Leseprobe – Glücksache

Er hatte die Saitenenden wieder nicht abgeknipst: ein ganz leises Sirren, als die Gitarre vom letzten Akkord nachklang. Unachtsam, gleichgültig – auch ein bißchen rebellisch sollte es aussehen: der alte, lässige Schlendrian, übrig geblieben aus der Rockmusik-Zeit Aber wie behutsam er über die schöne goldgelbe Decke, über den Corpus aus Rosenholz strich, der an den Rändern mit silbern schimmerndem Perlmutt eingelegt war; über die kaum sichtbare Wölbung unter dem Gitarrenhals: wie über die weiche Haut einer Frau. Sein Traum, den er sich eigentlich noch immer erfüllen wollte. Der Abglanz einer großen Sehnsucht lag über seinen Augäpfeln, ein Paar mild aufscheinenden, wasserblauen Haftschalen gleich, wie die Schauspieler sie gelegentlich benutzen; schon etwas matt und fern, aber noch immer eine melancholische Sehnsucht. 

Das späte Sonnenlicht im Fenster. Johannes Schneiders bewegte sich ganz bedächtig, wie in Trance, als er mit der kostbaren Gitarre in der Hand von dem grob gezimmerten Melkschemel aufstand. Schräg gegen das Licht gehalten, gegen das abendlich ausblutende, sich vergebens gegen die Nacht aufbäumende Licht, glitzerte der farblose Holzlack wie ein Geschmeide; ein goldenes Vlies, dessen Reflexe die kunstvoll gewachsene Maserung überblendeten. 

Blauer Samt im schwarzen Gitarrenkoffer. Blausamtiges Innenfutter. Als bette er ein Kind zur Nachtruhe, legte er das Musikinstrument hinein. Der Deckel stand gähnend weit offen. Gehalten von einem elastischen Band am Übergang vom schmalen zum doppelbauchigen, doppeldickbauchigen unteren Teil des Koffers. Die silbern blitzenden Wirbel: ein Diadem in der Auslage eines Juweliers. Solange er sich rasierte und wusch, sich entkleidete, um sich neu anzukleiden, ließ er den Deckel offen. Noch im gesprungenen Rasierspiegel schaute er nach der Gitarre. Ihre vollkommen ausgewogene Form eingepaßt in den stabilen Koffer, mit ganz wenig Spiel an den Seiten.

Der grau in grau gestreifte Anzug wirkte auf Johannes Schneiders wie ein Signal für den Abstieg in eine sachlichere, prosaische, ja stumpfsinnige Welt. Gleichmütige, eisklare Augen blickten prüfend in den Spiegel, ob der Schlipsknoten korrekt säße. Korrekt, aber nicht zu steif. Melancholie schien, ein verlöschender Funke, ein letztes Mal auf, als er den Kofferdeckel schloß. Mählich senkte sich ein zuerst grauer, dann schwarzer Schatten über die helle Birkenholzdecke. Die Saiten, mattes Messing und silbriger Edelstahl, fingen noch einmal das ohnmächtige Aufbegehren der schwächer und schwächer werdenden Sonnenstrahlen ein. – Zwei kleine Schlüssel, identisch, an einem reißfesten Plastikband. Er schloß ihn ab, den Gitarrenkasten, sorgsam, obwohl überflüssig. Drehte den Schlüssel ganz herum, so weit es ging. Prüfte den Erfolg. 

Der schwarz genoppte Koffer lag hoch oben auf dem Schrank, ein paar Kartons verbargen ihn, versperrten die Sicht. Als er die Tür öffnete, richtete er einen letzten, leidenschaftslosen Blick hinauf. Die Sonne gab gerade die Fensterscheiben frei. Das goldene Licht war aus ihnen verschwunden, ganz und gar. Er schloß die Tür von außen ab, sorgsam wie seinen Gitarrenkoffer. Ließ den Schlüssel freilich stecken. Seine lauten Schritte die Holztreppe hinunter. Samstagabend und die gleichgültige Dämmeratmosphäre des Übergangs, der Diffusion, in der Tag und Nacht, Hell und Dunkel, sich durchdringen, einander ablösen. 

Der Große Bär, auch der Große Wagen gennnnt, am nächtlichen Himmelszelt. Johannes Schneiders ging mit unsicheren Schritten. Nicht nur die Wirkung des Wacholders. Zuviel Wacholder wie so oft am Samstagabend. Seine Augen abwesend; seine schwankenden Schritte mühsam dem Weidensaum entgegen, der, eine struppige Markierung, sich durch die milchig’-graue Bruchlandschaft zog. Stachliges Gewirr von Ästen und Zweigen, unbelaubt. Der bleiche Mond hing wie ein riesiger, weißfleckiger Lampion in den unsichtbaren Tauen des Himmels. 

