Gustav Stresemann

Patriot und Realpolitiker Teil I

Gustav Stresemann ist trotz der beiden Reichspräsidenten Friedrich Ebert und Paul von Hindenburg, trotz des damaligen Reichstagsabgeordneten Theodor Heuss und auch trotz des späteren Völkermörders Adolf Hitler wohl bis heute der bekannteste Politiker der Weimarer Republik geblieben. Obwohl er nur wenige Monate Kanzler und danach fünf Jahre lang Reichsaußenminister war, also keineswegs für längere Zeit die formale „Richtlinienkompetenz“ in der ersten deutschen Republik innehatte, hat er ganz wesentlich die Politik im traurigen Kapitel von Weimar bestimmt. Der Historiker Jonathan Wright nennt ihn deshalb zu Recht „Weimars größten Staatsmann“.

 Er wandelte sich als Politiker vom Monarchisten zum Republikaner, vom deutschpreußischen Nationalisten zum europäischen Patrioten – gleichwohl blieben seine Motive, Absichten und Ziele durch alle Wandlungen und politischen Wirren im Kern identisch. Sieht man von seinen frühen Jahren, von seinen Fehlleistungen in der Zeit des Ersten Weltkrieges vor allem, ab, so ruhte, was immer er in der Politik tat und veranlaßte, stets auf dem soliden Fundament echter Überzeugungen und abgewogenen Kalküls; Absicht und Ziel dieser Politik jedoch waren durchaus von Leidenschaft und emotionaler Prägung seiner Persönlichkeit bestimmt: vom glühenden Wunsch nach nationaler Einheit und Größe des Deutschen Reiches, wie er sie in seiner Kindheit und Jugend erlebt zu haben glaubte. Um ihretwillen scheute er auch vor allzu kühnen Entscheidungen und vor politischer Ranküne nicht zurück.

 Gustav Stresemann wurde am 10. Mai 1878 als eines von acht Geschwistern geboren. Sein Vater betrieb im Südwesten Berlins ein Weißbier-Geschäft und hatte es durch harte Arbeit in langen Jahren zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht. Als er dennoch im Zuge der Industrialisierung sein Geschäft schließen mußte, weil es der Konkurrenz der Großunternehmen nicht mehr gewachsen war, war dies sowohl eine schmerzliche als auch eine prägende Erfahrung für den Sohn Gustav, der er bei seiner späteren beruflichen Tätigkeit in Verbänden der Industrie stets eingedenk blieb.

 Die Familie Stresemann hat eine lange liberale Tradition. Schon der Großvater war ein „Achtundvierziger“ gewesen, der Vater war ein Anhänger von Eugen Richter, dem Führer der Freisinnigen. Es wird berichtet, daß Gustav auf dem Heimweg von der Schule häufig einen Umweg in Kauf nahm, um am Haus Richters vorbeizugehen und den großen Mann eventuell erspähen zu können.

 Gustav war das begabteste Kind unter den acht Geschwistern; er durfte deshalb als einziges das Realgymnasium besuchen und später ein Studium absolvieren. Er war eher ein zurückhaltender, introvertierter Schüler, der sich besonders gern mit den Klassikern, vor allem mit Goethe, aber auch mit Geschichte und Politik, hier vornehmlich mit Napoleon und Bismarck, befaßte. Seine Mutter nannte ihn den „Traumjörg“. Unter diesem Titel veröffentlichte er 1920 ein Bändchen mit von ihm selbst verfaßten Gedichten.

Stresemanns Weg in die Politik

Seine journalistischen Fähigkeiten erregten schon bei seinen Lehrern Aufsehen. Seine musisch-künstlerisch inspirierten Aufsätze und Rezensionen nötigten selbst Fachleuten Respekt ab, wenn sie auch einen leicht romantisierenden Hang zum Kitschigen zunächst nicht unterdrücken konnten. Nach dem Abitur studierte er in Berlin und Leipzig das damals noch recht ungewöhnliche Fach der Nationalökonomie und legte 1900, 22jährig, seine Doktorarbeit zum Thema „Die Entwicklung des Berliner Flaschenbiergeschäftes“ vor. Er hatte sich in seinem Studium, getreu liberaler Tradition, den Reformburschenschaften „Neo-Germania“ und „Suevia“ angeschlossen.

 Mit der Wahl seines Studienfaches hatte Stresemann Gespür für zukunftsorientierte Themen bewiesen; das gleiche Talent zeigte er bei der Wahl seines Berufes. Er ging in das damals noch sehr junge Verbandswesen der Wirtschaft. 1902 wurde er Syndikus des. „Sächsischen Industriellen-Verbandes“, der Dachorganisation der Fertigwaren-Industrie, die in Konkurrenz zum schwerindustriell orientierten „Zentralverband Deutscher Industrieller“ stand. Freilich konnte er von seinem Gehalt (1000 Reichsmark pro Jahr) den Lebensunterhalt kaum bestreiten; jedoch gelang ihm hier wie später in der Politik eine rasche Karriere, die er neben seinem politischen Engagement bis in die Anfangszeiten der Weimarer Republik im Auge behielt.

