Groteske Gestalten

Eigentlich war Rudolf ein Ekel. Ein berühmter Autor von drei mehr oder weniger originellen Romanen und einer Fülle anderer Texte zwar, die sich gut verkaufen und die ihm zusammen mit einem kauzigen Lebenswandel die Aura eines durchgeistigten Ausnahme-Intellektuellen verliehen – aber im übrigen ein Misanthrop, dem die Menschen in seiner Umgebung, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eher das Leben vergällten, als daß sie ihn wirklich interessiert hätten.

Nun hat Rudolf, der „Generalpessimist“, sich in seiner Turiner Residenz umgebracht. Seinem besten und ältesten Freund, einem halbwegs gescheiterten Kultur-Funktionär aus Deutschland, überläßt er es, seinen Nachlaß zu ordnen und dabei die Fragmente seines letzten Werkes mit dem Titel „Das Testament“, das „den Roman an sich, aus den Angeln heben‘ wollte“, zu einem Ganzen zusammenzufügen. Allerlei Absonderliches und Abstruses, Überraschendes und Banales muß der Freund aus Studienzeiten dabei entdecken: drei Frauen zum Beispiel, die Rudolf hinterlassen hat; eine davon, die Ehefrau, ihrerseits todkrank; die andere eine Sekretärin von Canettischem Format; die dritte schließlich eine ehemals vom Nachlaßverwalter abgelegte Geliebte deren Korrespondenz mit Rudolf ihm beschämende Einblicke in die eigene Wert- oder vieImehr Un-Wertschätzung durch seinen vermeintlichen Freund verschafft.

Damit nicht genug, muß der desillusionierte Rechercheur auch noch entdecken, daß vieles von dem, was man bisher für „original Rudolf“ gehalten hatte, hemmungslos abgeschrieben wurde, zum Beispiel aus Kierkegaards Tagebuch eines Verführers. Schließlich, nach der Beerdigung und dem unerquicklichen Wiedersehen mit Eva, der dritten weiblichen Hinterlassenschaft, flüchtet der Nachlaßverwalter, nachdem er die wichtigsten Manuskripte in Sicherheit gebracht hat, und entzieht sich so der „Turiner Komödie“.

Michael Krüger, der erfolgreiche Verleger des Hanser Verlages, Herausgeber der akzente und der dazugehörigen Edition, hat eine Groteske geschrieben über den Literaturbetrieb und seine Gestalten*, die dem arglosen Leser die bange Frage aufnötigt, ob es eine wirklich ernsthafte und ernst zu nehmende Produktion von Literatur überhaupt gibt. Der Prozeß des Schreibens, so Rudolf – der es sich immerhin leisten kann, einen angesehenen Literaturpreis abzulehnen –, kann nur zu der Einsicht führen, daß man am Ende unfähig ist, Literatur zustande zu bringen. Der Nachlaßverwalter drückt es so aus: „Da sitzt einer (wie Rudolf) jahrelang detailbesessen über einem wachsenden Packen Papier, um am Ende feststellen zu müssen, daß er (nach eigener Einschätzung) nur dummes Zeug produziert hat.“

Eine ironische Parabel vielleicht für den Krügerschen Skeptizismus, der sich auf das insgesamt Vergebliche des menschlichen Lebens beziehen mag. Und auf die Fruchtlosigkeit, dem Vergeblichen nachzuspüren. Ungetröstet bleiben Autor und Leser zurück; es scheint, wie bei Rudolf, keinen anderen Ausweg zu geben als den Selbstmord. Aber, trotz aller tristen Ein- und Aussichten, der Freund rettet das Werk Rudolfs und sorgt dafür, daß die Literatur über das Leben hinausragt. Und schließlich ist auch Krügers Buch Teil dieser Literatur, die, besser als ein individuelles Leben, in der Lage ist, alle denkbaren und fühlbaren Perspektiven auf die trostlosen Versuche menschlicher Lebensbewältigung zur Sprache zu bringen – bevor sie (möglicherweise) selbst scheitert. – Stoff en masse für eine Komödie, die Krüger geistreich, kenntnisreich und kurzweilig in Szene gesetzt hat. So daß man sich am Ende fragt, was eigentlich realer ist, das Leben oder die Literatur. Oder das, was, wie bei Rudolf, die Literatur aus dem Leben machen kann.

*Michael Krüger: Die Turiner Komödie. Bericht eines Nachlaßverwalters, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005, 191 Seiten, Euro 16,80.