Grundwerte-Orientierung der Politik

Die menschliche Gesellschaft wird ohne staatliche Organisationsformen nicht auskommen. Es liegt an den Bürgern, sie so zu gestalten, daß der Staat als notwendige Institution freier Bürger erscheint, nicht aber durch seine Übermacht die Bürger wieder zu Untertanen degradiert.

Karl-Hermann Flach

In den siebziger Jahren unseres Jahrhunderts schien eine Renaissance der Orientierung politischer Programme an Grundwerten vor allem durch die entsprechende Diskussion in allen Parteien wieder möglich. Die klassische Trias aus der Französischen Revolution „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“ wurde Anlaß zu gründlicheren Überlegungen, welche Funktion diese Begriffe unter veränderten, modernen Umständen noch haben könnten. Konsens schien zu herrschen über die grundsätzliche Gültigkeit der drei Leitbegriffe für politisches Handeln. CDU

und SPD sprachen von „Freiheit – Gerechtigkeit – Solidarität„, während die Freien Demokraten an den tradierten Begriffen festhielten. Unterschiedlich wurde die „Wertigkeit“ der Trias beurteilt. Während die SPD von einer Gleichrangigkeit sprach, machte die CDU den Vorrang eines der drei Begriffe von der jeweiligen gesellschaftlichen Situation abhängig, was einerseits die notwendige Flexibilität angesichts immer rascher sich wandelnder gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse zu signalisieren schien, andererseits aber einer Beliebigkeit in der Anwendung der Grundwerte Vorschub leistete, die inzwischen zu einer „neuen Unübersichtlichkeit“ (Jürgen Habermas) in bezug auf politische Wertentscheidungen geführt hat. (Freilich liegt diese Unübersichtlichkeit mittlerweile wie Mehltau über dem Gebaren der gesamten politischen Klasse, sie ist keineswegs Kennzeichen nur der Konservativen.) Die Liberalen räumten der Freiheit den Vorrang ein, die freilich ohne die beiden anderen Begriffe keinen Bestand haben könne.

In der öffentlichen Wahrnehmung entsprach die Beurteilung dem je eigenen Anspruch nur teilweise. Während man sozialdemokratischer Politik den Vorrang der Gleichheit unterstellte (erkennbar angeblich etwa an dem Eintreten für stärkeren Staatsinterventionismus), wurde konservative Politik häufig mit dem Vorrang der Brüderlichkeit, abgeleitet aus der christlichen Soziallehre, identifiziert (was den Akzent eher auf die Gesellschaft als auf den Staat und damit auf das Subsidiaritätsprinzip setzte). Die Liberalen wurden zumindest in den siebziger Jahren gemäß ihrem eigenen Anspruch, „im Zweifel für die Freiheit“ (Werner Maihof er), durchaus in der interessierten Öffentlichkeit als „Partei der Freiheit“ wahrgenommen. Wenn sie heute die Freiheit vor allem mit wirtschaftlichem Handeln verbinden, das etwa durch zu hohe Steuerlasten ungebührlich eingeschränkt werde, scheint sich diese Akzentuierung von dem ursprünglichen, umfassenderen Verständnis des Grundwertes Freiheit um einiges entfernt zu haben.

 In den achtziger Jahren verschwand die Grundwerte-Diskussion von der politischen Agenda. Das „Jahrzehnt des kommerziellen Individualismus“ (Gerhard Himmelmann) hatte anscheinend weder Raum noch Zeit für die Beschäftigung mit Fragen politischer Grundlegung. Mit der Inflation ökonomischer Fragestellungen und der übergreifenden Bedeutung, die das konservativ-liberale Bündnis ihnen beimaß, geriet der aristotelische „Primat der Politik“ gegenüber der Ökonomie in Gefahr. Das originär politische Interesse verengte sich innenpolitisch auf die System- und Parteienkrise und außenpolitisch auf den weltweiten Zerfall des Sozialismus, ohne daß die gewählten Repräsentanten der westlichen Politik als Vorreiter im Diskussions- und Entscheidungsprozeß eindeutig zu erkennen gewesen wären. Die Ökonomie und der „Zeitgeist“ schienen der Politik allzu lange ihre Bedingungen zu diktieren. Die Gestaltungskompetenz der „politischen Klasse“ wich den dominierenden Themen gegenüber mehr und mehr. Reagieren trat an die Stelle von Agieren.