 1903 heiratete Stresemann die bildschöne Käthe Kleefeld, Tochter eines jüdischen Fabrikanten aus Berlin, mit der er bis zu seinem Tod eine glückliche Ehe führte. Die Söhne Wolfgang und Joachim wurden in (national)liberaler Tradition erzogen. Auf frühen Fotografien der beiden sieht man sie in Matrosenanzügen, was die Übereinstimmung der Familie mit den Flottenaufrüstungs- und Großmachtplänen des Kaisers und seines Großadmirals von Tirpitz verdeutlichen sollte.

 Was immer Stresemann in seinen jungen Jahren anpackte, alles hatte und behielt ein wenig den Geruch kleinbürgerlichen Miefs. Er wurde sich dieser Tatsache später durchaus bewußt, und im laufe der Jahre gelang es seiner Intelligenz und Tatkraft, die Relikte kleinbürgerlicher Erziehung weitgehend hinter sich zu lassen. Jedoch legte er niemals ganz seine Affinität zu bodenständiger Lebensart ab. Er bekannte sich als weltberühmter Politiker durchaus zu seinem Milieu, was manche Zeitgenossen und Biographen veranlaßte, ihn für kleinkariert zu halten. Dies jedoch war er trotz seines volkstümlichen Habitus gewiß nicht. Das freimütige Bekenntnis zu seiner Herkunft, die Annahme seiner Sozialisation, machte ihn sympathischer als viele seiner politischen Weggefährten, die nicht selten ebendeshalb auf ihn herabschauen zu können glaubten. Indes stand ihm das Kleinbürgerliche wohl doch lange Zeit dabei im Weg, seine wirklichen Qualitäten hervortreten zu lassen. In seiner Jugend begeisterte sich Stresemann für Friedrich Naumann und dessen national-soziales Programm. Sozialer Ausgleich und die stärkere Beteiligung der Arbeiterschaft in Staat und Gesellschaft waren und blieben ihm immer ein ehrliches Anliegen. Sein Wunsch nach nationaler Größe Deutschlands im Konzert der europäischen Staaten war indessen mindestens gleichermaßen ausgeprägt. Beides, soziale und nationale Ziele, fand er in Naumanns „National-sozialem Verein“. Stresemann wurde alsbald Mitglied und blieb durch alle Mißerfolge an der Seite Naumanns. Als dieser jedoch 1903 den Verein auflöste und sich der „Fortschrittlichen Volkspartei“ (FVP), der linksliberalen Nachfolgerin des Freisinns, anschloß, folgte Stresemann ihm nicht mehr. Vielmehr trat er der „Nationalliberalen Partei“ Ernst Bassermanns bei, die, monarchistisch ausgerichtet, traditionell in staatstragender Funktion stand, während die FVP strikt republikanisch und somit. oppositionell orientiert war.

 Stresemann traf seine politischen Entscheidungen, auch wenn sie emotional motiviert waren, zumeist nach der Maßgabe pragmatischer Vernunft. Er glaubte bei den Nationalliberalen mehr bewirken zu können als bei den Freisinnigen, zumal er die Mißerfolge und die politische Bedeutungslosigkeit Naumanns und seines „National-sozialen Vereins“ aus unmittelbarer Nähe miterlebt hatte. Hinzu kam, daß Stresemann kein Mann der Opposition war. Seine Tatkraft und seine stets vorandrängende Energie verlangten nach den Schalthebeln der Macht. Er wollte etwas bewegen und nicht in scheinbar aussichtsloser Opposition verkümmern. Die „National-liberale Partei“ schien ihm die angemessenen Voraussetzungen für seine Ambitionen zu bieten.

 Dort machte er bald von sich reden: 1906 wurde er zum Stadtverordneten in Dresden und 1907 in den Reichstag gewählt. Im Jahr zuvor hatte er auf dem Goslarer Reichsparteitag mit einer Rede gegen die allzu „gouvernementale“ Haltung der Nationalliberalen für Aufsehen gesorgt. Er galt fortan als Rebell in der Innenpolitik, auch weil er die „Revolution“ von 1848 positiv würdigte und sie nicht zugunsten der Bismarckschen Leistungen geringschätzte. Dies war für einen Nationalliberalen durchaus nicht selbstverständlich. Hinzu kamen sein sozialpolitisches Engagement und die eindeutige Sympathie für eine konstitutionelle Monarchie, in der die Regierung in erster Linie dem Parlament und nicht dem Kaiser gegenüber verantwortlich sein sollte – was ihn dem rechten Flügel der Partei überaus suspekt machte. Jedoch wurde er durch ein ebenso klares Eintreten für eine Kolonial- und Rüstungspolitik nationaler Stärke wiederum auch für die Rechte akzeptabel, wodurch er in eine heikle Position der labilen Balance geriet, die er freilich virtuos zu behaupten verstand. Diese Position hat er auch später in der von ihm selbst gegründeten „Deutschen Volkspartei“ (DVP) der Weimarer Republik stets beibehalten, bis der Balanceakt kurz vor seinem Tod 1929 schließlich doch scheiterte.

