Leseprobe – Glück und Skepsis

I. Einleitung

1. „Glück“ und „Skepsis in der Geschichte der Philosophie

„Glück“ und „Skepsis“ werden in der Geschichte der Philosophie häufig thematisiert und miteinander systematisch in Zusammenhang gebracht. Sie stellen zwei zentrale Begriffe dar, auf die seit der Antike Denker des Abendlandes, aber, was vor allem den Glücksbegriff betrifft, auch fernöstliche Denker ihre Überlegungen fokussiert haben.1  Daß Glück für das (diesseitige und/oder jenseitige; gegenwärtige und/oder zukünftige) Leben der Menschen eines der höchsten oder gar das höchste aller Ziele sei, galt und gilt meist als selbstverständlich; bis in die Modeme, in unsere Zeit also, ist diese Auffassung zu finden, wenn an die Stelle des Wortes Glück auch häufig andere treten, die dasselbe meinen.2 Was freilich Glück sei und wie es zu erreichen sei, ist traditionell höchst umstritten; ob und inwiefern skeptisches Denken mit Glück zu tun habe, ebenfalls.

In der griechischen Klassik befassen sich sowohl Plato als auch Aristoteles mit der „Eudaimonia“, der Glückseligkeit des Menschen;3 für Epikur, den hellenistischen Philosophen, wird die Frage nach dem irdischen Glück des Individuums Mittelpunkt seines Denkens;4 Seneca, der römische Philosoph in griechischer Tradition, fragt nach dem stoischen Glück.5 Auch christlichen Denkern sind Möglichkeit und Bedingungen menschlichen Glücks zentrale Anliegen: Augustinus6 und Thomas von Aquin7 zum Beispiel entwickeln Glückslehren, die über das irdische Glück hinausweisen; Spinoza8 und Blaise Pascal9 suchen das Glück im Denken, das den Menschen mit Gott verbinde; eine Vorstellung, mit der sich ebenfalls Immanuel Kant in seiner Moralphilosophie auseinandersetzt.10 Schließlich beschäftigt die Frage nach den Möglichkeiten und Bedingungen für das Glück des Menschen auch die Philosophie des logischen Positivismus, Bertrand Russells „Eroberung des Glücks“ ist ein Beleg dafür.11 Aber nicht nur in der abendländischen Tradition spielt der Glücksbegriff eine zentrale Rolle, auch in der fernöstlichen Philosophie zum Beispiel des Buddhismus ist das Glück des Menschen eines der wichtigsten Anliegen.12 Glück hat also traditionell eine zentrale Funktion im Denken der Menschen; was freilich jeweils unter Glück verstanden wird, differiert ganz erheblich.

Mit der Skepsis verhält es sich ähnlich. Der Behauptung von Zuverlässigkeit der Erkenntnis, die Platos metaphysische Dogmatik kennzeichnet,13 treten die pyrrhonischen Skeptiker des Hellenismus entgegen, indem sie annehmen, es lasse sich nichts mit zureichender Sicherheit erkennen, vielmehr sei der Mensch stets auf der Suche;14 die akademischen Skeptiker behaupten gar, jede wahre Erkenntnis sei unmöglich und werden auf diese Weise selbst zu Dogmatikern. In dieser Tradition stehen in der Neuzeit David Hume15 und Rene Descartes;16 während Hume jedoch die Möglichkeit absolut gesicherter Erkenntnis nach wie vor verneint, will Descartes mithilfe des „radikalen Zweifels“ letzte Gewißheit finden: Alles, was nicht als absolut wahr erwiesen werden kann, könnte falsch sein, deshalb ist es so zu behandeln, als wäre es tatsächlich falsch. Der Zweifel wird so in der Neuzeit zu einem Prinzip wissenschaftlichen Denkens, das Skepsis anstelle von Dogmatismus und Indoktrination fordert, logische Beweise und „Verifikation“ grundsätzlicher Behauptungen anstelle von unbewiesenen Annahmen und Glaubenssätzen.17 Was man im Mittelalter noch der christlichen Kirche überlassen hatte: die Proklamation und argumentative Absicherung ewiger Gewißheiten, wird nun eine Aufgabe der menschlichen Vernunft. Diese Aufgabe versuchte freilich schon die griechische Klassik zu bewältigen; Platon und Aristoteles geht es um die Beantwortung der Fragen, wie man das Glück des Menschen zuverlässig definieren könne, was es bedeute und wie es zu erreichen sei. Während von ihnen aber nach objektiven Antworten gesucht wird, die für alle Menschen eine verbindliche Auskunft geben sollen, verlagern die Nachfolger der klassischen Philosophen im Hellenismus – Epikur, die pyrrhonischen Skeptiker und die Stoiker – ihre Überlegungen mehr auf das individuelle Glück, auf die Frage, was der Einzelne je nach seinen subjektiven Möglichkeiten tun könne, um sein je eigenes Glück zu realisieren. Indem der Einzelne sich seine Zwecke nun selbst setzt, wird er auch ‘seines Glückes Schmied’ – eine Vorstellung, die durchaus auch heute noch als weitverbreitet, ja, als modern gelten kann (ohne daß Rahmensetzungen, Prägungen und Fremdbestimmungen durch das soziale und kulturelle Milieu18 und ihre Bedeutung für Zufriedenheit und Glück der Menschen deshalb zu vernachlässigen wären). Wenn aber alle Zwecke erreicht sind, die sich jemand gesetzt hat (zum Beispiel – im Pyrrhonismus – auch der Zweck, sich keine Zwecke zu setzen), dann kann er sich ‘wunschlos glücklich’ schätzen, denn er gelangt zu einem Zustand der “Ataraxie”, der Erregungsfreiheit, wie Epikur und die pyrrhonischen Skeptiker ihn genannt haben, oder der “Apathie”, der Affektfreiheit, wie sich die Stoiker ausdrückten, und ist dadurch von völlig ausgeglichenem Gemüt, mithin in einer Seelenverfassung, die ihm höchstes individuelles Glück ermöglicht.19