Nach dem Fall der Mauer überstürzten sich auch die politischen Entscheidungen. Viele Beobachter halten die hektische politische und ökonomische Vereinigung Deutschlands inzwischen für verfehlt. Schon 1990 hatten vor allem Ökonomen die deutsche Wirtschafts- und Währungsunion mit „dem waghalsigen Versuch einer Besteigung der Eigernordwand im Winter“ (Lutz Hoffmann) verglichen. Gleichwohl bedeutet das Jahr 1990 eine Art Erwachen der Politik aus ihrem Dornröschenschlaf. Die Vereinigung glückte und war wohl auch nicht ohne problematische Entscheidungen zu meistern. Nach der Euphorie freilich kam die Ernüchterung. Inzwischen haben Staatsverschuldung, Arbeitslosigkeit und soziale Lasten den politischen Gestaltungsspielraum immer weiter eingeengt. Mit den neuen Problemen ging und geht Ratlosigkeit einher. Die alten Methoden greifen nicht mehr, neue sind noch nicht gefunden oder werden nicht angewandt. Aber weiterhin regieren die alten Politiker und Parteien, denen Protest zum Beispiel in Form von Verweigerung entgegenschlägt. Weniger in der Bundesrepublik, anwachsend aber in anderen westlichen Staaten, entstand eine Protestbewegung, die demokratische und freiheitliche Traditionen in Frage zu stellen beginnt: der Front National in Frankreich, die Haider-Partei in Österreich, der Vlaamse Blok in Belgien, die Lega Nord in Italien und nun auch die radikalen Populisten des Carl Ivar Hagen in Norwegen. Freilich fehlen auch den Protestierenden die tauglichen Rezepte, schlimmer noch: Die Aktivisten unter ihnen greifen häufig auf irrationale, rassistische und totalitäre Verhaltensweisen zurück, die Demokratie und Rechtsstaat nicht mehr als Werte begreifen. Da die Marktwirtschaft indes zu ihrem Funktionieren ein zuverlässiges Fundament, eine gesicherte Rechts- und Eigentumsordnung, voraussetzt, ist mit der gesellschaftlichen auch die wirtschaftliche Stabilität gefährdet.

Noch sind die Radikalen freilich nicht an den Schalthebeln der Macht, obwohl regionale Erfolge und ihre Konsequenzen alarmieren sollten. Die demokratischen Parteien und Politiker indessen greifen im Zuge allgemeiner Ratlosigkeit allzuoft auf überholte frühkapitalistische oder nicht weniger veraltete staatsautoritäre Überlegungen zurück. Auf der einen Seite erhalten Schlagworte wie Privatisierung und Deregulierung eine neue ideologische Qualität, auf der anderen kennzeichnen Vorschläge zur staatlichen Intervention und zum Protektionismus eine Abwendung vom Vertrauen in marktwirtschaftliche Prozesse. Dazwischen prägt Konzeptionslosigkeit, die gern Pragmatismus genannt wird, die Szene. Die Frage nach der Orientierung an Grundwerten wird so gut wie überhaupt nicht mehr gestellt. Nur selten sind Ansätze für eine moderne Politik zu finden die das „Prinzip Verantwortung“ in Gesellschaft und Politik neu institutionalisieren sollen.

Um die Situation mit einem Bild zu beschreiben: Gesellschaft und Staat verhalten sich im ökonomisch-sozialen Bereich wie eine Familie, die in fetten Zeiten ein Haus gekauft hat, dessen Belastungen sie nun, in mageren Zeiten, nicht mehr tragen kann. Statt sich von den Belastungen zu befreien, sucht sie nach immer neuen Möglichkeiten, Flickschusterei zu betreiben, und gerät immer tiefer in die Schuldenfalle“. Dieses Verhalten findet seine Entsprechung im Umgang mit den natürlichen Ressourcen: Gesellschaft und Staat handeln wie eine Familie, deren laufendes Einkommen für den Lebensunterhalt nicht ausreicht und die daher mit wachsendem Tempo ihr Vermögen aufzehrt. „Die Diktatur der Gegenwart über die Zukunft“, so Nicholas Georgescu-Roegen. Angesichts der gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen scheint der überwölbende, grundsätzliche Konsens in bezug auf einen von allen gemeinsam zu verteidigenden Kodex der Werte und Ziele mehr und mehr zu schwinden. Am rechten und linken Rand des politischen Spektrums stehen pluralistische Demokratie und Rechtsstaat zur Disposition.