 Nach Stresemanns Einzug in den Reichstag erkannte der damalige Fraktions- und Parteivorsitzende der Nationalliberalen, Ernst Bassermann, alsbald dessen politische Begabung. Er schätzte die rhetorischen Fähigkeiten und die Brillanz der Argumentation, die Stresemann in politischen Debatten entwickelte. Auch seine „Verschlagenheit“, wie Theodor Eschenburg es nennt, nötigte Bassermann durchaus Respekt ab, wogegen andere ebendeswegen eher ablehnend Stellung zu dem mit 28 Jahren jüngsten Reichstagsmitglied bezogen. Bassermann indes sah in Stresemann bald seinen Nachfolger und protegierte ihn, wo er nur konnte. In der Öffentlichkeit sprach man von ihm gelegentlich schon als dem „Kronprinzen“ der Nationalliberalen. 1912 allerdings, als er seinen Wahlkreis an den

Kandidaten der Sozialdemokratie verlor, schien die steile Karriere Stresemanns ein jähes Ende zu nehmen. Indessen ließ er sich nicht entmutigen und zog zwei Jahre später bei einer Nachwahl wieder in den Reichstag ein, um sein ehrgeiziges politisches Wirken fortzusetzen.

 Stresemann gehörte nicht zu den Kriegstreibern; als jedoch 1914 der Krieg ausbrach, gehörte er zu den begeistertsten Anhängern weitgesteckter Kriegsziele: Belgien sollte unter deutsche Oberherrschaft gestellt, Beifort, das Erzbecken von Longwy und Brie sowie die französische Kanalküste bis Calais sollten annektiert werden; im Osten sollten Polen, die baltischen Länder und die Ukraine von Rußland abgetrennt und als autonome Gebiete an Deutschland oder Österreich-Ungarn angeschlossen werden; in Zentralafrika sollte ein großes deutsches Kolonialgebiet unter Einschluß des belgischen und französischen Kongo entstehen.

 Diese von nationaler Überheblichkeit geprägten Vorstellungen, die heute nur noch schwer nachzuvollziehen sind, hatte keineswegs nur er allein, er teilte sie mit Politikern und Intellektuellen aus allen Lagern. Da er selbst aus gesundheitlichen Gründen nicht ins Feld einrücken mußte, Bassermann jedoch als Rittmeister der Landwehr die Uniform anzog, wurde Stresemann bald der Wortführer der Nationalliberalen im Reich. Sein fast naives Zutrauen zum Militär als einer unpolitischen, aber absolut vaterlandstreuen Institution ließ seine Bewunderung für die Generäle, besonders für den Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg und seinen Generalquartiermeister Erich Ludendorff, den strategischen Kopf der deutschen Streitkräfte, ins nahezu Religiöse steigen.

 Bei allem nationalen Streben nach deutscher Weltmachtstellung und Unangreifbarkeit verlor er die näher liegenden politischen Ziele indes nicht aus den Augen. Im Gegensatz zu bedeutenden Kreisen vor allem in der Ruhrindustrie wollte er mit dem erhofften Sieg im Krieg innenpolitische Forderungen der Demokratisierung verbinden, zum Beispiel die Abschaffung des preußischen Dreiklassen-Wahlrechts. Die Sorge der konservativen Kreise in seiner Partei, mit einer solchen Wandlung der innenpolitischen Verhältnisse werde die gesamte alte Ordnung fallen, teilte er nicht. Vielmehr glaubte er gerade dadurch die Monarchie retten zu können.

Katastrophale Fehleinschätzung der Kriegslage

Sowohl seiner Absicht, im Krieg das Äußerste zu erreichen, als auch seinen innenpolitischen Reformvorstellungen schien ihm der konservative Kanzler Bethmann-Hollweg im Weg zu stehen. Deshalb betrieb er 1917, als die Entscheidung des Kriegs praktisch schon gegen Deutschland gefallen war, zusammen mit dem Zentrumspolitiker Matthias Erzberger den Sturz des Kanzlers. Erzberger hatte zwar ganz andere Gründe für die Ablösung Bethmanns – er wollte die „Friedensresolution“ der Sozialdemokraten, des Zentrums und der linksliberalen durchbringen, wobei ihm der Kanzler hinderlich zu sein schien -, jedoch hielten diese diametral entgegengesetzten Absichten keinen der beiden davon ab, gegen Bethmann an einem Strang zu ziehen. Nur war Erzberger der Gewieftere. Er manövrierte die Nationalliberalen im Interfraktionellen Ausschuß des Reichstages, der zur überparteilichen Festlegung der Kriegszielpolitik gegründet worden war, aus, setzte die Friedensresolution und damit die Forderung nach einem Verhandlungsfrieden durch und ließ Stresemann in der politischen Isolation zurück.

