Patriot und Realpolitiker, Teil II und Schluß
Stresemann behielt die Nerven und führte. Er setzte die Regierungen in Sachsen und Thüringen ab, ließ die Reichswehr einrücken und vermied dadurch das Einschreiten Bayerns. Dies ließ die Sozialdemokraten, die ähnliche Maßnahmen gegen Bayern forderten, erneut aus der Regierung austreten. Einen von seiner eigenen Partei geforderten Rechtsruck durch die Aufnahme der DNVP in die Regierung wehrte Stresemann ab, wohl wissend, daß seine Verhandlungsposition gegenüber Frankreich und dessen starr an der Durchsetzung des Vertrages von Versailles festhaltenden Ministerpräsidenten Poincaré dadurch sehr viel schlechter geworden wäre. Auch als General von Seeckt, der Chef der Streitkräfte, versuchte, die Führer der Reichswehr gegen die Regierung einzunehmen und selbst an das Ruder des Staates zu treten, verhinderte Stresemann durch seine kompromißlose Haltung, in der er entscheidend durch Ebert gestützt wurde, einen Sturz der Republik. Seeckt lenkte schließlich ein und wurde nun selbst zum Befrieder der bayerischen Situation. Dort versuchten Hitler und Ludendorff am 8. November 1923 eine „Nationale Revolution“, die jedoch durch die Loyalität des Generals Otto von Lossow, des Befehlshabers der Reichswehr in Bayern, zu Seeckt im Keim erstickt wurde. Die Gefahr des Bürgerkrieges war damit gebannt.
Schließlich gelang es Stresemann noch, die Franzosen hinsichtlich seiner Absicht, eine Kommission zur Neuregelung der Reparationszahlungen einzurichten, zur Einwilligung zu bewegen. Danach stellte er im Reichstag die Vertrauensfrage. Die Sozialdemokraten entzogen ihm ihre Unterstützung, wodurch die rund einhunderttägige Kanzlerschaft Stresemanns am 23. November 1923 beendet wurde. Friedrich Ebert sagte den Vertretern seiner Partei, der SPD, nachdem sie im Reichstag gegen Stresemann gestimmt hatten: „Was euch veranlaßt, den Kanzler zu stürzen, ist in sechs Wochen vergessen, aber die Folgen eurer Dummheit werdet ihr noch zehn Jahre lang spüren.“ Es sollten mehr als zehn Jahre werden.
Theodor Eschenburg würdigt die Leistung Stresemanns als Kanzler mit folgenden knappen Worten: „Hätte Stresemanns politisches Wirken nach seiner Entlassung aus irgendeinem Grund ein Ende gefunden, allein seiner Leistung in den hundert Tagen seiner Kanzlerschaft wegen wäre er eine der bedeutendsten Erscheinungen der Weimarer Zeit.“ Diese Leistung hat Stresemann schon 1923 mit seiner Gesundheit bezahlt. Nachdem er unter äußerstem Einsatz seiner Physis und all seiner mentalen Fähigkeiten im Oktober eine eigenständige Rhein-Ruhr-Währung verhindert hatte, erlitt er seinen ersten körperlichen Zusammenbruch.
Er war Außenminister in sieben Kabinetten
Stresemann hatte in seiner Zeit als Kanzler selbst auch das Außenministerium übernommen. Nicht nur durch diese Doppelfunktion, auch durch seine vorherige Tätigkeit als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Reichstag hatte er sich trotz seiner monarchistischen Vergangenheit großes Vertrauen bei den Regierungen der Alliierten und bei ihren Botschaftern in Berlin erworben. Als das erste Kabinett Marx (Zentrum) in der Nachfolge Stresemanns gebildet wurde, bat ihn die Zentrumsfraktion ganz ausdrücklich darum, Außenminister zu bleiben. Man wußte um das Ansehen, das er im Ausland genoß. Schwierigkeiten bei seiner Außenpolitik, die auf immer neue Ausgleichsversuche mit den Siegermächten abgestellt war, um seine großen Ziele zu erreichen, machten ihm vor allem die DNVP und seine eigene Partei. Sie verdächtigten ihn zum Teil auch in der Öffentlichkeit, das „Schanddiktat“ von Versailles zu akzeptieren und gegen deutsche Interessen zu handeln. Er mußte immer wieder seine ganze Autorität in die Waagschale werfen, um eine Gefolgschaft für seine Politik zu finden.