Freiheit

Unsere freiheitliche Demokratie muß durch Institutionen befestigt werden, um sich Anfeindungen gegenüber wehrhaft zu erweisen und die Freiheit aller Menschen zu sichern. Diese Ansicht ist unter Demokraten unbestritten, jedoch liegt der Teufel im Detail. Die Errichtung von Institutionen ist ein Drahtseilakt. Sind sie zu schwach, drohen Unrecht und Unordnung, Anomie also; sind sie zu stark, droht Hypernomie, „die Gier von Normen, die alle Initiative und Freiheit zu ersticken droht“ (Ralf Dahrendorf). Angesichts des sich wieder stärker artikulierenden Rechtsextremismus in Deutschland neigen die einen, aus konservativer, staatsautoritärer Überzeugung, zu Forderungen, den Institutionen der Sicherheit mehr Kompetenzen zu geben; die anderen warnen in liberaler Rechtstradition davor, mit zusätzlichen Kompetenzen auch die Gefahr zusätzlicher Freiheitsgefährdung einkehren zu lassen. Schließlich gibt es Stimmen, die eine stärkere Verlagerung der Zuständigkeiten für die Sicherheit auf die Bürger und auf gesellschaftliche Gruppen verlangen. Vergessen wird häufig, daß es zum Funktionieren der Institutionen der Freiheit entscheidend auf die Identifikation der Bürger und Bürgerinnen mit ihnen ankommt. Dazu wiederum bedarf es des Beweises ihrer Effizienz und gleichermaßen ihrer demokratischen Verankerung. Die Institutionen müssen eindeutig im Dienst der freien Gesellschaft stehen, nicht im Dienst des Staates, der sich dadurch autoritär den Bürgern gegenüberstellt, auch nicht einseitig im Dienst von Interessengruppen, die sich abgehoben von allgemeingültigen Regeln gegeneinander zu behaupten trachten. Es scheint, als müßte diese Bestimmung mancherorts überprüft werden: sowohl im parlamentarischen Bereich, in dem Gesetze verabschiedet werden, die zu Ungerechtigkeiten und Privilegierungen bestimmter Gruppen führen (etwa im Steuerrecht), als auch im Bereich der Administration, wo immer häufiger der Mißbrauch schlecht kontrollierter Kompetenzen aufgedeckt wird, aber auch in staatlich geförderten oder geschützten Grauzonen, wo sich Filz und Sumpf etabliert haben, die den ursprünglichen Auftrag etwa von gemeinnützigen Institutionen allzuoft konterkarieren.

Der Grad von Freiheit in der Gesellschaft bemißt sich nach den Lebenschancen der Menschen. „Je mehr Menschen mehr Lebenschancen haben, desto liberaler ist eine Gesellschaft“ (Ralf Dahrendorf). So verhängnisvoll es wäre, der Entwicklung eines Sozialdarwinismus freie Bahn zu lassen, so töricht wäre es, aus falschverstandenen Gleichheits-Überlegungen die freie Entfaltung der Begabungen und Neigungen der Menschen über Gebühr zu beengen. Die pluralistische Gesellschaft, in der sich die Freiheit verwirklicht, braucht die Unterschiede und ihre vielfältige Entwicklung. Dazu gehört auch, daß sich Eliten ausbilden können und demokratisch legitimierte Führung ausgeübt wird. Wie sich Eliten allerdings an ihrer Funktion für die Gesellschaft messen lassen müssen, so darf Führung nicht in Willkür ausarten. Autorität, welcher Art immer, muß in der Sache und/oder in der demokratischen Legitimation begründet sein. „Freiheit ist nicht möglich ohne Autorität – sonst wird sie zum Chaos – und Autorität nicht ohne Freiheit – sonst wird sie zur Tyrannei“ (Stefan Zweig).