 Indessen hatte der diese Isolierung sich durchaus auch selbst zuzuschreiben. Er hatte laviert, wo er nur konnte, wollte einmal im Ausschuß mitarbeiten, dann wieder nicht, stellte Forderungen, die nicht einmal er selbst für annehmbar halten konnte, und verscherzte sich schließlich alle Sympathien. Deshalb wollte auch der letzte Kanzler der deutschen Monarchie, Prinz Max von Baden, den unsicheren Kantonisten im Oktober 1918 nicht in seiner Regierung haben. überdies wußte man, daß Stresemann stets alle parlamentarischen Erwägungen unverzüglich dem Stabschef Ludendorff zu hinterbringen pflegte. Er war im In- und Ausland als „Ludendorffs junger Mann“ diskreditiert, was ihn für eine Beteiligung an einer Regierung, die einen Frieden aushandeln sollte, vollends als untauglich erscheinen ließ.

 Stresemann forderte bis zuletzt den Siegfrieden. Seit 1917, dem Tod Bassermanns, war er nun auch gewählter Vorsitzender der nationalliberalen Reichstagsfraktion. Sein Starrsinn und seine völlige Fehleinschätzung der Kriegslage fielen deshalb auf die gesamte Partei zurück. Erst als er im Oktober 1918 von einem Vertreter der Obersten Heeresleitung über die hoffnungslose militärische Situation unterrichtet wurde, beugte er sich den Realitäten. Was dann folgte, mußte er ertragen, ohne etwas ändern zu können: die Kapitulation und das Waffenstillstandsabkommen von Compiègne, den Zusammenbruch der Monarchie und die Bildung der sozialistischen Revolutionsregierung. Er hatte durch innenpolitische Reformen und außenpolitische Siege die Monarchie und die Grundlagen der alten Ordnung retten wollen, nun stand er vor einem Scherbenhaufen.

 Man mag über Stresemanns katastrophale Fehleinschätzungen und sein „Finassieren“ gegenüber den Mehrheitsparteien SPD, FVP und Zentrum denken, wie man will, man mag Erklärungen und Entschuldigungen finden, die den Zeitgeist und die

Geister (oder Gespenster) in seinem Gefolge bemühen, man mag die Verhältnisse bezichtigen, die nun einmal nicht so gewesen wären – um eines kommt man nicht herum: Stresemann hat im Ersten Weltkrieg eine (vorsichtig formuliert) überaus unglückliche Figur gemacht. Matthias Erzberger nannte ihn einen „politischen Laubfrosch“, Philipp Scheidemann, der erste Regierungschef der Republik, bezeichnete Ihn als „einen politischen Bankrotteur, der Anschluß an einen zahlungsfähigen Kompagnon“ sucht.

 Es mag zynisch klingen, wenn man die Jahre 1914 bis 1918 angesichts der schrecklichen Kriegsereignisse Stresemanns politische Lehrjahre nennt.Aber leidenschaftslos betrachtet, waren sie es gleichwohl. Er hatte sich in eine Aufgabe gestürzt, unterstützt von seinem Mentor Bassermann, allein seinem rhetorischen Talent und seinem taktischen Geschick vertrauend. Er konnte damit viele seiner Konkurrenten blenden, der Situation jedoch war er keineswegs gewachsen. Er war einer der absoluten Verlierer bei einer Niederlage auf der ganzen Linie, die einem seit langer Zeit morschen System endgültig den Garaus machte. Bei aller politischen Läuterung, die diese Niederlage für ihn bewirkte, gelang es ihm aber noch nicht, dem überholten wirklich den Rücken zu kehren. Die Tragödie des Ersten Weltkrieges hatte bei Stresemann zunächst lediglich an der Oberfläche rationaler Erwägungen die politische Katharsis zur Folge.

 Als sich die erste deutsche Republik konstituierte, trat für viele unerwartet eine neue Partei auf den Plan: Theodor Wolff, Chefredakteur des Berliner Tageblattes, die Professoren Ernst Troeltsch und Alfred Weber, Bruder des Soziologen Max Weber, sowie andere liberale Intellektuelle riefen zur Gründung einer demokratischen Partei auf, die sich von den alten „bankrotten“ Parteien deutlich unterscheiden sollte. Diese Aktion sollte nicht nur die alte FVP, sondern das linksliberale Klientel aller bisherigen Parteien ansprechen. Auch um die Nationalliberalen der Kaiserzeit, zumindest um ihren linken Flügel, wurde bewußt geworben.

 Stresemann hatte mit einer solchen Gründung nicht gerechnet. Zunächst setzte er auf vorsichtige Annäherung, mußte jedoch bald einsehen, daß ihn seine Politik im Weltkrieg zu sehr belastete, als daß er eine Chance zur Aufnahme und vor allem zur Einflußnahme gehabt hätte. Nachdem er in den Fusionsverhandlungen der ehemaligen Nationalliberalen mit der Fortschrittspartei zugunsten der neuen „Deutschen Demokratischen Partei“ (DDP) eine entscheidende Niederlage erlitten hatte und sich sogar der ehemalige Reichsvorsitzende der Nationalliberalen, Robert Friedberg, der republikanischen Partei anschloß, blieb ihm keine andere Wahl, als Mitte Dezember 1918 seinerseits die verbliebenen Nationalliberalen zu sammeln und eine gegen die Republik für die Wiederherstellung der Monarchie eingestellte Partei, die „Deutsche Volkspartei“ (DVP), zu gründen. Er wurde auf dem Gründungsparteitag einstimmig zu ihrem Vorsitzenden gewählt, der er bis zu seinem Tod 1929 blieb.