1 Eine knappe Übersicht zur Entwicklung des Glücksbegriffes in der Philosophie findet sich in:  Martin Seel: Versuch über die Form des Glücks. Studien zur Ethik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995. Seite 9–48. – Die Entwicklung des skeptischen Denkens und ihrer Gegenargumente wird aufgezeigt in: Thomas Grundmann/Karsten Stüber (Hrsg.): Philosophie der Skepsis. Paderborn/München/Wien/Zürich: Ferdinand Schöningh 1996. Seite 9–60. – Zur buddhistiscben Glückslehre vgl.: Gustav Mensching: Buddhistische Geisterwelt. Kapitel IV: Das Heil Baden-Baden: Holle o.J. (1965). Seite 205– 217.

2 Odo Marquard weist auf das Wort „Sinn“ hin, das in der Modeme zeitweise gleichbedeutend mit „Glück“ werde: „Sinn ist ein Deckname für Glück. Es ist plausibel daß er – als Begriff für das Lohnen des Lebens – gerade im 19. Jahrhundert ins Spiel kommt. ..“ Zur Diätetik der SInnwerwartung. In Odo Marquard: Apologie des Zufälligen. Stuttgart: Reclam 1986. Seite 33 – 53. Hier: Seite 42.

3 Plato: Gorgjas. In: Sämtliche Werke. Band 1. Hamburg: Rowohlt 1957. Seite 197 – 283. – Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. München: dtv 1991. – Siehe auch: Kapitel III. Seite 52 – 54.

4 Epikur: Philosophie der Freude. Übertragen von Paul M. Laskowsky. Frankfurt am Main: lnsel 1988. – Siebe auch: Kapitel III. Seite 54 – 56.

5 Lucius Annaeus Seneca: Vom glückseligen Leben. Herausgegeben von Heinrich Schmidt. Stuttgart: Alfred Kröner 1948. Seite 1 – 29. Siehe auch: Kapitel III. Seite 56 – 57.

6 Augustinus: Bekenntnisse. Übersetzt von Joseph Bernhart. Nachwort und Anmerkungen von Hans Urs von Balthasar. Frankfurt am Main: Fischer 1955.

7 Thomas von Aquin: Summa Theologica. 9. Band. Salzburg/Leipzig: Pustet 1940. – Vgl.: Hermann Kleber. Glück als Lebensziel. Untersuchungen zur Philosophie des Glücks bei Thomas von Aquin. Münster: Aschendorff 1988. – Siehe auch: Kapitel III. Seite 57 – 60.

8 Spinoza: Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und seinem Glück. Hamburg: Felix Meiner 1922.

9 Blaise Pascal: Gedanken über Philosophie, Moral und schöne Wissenschaften. Neu herausgegeben und bearbeitet von Rudolf Altwegg. Zürich: Hofmann 1944.

10 Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Akademie Textausgabe. Band V. Berlin: Walter de Gruyter 1908. Seite 1 – 164. – Siehe auch: Kapitel III. Seite 60 – 62.

11 Bertrand Russell: Eroberung des Glücks. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977. – Siehe auch: Kapitel III. Seite 66 – 69. – Die Zuordnung Russells zum Logischen Positivismus wird hier deshalb vorgenommen, weil seine Glücks-Schrift eindeutig mit seiner wissenschaftlichen Philosophie korrespondieren, die er freilich später nicht konsequent fortführt. Vgl. dazu: Alan Wood: Die Philosophie Bertrand Russells – Fragmente zu einer Studie über ihre Entwicklung. In Bertrand Russell: Philosophie. Die Entwicklung meines Denkens. München: Nymphenburger 1973. Taschenbuchausgabe: Frankfurt am Main: Fischer 1988. Seite 266 – 288.

12 Siehe Anmerkung 1. – Im einzelnen vgl. zum Glücksbegriff in der Geschichte der Philosophie die Ausführungen in Kapitel III, Seite 51 ff.

13 Vgl. dazu: Friedo Ricken: Antiskeptische Strategien in der Antike. In: Ders.: Antike Skeptiker. München: Beck 1994. Seite 152 – 158.

14 Sextus Empiricus: Grundriß der pyrrhonischen Skepsis. Mit einer Einleitung von Malte Hossenfelder. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1968. Taschenbuchausgabe: 1985.

15 David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Hamburg: Felix Meiner 1993.

16 Rene Descartes: Meditationen. Mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen.  Hrsgg. von Artur Buchenau. Hamburg: Felix Meiner 1995.

17 Im einzelnen vgl. zur Geschichte des skeptischen Denkens die Ausführungen in Kapitel IV, Seite 93 ff.

18 Die bei Odo Marquard so genannten “Üblichkeiten”. Apologie des Zufälligen. A.a.O. Seite 122 ff.

19 Vgl: Malte Hossenfelder: Antike Glückslehren. Quellen in deutscher Übersetzung. Stuttgart: Kröner 1996. Seite XIII – XXXIV.