Mag sein, daß wir in der jüngeren Vergangenheit sowohl dem Egalitären als auch dem Individualistischen zuviel Beachtung und der verantworteten Autorität zu wenig geschenkt haben. Ein unheiliges Erbe der Achtundsechziger Revolte ist vielleicht einerseits ein allzu libertäres Verständnis von Erziehung, Bildung und Ausbildung, andererseits ein allzu individualistisches Verständnis privater Lebenspläne. Die Folge sind Desorientierung der Jugend und ihr Rückzug aus der demokratischen Gesellschaft. Es dürfte zu den schwierigsten Aufgaben gehören, neue Ligaturen zu schaffen, die sich weder an irrationaler Mythologie noch an materialistischer Konsumhaltung orientieren und die dadurch der Freiheit eine neue Chance geben. Wo die Propagandisten für totalitäre oder solitäre Bedürfnisbefriedigung die Parolen ausgeben, fällt es schwer, das schlichte Pathos der Bürgergesellschaft attraktiv zu machen. Ohne Gemeinsinn freilich wird die Freiheit zugrunde gehen.

Der zweite Satz der Thermodynamik, das Entropie-Gesetz, besagt, daß der Nutzen einer bestimmten Energiemenge ständig abnimmt. Angewandt auf die Ökonomie, zerstört er den Traum von der Prosperität: als sei der Wirtschaftskreislauf ein perpetuum mobile. Vielmehr schaffen die Menschen mit der Herstellung ihrer Lebensbedingungen und beim Verfolg ihres „Strebens nach Glück“ mehr und mehr an Entropie, also an nicht mehr nutzbaren Ressourcen, die zwar durch Recycling begrenzt werden können, nicht aber ganz zu vermeiden sind. Ökonomie und Ökologie sind also nicht wirklich zu versöhnen. Um so wichtiger ist es, daß die Menschen von ihrer Freiheit verantwortlichen Gebrauch machen, natürliche Ressourcen nicht willkürlich verschwenden und damit aufhören, auf Kosten kommender Generationen zu leben; wenn sie nicht gar bei dem exponentiellen Wachstum von Umweltzerstörung (siehe Ozonloch) schon längst ihr eigenes Überleben gefährden. Negative und positive Freiheit, also die Unabhängigkeit von Nötigung auf der einen und die Selbstsetzung der Zwecke auf der anderen Seite, sind immer relativ. Die Welt der Natur kann der Mensch immer nur bis zu einem gewissen Grad überschreiten, weshalb er eine geistige Natur als Welt der Kultur immer nur bis zu einem gewissen Grade erbauen kann.

Im Zuge eines atemberaubenden Fortschritts der Technik, etwa auf dem Gebiet der Kommunikationstechnologien, der inzwischen zu Möglichkeiten geführt hat, die sich menschlichem Verstand entziehen (zum Beispiel in der Computersimulation vier- und mehrdimensionaler Räume), läßt der Glaube an das Machbare häufig genug den durch das „Prinzip Verantwortung“ zu begrenzenden Gebrauch der Freiheit vergessen. Ökonomisches Wachstum und technische Innovation erzeugen aber keinesfalls einen quasi automatischen Effekt in Richtung auf mehr Freiheit und Gleichheit. Schon Max Weber hat darauf hingewiesen, daß eher das Gegenteil anzunehmen ist: Wir bauen neue Gehäuse der Hörigkeit, die uns unserer Verwurzelung in Natur und Kultur mehr und mehr entfremden und am Ende unsere eigenen Lebensgrundlagen zerstören. Diese verhängnisvolle Kehrseite des Fortschritts hat den Industriellen und liberalen Politiker Walther Rathenau zu Beginn unseres Jahrhunderts etwa den Verzicht auf jeglichen Luxus fordern lassen; Ökonomen unserer Tage, zum Beispiel der Amerikaner Nicholas Georgescu-Roegen, fordern, noch rigoroser, ein „bioökonomisches Minimalprogramm“ zur Verlangsamung des Prozesses der Entropie-Zunahme. Unter anderem umfaßt dieses Programm den Stopp von Krieg und Kriegsproduktion, Verzicht auf Mode und extravagante Kulturgüter, Befreiung aus dem sogenannten Teufelskreis des Rasierapparates (ich rasiere mich schneller, damit ich mehr Zeit habe, eine neue Maschine zu erfinden, mit der ich mich schneller rasieren kann, damit ich mehr Zeit habe … und so weiter) und die Begrenzung der Weltbevölkerung auf einen Level, der sich durch organischen Landbau ernähren läßt. Nach seiner Auffassung kommt es nicht darauf an, den Wohlstand zu mehren, sondern den Schaden zu minimieren, den wir unseren Lebensgrundlagen zufügen.