 Die „Partei Stresemann“, wie sie der Historiker Edgar Stem-Rubarth nannte, war entstanden, gleichzeitig aber auch das verhängnisvolle Schisma der Liberalen in der Weimarer Republik, die nur eine Fusion zu wirklichem Einfluß und vielleicht entscheidender Bedeutung hätte führen können. Stresemann sagte über die Differenzen zwischen Demokraten und DVP: „Uns trennt nur der Unterschied in der Bewertung der Gefühle, der Massenpsychologie, in der Ehrfurcht vor dem, was anderen teuer ist. Das Unverständnis für die Imponderabilien bei den Demokraten ist unser einziger Gegensatz. Ich lasse mich dabei von meinen eigenen Gefühlen leiten, die es mir gestatten, die Gefühle jener ganzen breiten Bürgerschicht mitzuempfinden, die sich mit den Dingen abfindet, wie sie nun einmal liegen, die den Staat, wie immer er aussieht, als den Ihren schützen und stützen will – die es aber nicht verträgt, wenn man Ihr heute das verunglimpft, was sie gestern heilig gehalten hat. Und wenn auch dieses Gestern manche Fehler und Mängel enthalten hat, so war es doch zugleich eine Zeit unserer glanzvollsten Entwicklung; es ist deshalb vollkommen natürlich, daß viele Menschen diese Zeit und ihr eigenes Erleben in ihr mit dem System und vor allem mit den Zeiten identifizieren, unter denen dieses Erleben stand.“

 Sein emotionaler Monarchismus war kurz nach dem Ersten Weltkrieg noch viel zu stark ausgeprägt, als daß er eine strikt republikanische, liberaldemokratische Politik hätte unterstützen können. Allenfalls hätten taktische Erwägungen ihn zum Schein auf die Linie der Republik einschwenken lassen, was bald darauf tatsächlich der Fall sein sollte. Der amerikanische Historiker Henry Ashby Turner sagt zu dieser Haltung: „In dieser Hinsicht verhielt er sich wie viele seiner deutschen Zeitgenossen, die das blühende und mächtige Kaiserreich der schwachen und ungesicherten Republik gegenüberstellten, ohne zu erkennen, daß die Belastungen der Republik zum großen Teil dem Versagen des Kaiserreiches zuzuschreiben waren.“

 Fürs erste war Stresemann ohnehin nicht gefordert, sich für oder gegen die Regierungsverantwortung in der Republik zu entscheiden. Die Wahlen zur Nationalversammlung von 1919 ermöglichten eine Koalition aus Sozialdemokraten (SPD), Zentrum und DDP, die fortan die „Weimarer Koalition“ genannt wurde. Sie hatte sich schon bei der Friedensresolution 1917 abgezeichnet. Die DVP erhielt immerhin 4,4 Prozent, was bei der schlechten Ausgangslage

kaum erwartet worden war. Schon in den ersten Beratungen der Nationalversammlung gab Stresemann, der mit seiner DVP, der „Deutschnationalen Volkspartei“ (DNVP) und der „Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei“ (USPD) zusammen den Großteil der wirkungslosen Opposition bildete, zu erkennen, daß er gewillt war, die republikanischen Spielregeln zu akzeptieren. Er hatte sich gegen Bestrebungen des rechten Flügels in seiner Partei, der die Fusion mit der DNVP anstrebte, erfolgreich zur Wehr gesetzt. Als liberal Denkender, der

Politische Schwierigkeiten für den „Vernunft-Republikaner“

er trotz allem war, waren ihm einige Erzkonservative in der DNVP zutiefst zuwider. Zudem hatte ihm die empörte Reaktion der Öffentlichkeit, aber auch eines Teils der eigenen Partei auf sein törichtes Glückwunschtelegramm zum Geburtstag des ehemaligen Kronprinzen gezeigt, daß realistische Politik gegen die republikanische Staatsform bis auf weiteres nicht zu machen war. Also schwenkte er verbal schon bald ein und sagte am 13. April 1919 vor dem ersten Parteikongreß der DVP: „Wir müssen uns auch des einen klar sein, daß Großdeutschland nur zu schaffen ist auf republikanischer Grundlage.“ Dennoch blieben natürlich die Farben der Partei schwarz-weiß-rot.

 Der Versailler Friedensvertrag, wie ihn die Alliierten vorlegten, war für alle Parteien in Deutschland eine große Enttäuschung. Reparationszahlungen und Gebietsabtretungen in demütigendem Ausmaß wurden gefordert, und die Kriegsschuld wurde den Deutschen und ihren Verbündeten allein angelastet. Dieser Vertrag schien unannehmbar; die Alliierten verlangten jedoch ultimativ die bedingungslose Annahme bis zum 23. Juni 1919, 18 Uhr, andernfalls sollte Deutschland besetzt werden.