Es schien, als wolle der schlaksige Mann nicht aufhören, geradeaus zu stolpern. Ohne Ziel, nur geradeaus. In seinem Kopf das Nachklingen der Gassenhauer aus der Musikbox: Schöne Maid, hast du heut’ für mich Zeit … Das angestrengte Nachdenken über die Gespräche des Abends. Schwer, davon loszukommen. Zwischendurch rief er sich in Erinnerung, immer mal wieder, daß er sein Motorrad hatte stehen lassen. Zum Glück. 

Ein falscher Schritt: Mit den profillosen Lederhacken voran rutschte er eine Grasschräge hinunter und rollte vornüber. Halbwegs kam er zur Besinnung, als er verquer in der Mulde lag. Über ihm ragte knochiges Weidengeäst gegen den Großen Wagen. Er ächzte, atmete schwer, erhob sich, kletterte hinauf und setzte seinen Weg fort. Behutsamer jetzt und anscheinend zielgerichtet. Bis sich die unscharfen Gedanken wieder einstellten, das mühsame Nachdenken. – Er stieß unvermittelt auf hartes Pflaster, auf Asphalt. Seine wacklige Gestalt schwenkte herum, hierher und dorthin, ruderte, vermied mit Mühe einen zweiten Sturz. Dann fand er endlich Orientierung. Den Großen Bär mit spitzem Winkel im Rücken. 

Mehr die jetzt überhand nehmende Müdigkeit, nicht der Wacholder war es, der hinderte beim Aufsperren der Haustür. Er wankte die Treppe hinauf. Der beiden Augen, deren Blicke ihm folgten, achtete er nicht. Bevor er den Binder lockerte, die vom Sturz verschmutzten Kleider abstreifte, die Kartons beiseite: Der schwarze Koffer lag an seinem Platz. Zwei Sekunden der Unschlüssigkeit: Ihn herunterholen und den Deckel öffnen? Nein, dazu war er doch zu matt, zu marod. Er entkleidete sich und blickte absichtsvoll am Zahnputzbecher über dem Waschbecken vorbei. Das Licht löschen und ins Bett. Im Fenster, hinter den Gardinen, wie ein kreisrunder Gouda, der lächerlich käsige Mond. Zum Glück hatte er das Motorrad stehen lassen. Dann schlief er. 

Mit dem Dreieinhalbtonner über die Dörfer. Aus dem Quittungsblock ragte das blaue Pauspapier: hinter der Sonnenblende. Die Bier- und Sprudelkisten rappelten und klingelten auf der Ladefläche. Kundenfahrten über das platte Land, von Montag bis Samstagmittag. Bestelltes abliefern und neue Bestellungen aufnehmen. Die Wischerblätter krächzten und ächzten. Schlieren vom Tau der Nacht. Aufgeweichte Insektenleichen klebten vor der Scheibe, wurden von den Wischern zermalmt, bildeten einen organischen Film, der allmählich weggewischt wurde, jedoch Spuren hinterließ, die nur mithilfe des rauhen Fliegenschwamms an der Tankstelle zu beseitigen waren. Johannes Schneiders fuhr wie in Trance. Benommen vom Sonntag, von der abermaligen Alkoholausschweifung. Die viel zu kurze Nacht. – Jetzt hauptsächlich Leergut, bevor er zur Niederlage mußte, neu beladen. 

Ein schäbiges Grinsen setzte sich gegen die dumpfen Schädelschmerzen durch. Sie hatten im Gasthaus von der roten Paula erzählt, von dem rothaarigen Rasseweib. Ihr Mann fuhr auf einem Kahn, Binnenschiffahrt. Aber keiner kriegte sie, obwohl sie alle um sie rumlungerten, wenn Mecki, ihr Alter, auf seinen Reisen war. Dabei hatte sie eine bumsfidele Vergangenheit; hetärisch nannte sie Ottmar, der Studentenspinner. An jedem Finger zehn, wenn man den Geschichten glauben konnte. Jemand hatte bei ihrem Haus rumspioniert am Samstag. Wie sie den Kleinen wusch, ihren Sohn. Draußen im Waschzuber. Das Pimmelchen habe sie ihm immer wieder langgezogen. Damit die Mädchen später richtig was davon haben, richtig viel Spaß, habe sie immer wieder gesagt. 

Schneiders wischte sich das Grinsen aus dem Gesicht. Er fuhr auf der Straße nach Messingen. Bundesstraße, viel befahren. Eine Frau brach knapp vor ihm über die Fahrbahn, bekleidet mit einer hellbraunen, wehenden Sackschürze Schreiend weg zur anderen Seite. Gellende Schreie. Hinter den mit Büschen und Gestrüpp bewachsenen Straßengraben. Schneiders bremste, starrte erschrocken hinaus. Am Wiesenrand jenseits standen zwei Bengel, einer mit Luftgewehr. Arschlöcher, brummte Schneiders. Dann kehrte das Grinsen in sein Gesicht zurück. Noch schäbiger. 