Es mag uns befremdlich vorkommen, so etwas zu lesen, leben wir im Westen doch seit Jahrzehnten nach den Gesetzen des möglichst freizügigen Konsums. Wenn es jedoch den Effekt hat, daß wir den nahezu ungehemmten Gebrauch unserer Freiheit etwa im Bereich der Konsumgüterindustrie und der Ausbeutung natürlicher Ressourcen einschränken, so trägt es dazu bei, die verhängnisvolle „Diktatur der Gegenwart über die Zukunft“ zu bekämpfen. So unangenehm es für einen Liberalen klingen mag: Die Dialektik der Freiheit, also den Wettbewerb der Leistungen und Ideen, ungehemmt sich entfalten zu lassen, birgt die Gefahr, das „Prinzip Verantwortung“ zugunsten eines punktuellen Nutzens hintanzustellen. Es ist leider immer noch die Ausnahme, daß ein momentaner Vorteil zugunsten eines späteren Nutzens zurückgestellt wird, zumal wenn es sich um Zeitdimensionen handelt, die über die eigene Lebensspanne hinausreichen. Verantwortliche Freiheit zu definieren und ihren Gebrauch zu überwachen ist deshalb gleichermaßen eine gesellschaftliche und eine staatliche Aufgabe.

Gleichheit

Gleichheit der Menschen bedeutet nach liberaler Auffassung gleiches Wahlrecht, Gleichheit vor dem Gesetz und (Start-) Chancengleichheit im gesellschaftlichen Leben. Vor allem der dritte Bereich ist bisher weit von einer zufriedenstellenden Realisierung entfernt. Besonders die stetig zunehmende Arbeitslosigkeit schafft eine Kluft, die soziale Benachteiligung zu gravierender Ungleichheit der Chancen werden läßt. Die ehedem konjunkturelle Krise ist längst zu einer strukturellen geworden. Es scheint fast, als hätten manche Industrienationen sich mit der kostspieligen Massenarbeitslosigkeit und all ihren Problemen auf Dauer abgefunden. Dabei wäre es erheblich sinnvoller, Arbeit statt Arbeitslosigkeit staatlich zu finanzieren, wenn der Markt ihre Beseitigung nicht leisten kann. Es ist nicht zu bestreiten, daß selbst kräftiges Wirtschaftswachstum wie in den achtziger Jahren zukünftig nicht genügend neue Arbeitsplätze schaffen kann, um alle, die dies wollen, in Lohn und Brot zu bringen. Von Krise zu Krise wächst der Sockel von Arbeitslosen.

Ein Vorschlag, dem zu begegnen, ist die Negativsteuer: Arbeitnehmer, die weniger als das Existenzminimum verdienen, bekommen einen Zuschuß vom Staat. Wer nicht arbeitet, erhält die zur Sicherung des Existenzminimums erforderliche Arbeitslosen- oder Sozialhilfe. Wer sich etwas dazuverdient, wird nicht mehr durch Abzüge bestraft. Erst oberhalb eines sozial akzeptablen Niedrigeinkommens fallen Abzüge und Steuern an. Dadurch würde es sich lohnen, auch schlechtbezahlte Arbeit anzunehmen. Um dem verbrauch durch Unternehmen vorzubeugen, erhalten die Gewerkschaften Kontrollreche als Äquivalent zur Öffnung der Tarifverträge nach unten.

Andere Vorschläge zur Wiederherstellung der Chancengleichheit laufen auf eine flexible Mitverantwortungsabgabe (je nach Höhe der Kosten für die Arbeitslosigkeit) derjenigen die Arbeit haben, für die Arbeitslosen hinaus. Sie würde, so heißt es, falsch gesetzte Preise und Anreize. nachträglich korrigieren und wieder für ein Gleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt sorge: Die Beschäftigten selbst würden darauf drangen, die Lohne so zu setzen, daß alle Arbeit finden, und sie würden darauf achten, daß auch die soziale Absicherung nicht zu einer Verzerrung auf dem Arbeitsmarkt führt. Die Beschäftigten hätten einen Anreiz, die Arbeitslosen in den normalen Arbeitsmarkt zu integrieren. Gleichzeitig müßte das „strukturelle Dilemma der Demokratie“ (Horst Siebert) beseitigt werden: Parteien werben mit Staatsausgaben um Wähler, ohne die langfristigen Folgewirkungen zu bedenken. Die institutionelle Antwort darauf wäre, das Ausgabegebaren des Staates stärkeren verfassungsmäßigen Schranken zu unterwerfen.

