Grenzen von Freundschaft und Moral

Ines Soldwisch

Es geht im neuesten Buch von Karl-Heinz Hense um Freundschaft, Verbundenheit und Verrat in toto. In all ihren Facetten begegnen sie dem Leser im Beziehungsgeflecht der Protagonisten, die seit ihrer Schul- und Studentenzeit miteinander auf unterschiedliche Art und Weise verbunden sind. Die Mitglieder einer Kölner Studentenclique führen zunächst ein scheinbar normales Leben, wie Tausende andere auch: Ihr Zusammenleben ist geprägt durch Vertrauen und Mißtrauen, Erfolg und Mißerfolg, das Bedürfnis nach Freiheit, das Unvermögen, loslassen zu können, das Bedürfnis, für die anderen Verantwortung zu übernehmen. Am Ende des Romans steht die Schuld eines einzelnen von ihnen, die auf die anderen als Mitschuld übergeht und sie ihr Leben lang vor die moralische Frage stellen wird: Was ist wichtiger, Freundschaft – Wahrheit – Sühne? Hense überläßt es dem Leser, seine eigene Antwort zu finden, das macht dieses Buch neben dem Lesevergnügen zu einer Beschäftigung mit sich selbst und den eigenen Grenzen von Freundschaft und Moral.

 Doch zurück zum Anfang. Im Mittelpunkt des Romans steht Reinhold Larsen, ein Sproß einer großbürgerlichen Münsteraner Juristenfamilie. Mit seinem Schulfreund Michael teilt er nicht nur das Studentenleben, sondern unwissentlich auch seine Freundin Luise, bis diese nach einer Studentenfete mit dem Rockmusiker David Connelsen nach Amerika geht – zur Bestürzung Reinholds. Die Enttäuschung über die verlorengegangene Jugendliebe und der Verlust seiner Illusion einer Zukunft mit Luise bestimmen das weitere Leben Reinholds. Er vernachlässigt sein Studium, seine Familie und verdingt sich seinen Lebensunterhalt mit dem illegalen „pharmazeutischen Zwischenhandel“. Als Reinhold geschäftliche Verbindungen mit Connelsen

aufnimmt, scheint sein Schicksal besiegelt. Unwissenheit und Gutgläubigkeit gegenüber dem skrupellosen Connelsen bringen ihn in eine hoffnungslose tragische Lebenssituation, aus der ihn auch seine Kölner Freunde nicht befreien können, zu denen er mehr und mehr den Kontakt verliert. So steuert die von Hense erzählte Geschichte unweigerlich auf die „zwei Schüsse“ zu. Reinhold macht Connelsen für das Scheitern Luises und seiner selbst verantwortlich und sieht den einzigen Weg, aus seinem mentalen Schmerz auszubrechen, in der Vergeltung.

 Hense entwirft das Beziehungsgeflecht zwischen den Personen so raffiniert und ausgefeilt, daß der Leser von Wendungen zwar überrascht wird, sie aber dennoch beim Lesen nicht als unglaubwürdig empfindet. Von der ersten bis zur letzten Zeile bleibt der Roman spannend und mitreißend, obwohl das Ende schon am Anfang klar beschrieben steht. Der Roman gewinnt enorm durch die Verschiedenheit der Charaktere, die Hense mit großer Detailkenntnis entwirft. Hier zeigt sich besonders die Fachkenntnis des Autors etwa im musikalischen und politischen Bereich, wenn er ausführlich über die Musikszene schreibt oder seine Figuren darüber philosophieren läßt, daß in der deutschen Sozialdemokratie an die Stelle der Brüderlichkeit die Solidarität als Identifikationswert getreten sei.

 Doch am Ende steht der Leser vor der großen Frage, die sich auch die Freunde Reinholds stellen: Kann der Wert der Freundschaft und Verbundenheit bemessen werden, und wenn ja, wann endet eine Freundschaft?

 Henses Buch kann nicht einfach nur gelesen werden, es muß durchdacht werden und führt unweigerlich zum Hinterfragen der eigenen Auffassungen von Freundschaft, Verpflichtung und der Verantwortung für das eigene Leben.