Er lud ab. Zwei Kisten gelben Sprudel und zwei Kisten Bier. Export. Nahm Leergut mit. Kassierte. In vierzehn Tagen? fragte er. Nein, besser schon nächste Woche, wegen Besuch nächsten Samstag, sagte die Bauersfrau, mein Schwager mit den Kindern. Er notierte. Klumpen Ella lief da eben rum, sagte er beiläufig, sie schießen wieder mit dem Luftgewehr auf sie. – Blöde Bengels, sagte die Bauersfrau, aber ist nicht mehr viel Druck drauf, auf dem alten Püster. – Zum Glück, sagte Schneiders. 

Die Gitarre blinzelte mit ihren sechs silbrigen Wirbeln, wenn er sie schräg gegen das Sonnenlicht hielt und bißchen hin und her bewegte. Ihr Corpus wie der Körper einer Frau. Johannes Schneiders konnte fast alle Beatles-Stücke. Die Akkorde der meisten frühen Stücke waren leicht. Jedenfalls wenn man nur Begleitung spielte. Bei Revolver und bei Rubber Soul wurde es schon schwieriger, noch schwieriger dann bei Seargent Pepper und beim White Album. 

Er spielte Help und sang dazu. Den Text konnte er nicht richtig. Er erfand Phantasie-Zeilen. Die Gitarre klang schön voll und metallisch. Die Saiten waren noch ziemlich neu. Seine Stimme wurde von Strophe zu Strophe lauter, mutiger. Sanfter blauer Schimmer auf seinen Augen. Die Blicke abwesend, Prospekt eines anderen, geträumten Lebens. Won‘t you please, please … Und dann noch einmal von vorn. When I was younger … Er probierte das Riff bei please, please, es klappte nicht richtig. Üben, immer wieder üben. 

Das hatte ihm damals auch Berny gesagt. Damals, als er noch Rhythmus-Gitarre in der Rockband spielte, bei den Peppermints. Vor allem Barré, ohne Barré-Akkorde könne er einpacken. Er hatte es versucht, aber es wollte nicht klappen. Dann hatte er aufgegeben ihm fehlte die Geduld, die Energie. Und die Disziplin. Spielte seine einfacheren Akkorde weiter. Bis sie ihn rausschmissen. Nicht nur wegen der Barré-Akkorde, aber es kam eins zum anderen: Der Neue paßte eben besser ins Bild. War aus der Stadt und ging zum Gymnasium. Dabei waren die Beatles von unten gekommen, ziemlich von unten. Pomadiger Angeber mit Elvis-Frisur, der Neue. Während alle anderen das Haar lang trugen. Pomadiger Angeber eben. Schneiders hatte kampflos das Feld geräumt. Er paßte sowieso nicht in die bedröhnte Hippie-Landschaft. Und mit den eitlen Revolutionsparolen kam er auch nicht zurecht. Die bedrückenden Erinnerungen an damals trieben durch seine Gedanken wie dunkle Wolken über einen niedrigen, grauen Winterhimmel. Einerseits aus dem Traumland vertrieben, andererseits sich erbärmlich davongeschlichen, sich feige getrollt. Eine kläglich überforderte Fehlbesetzung. 

Und heute? Heute spielte sie Tanzmusik, seine alte Band. Pah, er lachte höhnisch bei dem Gedanken daran. Tanzmusik, weil damit mehr Geld zu machen war. Schneiders spielte nur noch für sich. Vor allem Beatles, manchmal auch die frühen Stones Sachen. If you need me zum Beispiel. Aber meistens Beatles. Selten, daß er mal auf einer Fete oder so zur Gitarre griff Obwohl er inzwischen auch Barré-Akkorde konnte. Und seine Stimme war nicht schlecht. 

Er probierte nochmal das Help-Riff. Ziemlich kompliziert. Er seufzte und lehnte die Gitarre vorsichtig gegen die Kommode, rückte mit dem Melkschemel etwas weg. Der Sonnenglanz verklärte den Corpus aus Rosenholz, die Birkenholz-Decke. Die Perlmutt-Intarsien schimmerten silbern. John Lennon war schon sehr früh auf eine elektrische Gitarre umgestiegen. Auf Fotos aus seiner Schulzeit hielt er eine Rickenbacker. Schon bei den Quarrymen. Schneiders zog die Stirn in nachdenkliche Falten. Oder nicht? Er griff nach dem Buch von Hunter Davies und wollte nachschlagen, legte es aber wieder weg, als er Schritte auf der Treppe hörte. Ob er denn nichts essen wolle. Später, beschied er seine Mutter. Noch keinen Hunger. – Später werde alles kalt sein. – Macht nichts, brummte er mürrisch. 