Stresemann war sich darüber klar, daß eine Konsolidierung des Deutschen Reiches und die Bemühungen um Anerkennung in Europa der Zustimmung auch der Rechten bedurften. Er glaubte die Konservativen durch seine außenpolitischen Erfolge auf die Seite der Republik ziehen und zur Akzeptanz ihrer Verpflichtungen den Siegermächten gegenüber bewegen zu können. So setzte er auf den „Primat der Außenpolitik“, den er mit dem Hinweis auf Bismarck, von dem der Ausdruck stammt, immer wieder beschwor. Alle seine großartigen außenpolitischen Leistungen sind diesem Politikverständnis zu verdanken; dennoch kam er seinen innenpolitischen Zielen dadurch kaum näher. Im Gegenteil: Abgrundtiefe Gräben zwischen rechts und links taten sich auf – zwischen Nationalisten und Europäern, Monarchisten und Demokraten, Konservativen und Sozialisten -, die nicht mehr zu überbrücken waren. Diese Entwicklung macht die tiefe Tragik seiner Politik aus.
Zu Beginn des Jahres 1924 trugen Stresemanns Bemühungen aus seiner Zeit als Kanzler Früchte. Das Reich konsolidierte sich wirtschaftlich und finanziell zusehends; die Bildung eines rheinischen Bundesstaates war kein Thema der Politik mehr; Belgien distanzierte sich von der französischen Okkupationsstrategie; England intervenierte dagegen mit Erfolg; die Wirtschaft des Reiches bildete mit der in den besetzten Gebieten zusammen wieder eine Einheit; der militärische Ausnahmezustand wurde aufgehoben und der Konflikt mit Bayern beigelegt.
Außenpolitisch war sein wohl wichtigster Erfolg, daß die von den Alliierten eingerichtete Reparationskommission, dem Antrag der Reichsregierung entsprechend, eine Sachverständigenkommission zur Neufestsetzung der Reparationsleistungen unter Leitung des amerikanischen Bankiers Charles G. Dawes einsetzte. Das Dawes-Gutachten, das harte Reparationslasten mit Hilfe von „produktiven Pfändern“, zum Beispiel der Deutschen Reichsbahn, vorsah, aber auch den Abzug der Besatzungstruppen als Gegenleistung anbot, wurde von der Rechten einhellig abgelehnt, ja als ein „neues Versailles“ bezeichnet. Stresemann hingegen setzte sich für den Dawes-Plan ein, und seine DVP verlor bei den Wahlen am 4. Mai 1924 prompt 21 Sitze im Reichstag.
Auf der Londoner Konferenz zur Umsetzung des Dawes-Planes Anfang August 1924 konnte Stresemann amerikanische Anleihen erwirken, die die Zahlung der Reparationen erleichterten, und, was wichtiger war, er erhielt vom französischen Ministerpräsidenten die Zusage zur Räumung der Ruhr binnen Jahresfrist. Außerdem wurden die möglichen Sanktionen durch die Siegermächte aufgrund einer eventuellen deutschen Verfehlung unter die Kontrolle einer internationalen Schiedskommission mit amerikanischem Vorsitz gestellt, was eine erneute Gebietsbesetzung wie ehedem durch die Franzosen für die Zukunft praktisch ausschloß. Nach hartem innenpolitischen Ringen wurden die Ergebnisse der Londoner Konferenz im Reichstag angenommen – mit 48 deutschnationalen Stimmen. Damit war der Kalte Krieg im Westen beendet und die Reichseinheit wiederhergestellt. Jedoch mußte Deutschland einen hohen Preis zahlen. Die Verschuldung wuchs, was Arthur Rosenberg, radikaler Sozialist und zeitweise Reichstagsabgeordneter der Kommunisten (KPD), zu der Bemerkung veranlaßte, das Reich sei „zu einer Art von Kolonie der New Yorker Börse geworden“.