Wie immer Abhilfe geschaffen wird, wichtig ist, daß die postindustrielle Gesellschaft nicht in den Zustand vorindustrieller Differenzierung zurückfällt, die Chancengleichheit durch finanzielle und wirtschaftliche Macht relativiert oder gar ganz verdrängt. Es wäre verhängnisvoll, wenn die ungebremste Wucht ökonomischer Interessen und die Resignation der Benachteiligten eine unheilige Allianz eingingen.

Brüderlichkeit

Während in den achtziger Jahren der Kommunismus in der Sowjetunion und den osteuropäischen Staaten implodierte, leistete sich der Westen eine „Explosion des Egoismus“ (Theo Sommer). Das lang anhaltende wirtschaftliche Wachstum schuf einen bisher nicht gekannten Markt der Beliebigkeiten, der freilich zugleich tiefe Gräben zwischen denen, die an den Segnungen des Wachstums teilhatten, und denen, die davon ausgeschlossen waren, entstehen ließ. Während die High-Tech-Entwicklung immer neue Formen von Erwerbsmöglichkeit und Freizeitgestaltung schuf, wuchs in ihrem Schatten eine No-Future-Generation heran, die Bestanteil des verstoßenen Drittels außerhalb einer „Zwei-Drittel-Gesellschaft“ (Peter Glotz) wurde. Wertkonservative Philosophen und Soziologen wie Peter Koslowski mahnten eine Postmoderne an, die sich einer neuen Moral der gesellschaftlichen Verantwortung und des Gemeinsinns öffnen müsse, ohne die Errungenschaften der Moderne deshalb aufzugeben. Neue Formen der Brüderlichkeit oder Solidarität wurden gefordert, damit das ohnehin wegen der demographischen Entwicklung und eines ausufernden Anspruchsdenkens überdehnte soziale Netz nicht zerreißen müsse. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus hat sich die Situation beträchtlich verschärft, ohne daß die Widersprüche aus den achtziger Jahren versöhnt wären. Im Gegenteil: Während beispielsweise in der internationalen Finanzwirtschaft eine völlig neue Welt entstanden ist, die sich in „Echtzeit“, also unabhängig von unterschiedlichen „naturgegebenen“ Ortszeiten, darstellt, während virtuelle Finanztransfers über eine weltweite Computervernetzung an die Stelle der realen Warentransfers treten, finden in den Städten und Gemeinden die sogenannten Randgruppen kein Dach über dem Kopf und suchen die Nationen angesichts weltweiter Migration den Weg zurück in die Abschottung des 19. Jahrhunderts. Wie sich im Makrokosmos der Nationen, dem „grenzen

losen“ Charakter ihrer Finanzmärkte entsprechend, eine neue Solidarität entwickeln müßte, die Anachronismen in der Asylpolitik, im Währungsverbund und in der Handelspolitik überwindet, so müßte im Mikrokosmos der Gesellschaft eine neue Brüderlichkeit entstehen, die der „sozialen Kälte“ gegensteuert und die Verantwortung auf alle Schultern, je nach ihrer Belastbarkeit, gerecht verteilt.

Nur wenn die Allzuständigkeit des Staates für die Wohlfahrt der Bürger beendet und jeder einzelne stärker für sein eigenes und das Wohl der Allgemeinheit in die Pflicht genommen wird, läßt sich der lähmende Egoismus überwinden. Der Sozialstaat ist zu einer anonymen Instanz geworden, die man in Anspruch nimmt, ohne sich deshalb als Mitglied einer Solidargemeinschaft zu fühlen, für deren Wohlergehen man mitverantwortlich ist. Kein Wunder, daß unter solchen Vorzeichen Brüderlichkeit schwindet und Egoismus grassiert. Zwar kann auch eine Neuverteilung der Lasten, ein Umbau des Sozialsystems also, nicht ohne eine staatliche Regulierung, das heißt ohne demokratisch legitimierte Parlamentsbeschlüsse, eine ihnen entsprechende Exekutive und demokratisch legitimierte Kontrolle, erfolgen, jedoch ist, wo immer möglich, die Partizipation der Bürger zu gewährleisten, damit nicht ein von oben aufgepfropftes System mehr Proteste als Akzeptanz in der Gesellschaft findet. Beispiele für eine Verlagerung der Verantwortlichkeiten wären die Übernahme der Arbeitslosenversicherung durch die Gewerkschaften und die Finanzierung der Pflegeversicherung aus einem von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen gemeinsam zu verwaltenden und zu gestaltenden Fonds. Bei der Verwirklichung solcher Vorschläge ist stets darauf zu achten, daß keine neuen Zentren undurchsichtiger und unkontrollierter Administration entstehen. Je komplexer ein gesellschaftliches System, desto notwendiger wird die Institutionalisierung von Dezentralität, denn die Alternative dazu ist ein „Wohlfahrtsstaat als bürokratische, farblose, hochzentralisierte, institutionelle Maschinerie“ (Gunnar Myrdal), der nichts anderes als die zementierte Entfremdung in der Gesellschaft bedeutet.