Ein paar Minuten erwog er, wieder ins Gasthaus zu fahren, in Muttis Bienenkorb. Den Blick ins Portemonnaie hätte er sich sparen können. Das Wochenende war zu kostspielig gewesen für seine Verhältnisse. Außerdem mußte er morgen tanken. Höchstens einen Kneipenabend konnte er sich diese Woche noch leisten. Nächste Woche gab’s Geld. Er stand auf und schob den Melkschemel in die Ecke. Die Gitarre sorgsam in den blausamtig ausgeschlagenen Koffer. 

Vielleicht wäre mal wieder was nebenbei zu verdienen, überlegte Schneiders. Wenn Manni ihm wieder Touren vermitteln könnte. Lkws holen aus Köln. Sonntag Abend hin und in der Nacht zurück. Ab zehn Uhr durften die Lkws fahren. Zum Glück hatte er den Führerschein Klasse zwei beim Bund gemacht. Sonst stünde er jetzt ganz schön beschissen da, dachte er. Vier Stunden von Köln bis Lingen. Bis Meppen etwas länger. Bevor es hell wurde, mußten die Lkws hinter der Werkstatt auf dem Hof stehen, in Meppen oder in Lingen. Jede Tour brachte satte zweihundert Mark. 

Daß die Polizei ihn mal anhalte, sei unwahrscheinlich, sagte Manni. Montag Nacht sei normalerweise zuviel los. Und wenn doch mal, nur Papiere vorzeigen, sonst wisse er von nichts: 

Er habe den Lkw nur abzuliefern. 

Wo? 

In Lingen, bei der Vertragswerkstatt. 

Bei wem genau? 

Beim Inhaber, von dem kriege er sein Geld und basta. 

Und von wo er komme? 

Aus Köln-Deutz, da habe ihm einer den Lkw und die Papiere übergeben. 

Und von wo in Köln-Deutz? 

Na ja, von der Generalvertretung. 

Und von wem genau er den Lkw u bernommen habe? 

Der ihm Schlüssel und Papiere gebe, der heiße Hennes. 

Und weiter? 

Wieso weiter? Weiter wisse er nichts. Er müsse nur einen Wisch unterschreiben, daß er den Lkw abgeholt habe, und sonst nichts. 

Und wenn sie ihn dann weiterfahren ließen, von der nächsten Telefonzelle aus Manni anrufen. Dann werde er schon erfahren, was zu passieren habe. 

Schneiders schloß vorsichtig den Gitarrenkoffer, streichelte noch einmal sachte über die schwarzen Noppen. Abschließen und wie gewöhnlich auf den Schrank, hinter die Kartons. Wenn Manni ihm nächsten Sonntag ’ne Tour besorgen könnte, dann vielleicht doch noch in den Bienenkorb. Anschreiben lassen. Ach nein, er schaute auf seine Armbanduhr. Erstmal bißchen essen. Und dann am besten ins Bett. Mal früh schlafen. 

Das Gegenlicht der tiefen, dottergelben Sonne. Kurz vor Feierabend. Das Haus des Ölhändlers Kummer lag auf dem Weg. Ölscheich nannten sie ihn. Sein Spitzname. Der Chef könnte wegen des Kilometerstandes nicht mißtrauisch werden. Schneiders hielt an. Er rauchte sonst nur wenig, steckte sich jetzt aber eine Zigarette ins Gesicht. Maria, die Tochter des Ölscheichs, machte auf. Schon zurück von der Arbeit im Bäckerladen. Für einige Minuten waren sie allein. 

Ob er sie nicht abholen dürfe, später am Abend, fragte Johannes Schneiders, …oder auch morgen oder übermorgen, mit hastiger Stimme, als er ihre unwilligen Augen sah. Ob sie nicht mal wieder irgendwohin … – Vorbei ist vorbei, sagte Maria und nestelte ungeduldig an ihrem roten Zopf. Dabei hatte sie keinen festen Freund, soviel er wußte. Warum denn nicht, es war doch immer so schön. Seine Stimme bettelte, zuerst leise, dann etwas lauter. Bitte. Sie wollte trotzdem nicht. Warf die Schultern nach hinten und wies ihn mit steilem Kinn ab. Er solle endlich damit aufhören, mit seiner Dackelei. Hinter der Küchentür lauschte die Mutter. 

Schneiders starrte wieder in die tiefe Sonne. Stechendes Gold. Heute Abend geh’ ich doch noch in Muttis Bienenkorb, nahm er sich trotzig vor, und Samstag dann auf den Abtanz-Ball.