Weitere Schwierigkeiten waren außenpolitisch zu bewältigen: Frankreich weigerte sich trotz der Abmachungen, angesichts der Gefahr eines Sturzes seines radikaldemokratischen Ministerpräsidenten Herriot die erste Zone des Rheinlandes im Januar 1925 gemäß dem Dawes-Plan zu räumen. Lord d’Abernon, der englische Botschafter in Berlin, empfahl Stresemann, von sich aus die freiwillige Garantie der im Versailler Vertrag festgelegten Westgrenze, also den Ausschluß Elsaß-Lothringens aus dem Reich, anzubieten. Stresemann willigte sofort ein.
In Deutschland kam es aufgrund der französischen Haltung zu einer Regierungskrise und am 15. Januar 1925 zu Neuwahlen, in denen die DVP sechs Sitze zurückgewann. Der parteilose Finanzminister Hans Luther bildete ein neues Kabinett der Rechten, in dem Stresemann Außenminister blieb. Der verfaßte alsbald ein Memorandum an die Alliierten, in dem er die freiwillige Annahme der Westgrenze, wie im Versailler Vertrag festgelegt, durch das Reich anbot. Das Memorandum hatte er vorher mit dem Kanzler besprochen, seinen Text aber erst nach der offiziellen Abfassung vorgelegt. Das führte zu einer Verstimmung in der Koalition, die Stresemann, nachdem er es strikt abgelehnt hatte, als Botschafter nach London zu gehen, nur durch seine Rücktrittsdrohung einigermaßen entschärfen konnte.
Am 28. Februar 1925 starb Reichspräsident Friedrich Ebert. Stresemann hätte als Nachfolger gern einen Mann der Mitte gesehen, um die Verhandlungen mit den Alliierten über den Vertrag in bezug auf die Westgrenze, aber auch über eine sich andeutende Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund – der nach dem Ersten Weltkrieg als Bestandteil des Versailler Vertrages von den Westalliierten zur Vermeidung neuer Konflikte gegründet worden war – zu erleichtern. Jedoch konnte er die Wahl des ehemals von ihm geschätzten Generalfeldmarschalls Paul von Hindenburg, des Kandidaten der Rechten, dessen Kandidatur er schließlich stillschweigend gebilligt hatte, trotz mancher Bemühungen nicht verhindern. Sein Verhältnis zum neuen Reichspräsidenten blieb kühl, allerdings traten seine Befürchtungen, Hindenburg könne seiner militärischen Vergangenheit und eindeutig deutschnational ausgerichteter Sympathien wegen zur unaufwiegbaren Belastung für die Verhandlungen des Sicherheitspaketes werden, nicht ein.
Im Oktober 1925 konnten in Locarno die Außenminister von Frankreich, England, Belgien, Italien, Polen, der Tschechoslowakei und Deutschland mit den Verhandlungen beginnen. Nach 14 Tagen war der Sicherheitspakt fixiert. Deutschland auf der einen Seite sowie Frankreich und Belgien unter der Garantie Englands und Italiens auf der anderen verzichteten auf eine gewaltsame Änderung ihrer Grenzen. Auch mit Polen und der Tschechoslowakei sollten Abkommen getroffen werden, die kriegerische Konflikte ausschließen sollten. Die erste Zone des Rheinlandes sollte nach Vertragsabschluß geräumt werden. Auch für den Eintritt in den Völkerbund wurde eine Regelung getroffen, die vor allem die besondere geographische Situation Deutschlands gegenüber der Sowjetunion berücksichtigte.
Die Deutschnationalen machten ihn zum „Verwesemann“
Am 19. Oktober 1925 billigte das Reichskabinett den Vertrag von Locarno. Nun setzte jedoch eine Hetzkampagne ungeahnten Ausmaßes gegen Stresemann ein, die vom „Pressezaren“ Alfred Hugenberg, einem Führer der Deutschnationalen, angezettelt wurde. Wie einst gegen Erzberger und Rathenau wurde mit primitivsten Mitteln Stimmung gegen den Reichsaußenminister gemacht. „Stresemann-Verwesemann“ hieß die Parole. Der indessen bot den Angriffen mit Erfolg die Stirn, so daß es trotz aller Diffamierungen Ende November zur Ratifizierung des Vertrages im Reichstag kam.
