinsicht bedenkenswerte Anmerkung: „Tatsächlich hätte eine Veränderung des Staatsbürgerrechts (vom ius sanguinis zum ius soli – K. H.) im Zuge der Neugründung, der ,Dritten Republik‘, nicht nur die Vergangenheit der Volksgemeinschaft unter Anerkennung ihrer Verdienste würdig verabschiedet, sondern zugleich eine gemeinsame Bezugsgröße geschaffen, die womöglich auch für die westdeutschen ,Wirtschaftsbürger‘ hinreichend, nämlich politisch, definiert hätte, worauf und auf wen sich ihre Solidarität bezieht: auf die Staatsbürger, nicht auf die Volksgenossen. Erst auf dieser Basis kann sinnvoll dann auch über eine Erweiterung des Solidaritätsrahmens gesprochen werden“ (S. 305).
Es ist die Frage der politischen Verantwortung, der Solidarität nach innen und außen, die heute fast nirgendwo befriedigend beantwortet werden kann. Nicht nur weil etwa Günter Grass, einer der wenigen Intellektuellen, die diese Frage unbeeindruckt vom Erfolgsprojekt der Vereinigung zu klären versuchen, gar von Verfassungsbruch spricht, weil das vereinigte deutsche Volk nicht gemäß Artikel 146 über eine neue Verfassung abgestimmt habe, ist hier ein Unbehagen in der öffentlichen Diskussion zu spüren – auch und vor allem, weil wir Deutschen unentschieden, ja, ratlos sind, wie wir denn mit unserer neuen Rolle nach innen und außen umgehen wollen. Nirgendwo wird das deutlicher als in den Debatten um unsere Außenpolitik. Dazu liefert das Buch ein gelungenes Kapitel, das sowohl die Befürchtungen und Hoffnungen unserer Nachbarn als auch die Probleme mit unserem Selbstverständnis als nunmehr souveräne Nation im Konzert der Wirtschafts- und Militärmächte darstellt. „Mancher deutsche Michel würde so gern in einer größeren Schweiz leben“ (S. 342), so bringt es der Franzose Henri Ménudier auf den Punkt. Freilich erscheint dieser Wunsch angesichts des neuen deutschen Gewichts gänzlich verfehlt. Zweierlei ist nötig, wovon das eine in den betreffenden Beiträgen unstrittig ist, das zweite eher in Umrissen sichtbar wird: Erstens kann sich Deutschland nur im Rahmen der Europäischen Union und der NATO zu einem aktiven Faktor von Stabilität und Frieden in der Welt fortentwickeln; zweitens muß die souveräne deutsche Nation dieselben Pflichten und Rechte in der Völkerfamilie übernehmen wie alle anderen auch. Daß es uns überaus schwerfällt, dem zweiten Punkt zu entsprechen und die bequeme Nischenexistenz der alten Bundesrepublik aufzugeben, stellt Wolfgang-Uwe Friedrich anschaulich im abschließenden Beitrag des Buches dar, der dem Leser zugleich noch einmal eine Revue der nunmehr fünfjährigen Entwicklung Deutschlands zu einer eigenständigen Nation vor Augen führt. Wohltuend die klare zusammenfassende Analyse: „Die Westbindung gehört zum Grundkonsens deutscher Außenpolitik“ (S. 419). Insgesamt ist also ein Sammelband anzuzeigen, auf dessen Lektüre niemand verzichten sollte, der sich ein Bild machen will über die Leistungen und Defizite deutscher Politik seit 1989. Die sorgfältige Aufbereitung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse wird manchen dazu veranlassen, viele in den Medien liebe- und absichtsvoll gepflegte Vorurteile von den Ossis, den Wessis, den Wossis, den Yessis und sonstigen Wortgeschöpfen als bewußte Stimmungsmache, als unzulässige Übertragung einzelner Phänomene auf die Gesamtsituation oder auch einfach nur als naive Larmoyanz zu entlarven. Ob die „gepflegte Tristesse“, die Cora Stephan als Grundstimmung in Talk-Shows und anderen geschwätzigen Unterhaltungsangeboten auszumachen meint, wirklich ein typisches Kennzeichen des neuen, vereinten Deutschland ist, mag im Moment dahinstehen. Zu wünschen ist jedenfalls, daß die Zukunft uns optimistischere Gemütslagen ermöglicht. Es liegt an uns allen, ihnen Auftrieb zu geben.