 Die Regierung Scheidemann, mit ihr de DDP-lnnenminister Hugo Preuß, aus dessen Feder die Weimarer Verfassung stammte trat zurück. DNVP, DVP und die Mehrheit der DDP lehnten die Annahme ab. Nach langen Verhandlungen gelang es den, DVP-Fraktionsvorsitzenden Rudolf Heinze, die Formel für die Regierung Bauer (SPD) zu finden: Das Kabinett sollte durch bedingungslose Annahme die Gefahr einer Besetzung abwenden, während die Oppositionsparteien als Gegenleistung sich bereit erklären sollten, die vaterländische Gesinnung derer, die diesen Schritt unterstützten, nicht in Zweifel zu ziehen. Auf dieser Grundlage unterwarf sich die Regierung den alliierten Bedingungen.

 Stresemann schob bei aller realpolitischen Vernunft die Schuld an dem „Diktat von Versailles“ der Republik zu, was wesentlich dazu beitrug, daß die neue Verfassung im August 1919 gegen die Stimmen der DVP-Abgeordneten verabschiedet wurde. Ein Umstand, der ihm im Verlauf seiner Wandlung zum „Vernunft-Republikaner“ immer wieder große Schwierigkeiten verursachen sollte. Gleichwohl war Stresemann einer der wenigen Politiker im rechten Lager, die schon 1920 die Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten anstrebten. In einem Brief vom 4. Februar schrieb er: „Ich kann mir wirklich nicht denken, daß es Leute in verantwortlicher politischer Stellung gibt, die sich die Entwicklung so denken, daß wir heute gut daran täten, die Sozialdemokraten in dauernde verantwortungslose Opposition zurückzustoßen und sie damit unzweifelhaft in das Lager der Unabhängigen und Bolschewisten hinüberzutreiben.“

 Allerdings war diese kluge Einsicht schon bald wieder vergessen. Stresemann unterstützte Mitte März 1920 zunächst den Putsch des ostpreußischen Beamten Wolfgang Kapp und des Generals Walther von Lüttwitz und erhoffte sich davon die Wiederherstellung der Monarchie. Als aber

deutlich wurde, daß der Putsch durch die konsequente Haltung der Regierungsparteien einerseits und durch einen eilig von den Gewerkschaften mobilisierten Generalstreik andererseits zusammenbrechen würde, lavierte Stresemann in Erklärungen und Memoranden, bis er seine Position so zurechtgestutzt und verklausuliert hatte, daß daraus trotz allem ein Bekenntnis zur Republik abgelesen werden konnte.

 Jedoch hielt den unverbesserlichen Monarchisten auch diese Erfahrung nicht davon ab, am 28.März 1920 zu äußern: „Ich meine, wir wollen uns darüber klar sein: keine Parallele mit dem Geschehen des 13. März (als Kapp den Putsch versuchte), aber wenn unser Herrgott und das Schicksal uns einen Menschen schickt, der auch einmal, ohne sich an alle Paragraphen von Weimar zu halten, uns wieder ein großes Deutschland schüfe, dann würde unsere Partei – so hoffe ich – ihm dieselbe Indemnität gewähren, wie die Väter der Nationalliberalen sie einem Bismarck gewährt haben.“ Als dieser Zustand einzutreten schien, lebte Stresemann nicht mehr; allerdings hätte er die Umstände der nationalsozialistischen Machtergreifung gewiß nicht gebilligt.

 Bei der Wahl im Juni 1920 verdreifachte die DVP ihre Stimmen. Stresemanns Voraussage, die ehemaligen Anhänger der Nationalliberalen würden den Demokraten bald den Rücken kehren und zur DVP kommen, hatte sich bewahrheitet. DDP und SPD verloren entscheidend. Da die SPD die stark gewachsene USPD mit in die Regierung nehmen wollte, dies jedoch von den bürgerlichen Parteien abgelehnt wurde, kam es zu einer Minderheitsregierung von Zentrum, DDP und DVP unter Konstantin Fehrenbach (Zentrum). Heinze ging als Minister ins Kabinett, was Stresemann neben seinem Vorsitz im Zentralvorstand der Partei nun auch den Fraktionsvorsitz einbrachte, den er bis zu seiner Wahl zum Kanzler 1923 behielt.

 Die Jahre bis 1923 zeigten die vollen Auswirkungen der Reparationslasten: Die Inflation stieg in schwindelnde Höhen, die Stimmen der Rechtsradikalen wurden immer lauter, die Reichswehr bereitete sich auf die Mobilmachung vor, die Linke versuchte in Hamburg, Thüringen und Sachsen das Vorspiel zur Revolution, und die Politiker waren hilfloser denn je. Nur der DDP-Außenminister Walther Rathenau vermochte zeitweilige Verhandlungserfolge zu erreichen, was 1922 zum Vertrag von Rapallo führte, der immerhin gegenüber der Sowjetunion eine Absicherung des Reiches bedeutete. Stresemann hatte mehrfach gehofft, in die Regierung eintreten zu können, was jedoch im wesentlichen an der Abneigung scheiterte, die der Zentrumspolitiker Josef Wirth, Fehrenbachs Nachfolger als Kanzler, gegen ihn hatte. Die Krise indes spitzte sich immer mehr zu. Matthias Erzberger und Walther Rathenau wurden von nationalistischen Rechtsextremisten ermordet, und am 10. Januar 1923 besetzten die Franzosen und die Belgier das Ruhrgebiet, was sie mit dem Rückstand von Reparationslieferungen begründeten.