Die Entwicklung der civil society hin zu einem (utopischen) Ziel gleicher Lebenschancen für alle Bürger, zu einer „gemeinsam das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft“ (Immanuel Kant), verläuft keineswegs linear. Vielmehr neigen die Menschen gelegentlich dazu, einer Krise mit überzogen Maßnahmen zu begegnen, die ihrerseits zu einer neuen Krise führen oder führen können. Auf die Diktatur einer Oligarchie oder eines Tyrannen folgt zum Beispiel die Antwort des sozialistischen Einparteien-Staates, der seinerseits zur Diktatur einer privilegierten Klasse führt.

Das Geheimnis einer Gesellschaft freier und gleicher Bürger ist ein soziales Gleichgewicht der Gegensätze, nicht ihre Nivellierung oder Vorherrschaft einzelner Ansichten. „Freiheit und Bindung, Interesse und Vernunft, Privatisierung und öffentliche Steuerung, Kommerzialisierung und Solidarität sind Zwillingsbegriffe in einem solchen Gleichgewicht“ (Gerhard Himmelmann).

Die Kunst der Politik liegt darin, die Konkurrenz der Gegensätze so auszutarieren, daß sie in ihrer Entfaltung nicht ungebührlich beengt werden, aber auch nicht zu einseitigem Übergewicht und damit zur Einschränkung der Chancengleichheit gelangen. Die Dynamik pluralistischen Wettbewerbs und die Gerechtigkeit seiner Spielregeln machen die freie Gesellschaft aus. Sie gewährleistet politische Stabilität, die wiederum eine erfolgreiche Ökonomie braucht. Beinahe überflüssig zu betonen, daß eine solche Gesellschaft vom Prinzip der Toleranz getragen wird. Und doch findet sich hier die verletzlichste und am schwersten zu institutionalisierende Komponente der Bürgergesellschaft. Allzuleicht setzen sich Macht- und Gewinnstreben, Geltungssucht und Egoismus über die Interessen der Mitmenschen hinweg.

Dem Zeitgeist der Postmoderne, der den Trend zur Privatisierung, Kommerzialisierung und Entsolidarisierung der Gesellschaft befestigt hat, scheint die Gefahr der Destabilisierung innezuwohnen. Jedenfalls hat er soziale Probleme hervorgebracht oder verschärft, die eine wachsende Ungleichheit der Lebensverhältnisse und der Chancen nach sich ziehen. Den kulturellen Zynismus, der darin zum Ausdruck kommt, daß man den Problemen mit autoritären, totalitären und rassistischen Methoden begegnen will, müssen Staat und Gesellschaft mit Entschiedenheit in seine Schranken weisen. Im anderen Fall wird ein Überschwappen einseitiger „Gruppentherapie“ erneut das soziale Gleichgewicht und damit die freie Gesellschaft in Frage stellen.

Fazit

Das „sozialdemokratische Jahrhundert“ (Ralf Dahrendorf) hat in den westlichen Demokratien einen Staat hervorgebracht, dessen Kompetenz zur Regulierung gesellschaftlicher Probleme von der großen Mehrheit seiner Bürger und Bürgerinnen seit Kriegsende bis zum letzten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts nicht ernsthaft in Frage gestellt wurde. Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung und soziale Marktwirtschaft schienen sichere Gewähr für eine ausbalancierte pluralistische Gesellschaft zu bieten, in der fast jeder sich frei entfalten und geborgen fühlen konnte. Die Konkurrenz der Weltanschauungen auf dem politischen und die der Güter auf dem ökonomischen Markt schienen eine Dialektik zu erzeugen, die Freiheit und Wohlfahrt zu festigen, ja stetig zu steigern vermochte.