 In der DVP hatte sich zwischenzeitlich die Industrie etabliert. Hugo Stinnes, Schwerindustrieller und reichster Mann Deutschlands, machte seinen Einfluß gegen Stresemann, der eher die Interessen der Leichtindustrie förderte, geltend. Der Parteivorsitzende konnte diesen Angriff noch abwehren, indem er geschickt Repräsentanten auch anderer Industrie- und Landwirtschaftsverbände in Schlüsselpositionen brachte. Später indes, als die Energie und Tatkraft Stresemanns durch seine Staatsämter gebunden waren, geriet die Partei außer Kontrolle und verkam zum reinen Lobbyistenverein. Aber schon 1922/23 war die DVP keine liberale Partei im Sinne einer freiheitlichen Orientierung mehr. Sie hatte zwar noch liberale Persönlichkeiten in ihren Reihen, allen voran der Parteivorsitzende selbst, jedoch schwand deren Einfluß

mehr und mehr, und die DVP wurde zum Wahlverein der Industrie.

 Stresemann versuchte das programmatische Defizit in der DVP durch die publizistische Propagierung liberaler Themen und Positionen in dem von ihm herausgegebenen Wochenblatt Deutsche Stimmen und auch in der von ihm beeinflußten Berliner Tageszeitung Die Zeit zu beheben, jedoch bildete dies Engagement kein ausreichendes Gegengewicht gegen eine mit liberalen Ansprüchen nicht mehr vereinbare Parteipolitik. Den bestimmenden Einfluß der Industrie mußte die DVP sich auch deshalb gefallen lassen, weil sie an chronischem Finanzmangel litt und auf die Zuwendungen der, Industriellen angewiesen war – was Stresemann später dazu veranlaßte, Wahlkampfkostenerstattung vom Staat zu fordern. Zunächst war an eine stärkere Belastung des Staatshaushaltes aber nicht zu denken. Es ging darum, die Reparationen mit den Alliierten neu auszuhandeln und die Inflation zu stoppen. Da die Regierung den passiven Widerstand im Ruhrgebiet finanzierte, ergab sich ein zusätzlicher Kostenfaktor, der auf Dauer nicht zu bewältigen war.

 Als auch der von Parteien unabhängige Mann der Wirtschaft, Wilhelm Cuno, sich als Kanzler diesen Belastungen nicht mehr gewachsen zeigte, beauftragte Reichspräsident Friedrich Ebert den Vorsitzenden im Auswärtigen Ausschuß des Reichstages Gustav Stresemann am 12. August 1923 mit der Bildung einer neuen Regierung. Der Simplicissimus feierte ihn auf seinem Titelblatt voreilig als rettenden Engel. Und auch der linksliberale Chefredakteur des Berliner Tageblattes, Theodor Wolff, der Stresemanns Eintritt in die DDP 1918 noch verhindert hatte unterstützte den anscheinend, nunmehr zum Republikaner geläuterten Mann.

 Der Grund dafür, daß Stresemanns Politik derjenigen fast aller anderen Persönlichkeiten in den Regierungen der Weimarer Republik überlegen war, liegt darin, daß er ein zielgerichtetes Konzept hatte, an dem er durch alle Irrungen und Wirrungen festhielt. Bei allen taktischen

Stresemann wird Kanzler im Schlüsseljahr 1923

Winkelzügen, die im laufe der Zeit notwendig wurden: Weder als Kanzler noch als Außenminister gab er dieses Konzept auf. Im Gegenteil. In der Verteidigung seiner Ziele erwies er sich als politischer Stratege von hohen Graden, dem keiner seiner Widersacher sich gewachsen zeigte.

 Seine grundlegenden politischen Überzeugungen hatte er schon vor seiner Bestellung zum Kanzler mit folgenden Worten umrissen: „Unser Leben und Sterben hängen nicht davon ab, ob wir eine Goldmilliarde Mark mehr oder weniger zahlen, ob wir einige Jahre später oder früher die Grundlage für ein neues wirtschaftliches Emporkommen gewinnen. Davon aber, daß Rhein und Ruhr deutsch bleiben, davon hängen unser Leben und Sterben ab. Über Höhe und Modalitäten der deutschen Zahlungen wird man sich mit Deutschland verständigen können, aber über ein Aufgeben des deutschen Rheinlandes gibt es für uns keine Verständigung.“ Später, in einem unglücklichen Brief aus dem Jahr 1925 an den ehemaligen Kronprinzen der Hohenzollern, präzisierte er seine einfache, aber von tiefer Überzeugung getragene politische Agenda: Er ergänzte die Lösung der Reparationsfrage und damit der Besetzung des Ruhrgebietes um den Schutz der Auslandsdeutschen, die Korrektur der Ostgrenzen, also die Wiedergewinnung Danzigs und des polnischen Korridors, und eine Grenzberichtigung in Oberschlesier. Als weiteren Schritt wollte er den Anschluß Deutsch-Österreichs betreiben.

 Indessen war dieses politische Konzept zunächst nur die Kulisse einer Politik, vor der drängendere Fragen im Vordergrund standen. Die Inflation hatte den Dollarkurs eine Million Reichsmark überschreiten lassen. Die Finanzierung des passiven Widerstands an Rhein und Ruhr war nicht mehr zu leisten. Die Zahlungen jedoch zu beenden barg das Risiko einer Reaktion von rechts, deren Anzeichen mancherorts schon deutlich zutage traten. Die Franzosen rüsteten nach den Worten des englischen Botschafters Lord d’Abernon für den Fall eines rechtsgerichteten Aufstands zum Einmarsch, und die Kommunisten hielten sich bereit, die Machtprobe mit der Republik zu wagen. Sogar die Industriellen rieten in dieser Situation zu einem selbständigen Rhein-Staat, zu dessen Verwirklichung sie unautorisierte Verhandlungen mit Frankreich unter Leitung des Kölners Otto Wolff bereits begonnen hatten.

 Stresemann, der mit einer großen Koalition aus SPD, DDP, Zentrum und DVP regierte, ignorierte diese Vorschläge und beabsichtigte seinerseits, den passiven Widerstand zu beenden, um die Finanzen zu entlasten und geeignete Voraussetzungen für Verhandlungen über eine Neuregelung der Reparationszahlungen und den Abzug der fremden Truppen aus dem Ruhrgebiet zu schaffen. Als der entsprechende Kabinettsbeschluß gefaßt war, verkündete Bayern sofort den Ausnahmezustand und drohte, sich aus dem Reichsverband auszuschließen. Zum Generalstaatskommissar in München wurde Gustav Ritter von Kahr bestellt, ein Vertrauensmann der Rechtsorganisationen. Daraufhin verhängte Ebert den Ausnahmezustand über das gesamte Reich und übertrug die vollziehende Gewalt Reichswehrminister Otto Gessler (DDP).

 Indessen steigerte sich die Aufruhrstimmung gegen die Regierung mehr und mehr. Der Dollarkurs betrug Ende September 101 Milliarden Papiermark; in Küstrin wurde ein Putschversuch niedergeschlagen; Stresemann strebte ein Ermächtigungsgesetz an, das der Regierung Vollmacht für besondere finanzielle, wirtschaftliche und soziale Maßnahmen geben sollte. Außerdem sollte zur wirtschaftlichen Gesundung der Achtstundentag abgeschafft werden. Die Sozialdemokraten, für die besonders die hinhaltende Politik gegenüber den verfassungbrechenden Bayern inakzeptabel war, traten aus der Regierung aus. Durch die Vermittlung Eberts konnte jedoch ein zweites Kabinett Stresemann gebildet werden, in dem Hans Luther, ein hochbefähigter Verwaltungsfachmann, Finanzminister wurde. Nachdem das Ermächtigungsgesetz schließlich am 13. Oktober 1923 vom Reichstag angenommen worden war, gelang es Luther, durch Einführung der Rentenmark, die nicht mehr auf Goldreserven, sondern auf Goldwert von Wirtschaftsgütern und Immobilien basierte, die Inflation einzudämmen.

 Jedoch traten neue Belastungen bald an die Stelle der alten: In Sachsen und Thüringen waren die Kommunisten in die sozialistisch geführten Regierungen eingetreten. Sie bildeten proletarische Hundertschaften, die alsbald mit der Staatsgewalt aneinandergerieten. Bayern stand deshalb kurz vor dem Einmarsch nach Thüringen, womit der Bürgerkrieg und damit eine Intervention der Alliierten unvermeidlich geworden wären. Edgar Stern-Rubarth beschreibt die Situation, der Stresemann sich im Oktober 1923 gegenübersah, folgendermaßen: „In Bayern eine durch General von Lossow auf die bayerische Staatsregierung vereidigte Reichswehr? In Sachsen eine kommunistisch durchsetzte Landesregierung, die Betriebsräte-Kongresse nach russischem Muster veranstalten will? An der thüringischen Grenze die Landsknechte Ehrhardts? In Küstrin die Putschisten der ‚schwarzen Reichswehr‘? An den wirtschaftlichen Lebensadern Deutschlands französische Exekutionstruppen mit Zollinie, Eisenbahnregie und Verkehrssperre gegen das Reich, dahinter Dorten und Genossen mit ihrer ,Rheinischen Republik’? Es gehörte verteufelt viel mehr Nationalgefühl dazu, in jenen Tagen die Wahrheit zu sagen, als ein verzweifeltes Volk, an dessen Spitze man sich setzen konnte, zu irgendeinem Amoklauf zu veranlassen.“