Mit dem Überborden der Arbeitslosigkeit, der überhandnehmenden Staatsverschuldung und der Ohnmacht gegenüber der Verelendung der ehemaligen „Dritten Welt“ sowie einiger ehemals sozialistischer Staaten sind die vermeintlichen Gewißheiten von gestern radikal in Frage gestellt. Das Ziel der Weltbürgergesellschaft und mit ihm die universale Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit scheinen in utopische Ferne gerückt.

Innenpolitisch fügen sich in Deutschland Schwierigkeiten mit der Einheit und die Überfrachtung des sozialen Netzes nahtlos in das düstere Szenario. Fast drängt sich dem Beobachter der Vergleich mit der letzten Jahrhundertwende auf, als die unzeitgemäße Feudalherrschaft schließlich in die Katastrophe mündete. Eine Katharsis, eine Läuterung also, wie die griechische Tragödie sie bei ihrem Publikum bewirken soll, folgte der Katastrophe damals freilich nicht, wenn es auch an Geschichtsklitterern nicht mangelt, die diesen Eindruck vermitteln wollen. Genausowenig kann heute von einem Zusammenbruch des alten Systems die Rettung erwartet werden; es muß vielmehr darum gehen, die „Chancen der Krise“ zu erkennen und mutige Schritte zu tun, ohne die fundamentalen Werte der civil society über Bord zu werfen. Ob freilich die staatlichen Subventionen beispielsweise zur Erhaltung nicht lebensfähiger Wirtschaftsbereiche und der

Sozialabbau zur Konsolidierung der öffentlichen Finanzen die richtigen Schritte sind, darf füglich bezweifelt werden. Lutz Hoffmann, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, sagt dazu: „Erhalt sogenannter ,industrieller Kerne‘ im Osten heißt nichts anderes, als daß der Entscheidung der Märkte durch staatliche Intervention begegnet werden soll.“ Und: „Das soziale Netz auszudünnen, um die wachsende Staatsschuld einzudämmen, bedeutet die Abkehr vom Modell der sozialen Marktwirtschaft und die Gefährdung gesellschaftlicher und damit auch wirtschaftlicher Stabilität.“

Angesichts rigoroser Forderungen nach Kürzung sozialer Leistungen, Senkung der Staatsquote und weitestgehender Privatisierung sollten die Untersuchungen des Nobelpreisträgers Gunnar Myrdal nicht vergessen werden, die nachgewiesen haben, daß der schwache Staat die Ungleichheit verstärkt und unregulierter Marktwirtschaft die Tendenz zur Arbeitslosigkeit innewohnt. Daß demgegenüber planwirtschaftlich orientierte Überlegungen mehr als fehl am Platze sind, muß nicht eigens begründet werden.

Es scheint (wieder) auf das ausbalancierte Zusammenspiel der an Grundwerten orientierten politischen Richtungsentscheidungen anzukommen: „Soviel Gesellschaft wie möglich, soviel Staat wie nötig“ (Werner Maihofer). Seit je hat liberale Politik ihr Vertrauen vor allem in die überlegene Leistungskraft schöpferischer Freiheit des einzelnen gesetzt; mehr als bisher wird es zukünftig darauf ankommen, daß diese Leistungskraft sich in den Dienst der Gesellschaft stellt.

Das richtige Maß zu finden, damit Anreize für individuelle Leistung verbessert und gleichzeitig eine von den Bürgern und Bürgerinnen akzeptierte neue gesellschaftliche Verantwortung installiert werden kann, wird die schwierige Aufgabe zukünftiger Politik sein. Dabei wird der Staat die ordnende Instanz bleiben müssen, ohne sich jedoch weiter auszudehnen und tiefer in die Gesellschaft einzugreifen, vielmehr eher in der Funktion eines Moderators, der die konkurrierenden Interessen gesellschaftlicher Kräfte sich so entwickeln läßt, daß der größtmögliche Nutzen für alle daraus entsteht: Gleichheit in Freiheit und Brüderlichkeit in Freiheit – jenseits jeglicher Gleichmacherei und aller kollektivistischer Versuchungen.