Ende Januar 1926 wurde die Kölner Zone vollständig geräumt, Anfang Februar stellte die Regierung Antrag auf Aufnahme in den Völkerbund. Nach anfänglichen Schwierigkeiten wegen eines ständigen Sitzes im Völkerbundsrat, der dem Reich in Locarno zugesagt worden war, konnte dieses Problem durch eine Erweiterung der Sitze gelöst werden. Nun indes intervenierte die Sowjetunion, die der Annäherung des Deutschen Reiches an die Westmächte skeptisch gegenüberstand. Jedoch gelang es Stresemann, durch den Abschluß eines Neutralitätsabkommens mit Moskau, den Berliner Vertrag vom 24. April 1926, auch die letzte Hürde zu nehmen. Der Berliner Vertrag bedeutete zusammen mit dem bevorstehenden Eintritt Deutschlands in den Völkerbund den Höhepunkt von Stresemanns Außenpolitik. Es war ihm gelungen, Deutschland nach Osten und Westen abzusichern, und er hoffte dadurch auch seine innenpolitischen Widersacher von der Richtigkeit seiner Politik überzeugen zu können. Dies jedoch blieb Illusion.
Nach dem Sturz Hans Luthers wegen des „Flaggenstreits“, der durch die Anordnung Hindenburgs mit der Gegenzeichnung des Kanzlers entstanden war, in den deutschen Handelsmissionen im Ausland neben der schwarz-rot-goldenen Flagge auch die schwarz-weiß-rote Handelsflagge mit der schwarz-rot-goldenen Gösch zu hissen, wurde Wilhelm Marx wieder Reichskanzler. Mit ihm wurde das Deutsche Reich am 10. September 1926 in den Völkerbund aufgenommen. Stresemann hielt in Genf seine wohl bedeutendste Rede, in der er sagte: „Der wird der Menschheit am meisten dienen, der, wurzelnd im eigenen Volke, das ihm seelisch und geistig Gegebene zur höchsten Bedeutung entwickelt, um damit, über die Grenzen des eigenen Volkes hinauswachsend, der gesamten Menschheit etwas zu geben, wie es die Großen aller Nationen getan haben, deren Namen in der Menschheitsgeschichte niedergeschrieben sind.“
Im Anschluß an die Rede im Völkerbund traf sich Stresemann mit dem französischen Außenminister Aristide Briand zum Frühstück in Thoiry, einem Grenzdorf bei Genf, wobei beide eine „Gesamtlösung“ entwarfen, die eine vorzeitige Räumung aller besetzten Gebiete, auch des Saarlandes, vorsah. Allerdings kam es wegen des schwindenden politischen Einflusses Briands in Paris zunächst nicht dazu. Dennoch war die „Vision von Thoiry“ für Stresemanns innenpolitische Argumentation von großer Bedeutung. Obwohl sich ihre Vision nicht erfüllen sollte, erhielten Briand und Stresemann zusammen mit dem britischen Außenminister Austen Chamberlain und dem Amerikaner Dawes, der den Preis schon im Jahr zuvor zuerkannt bekommen hatte, ihn aber erst jetzt annehmen konnte, am 10. Dezember 1926 den Friedensnobelpreis. Der Preis dokumentierte die internationale Anerkennung von Stresemanns Politik, national freilich wuchs sein Ansehen dadurch nicht.
Das Jahr 1927 war gekennzeichnet von Stagnation in der Außenpolitik, weil sich die Interessen der Staaten gegenseitig lähmten. Im Februar 1928 zerbrach die Rechtskoalition des Kanzlers Marx am Widerstand der DVP gegen ein neues, konfessionelles Reichsschulgesetz. Im Wahlkampf erlebte Stresemann, der in Bayern kandidierte, den immer dreister agierenden Terror der allmählich erstarkenden Nationalsozialisten, die skrupellos Stimmung gegen die Republik machten, am eigenen Leib: Er mußte eine Veranstaltung frühzeitig beenden, weil Rowdies der NSDAP in den Saal eindrangen. Bei der Wahl verlor die DVP sechs Sitze. Die Regierungsbildung gestaltete sich überaus schwierig, weil die DVP-Fraktion einer Koalition mit der SPD im Reich nur zustimmen wollte, wenn auch in Preußen, wo der SPD-Ministerpräsident Otto Braun regierte, eine Aufnahme der DVP in die Regierung erfolgen würde. Diese Forderung wies die SPD entrüstet zurück, wonach auf Vorschlag Stresemanns vom SPD-Kanzlerkandidaten Hermann Müller ein Kabinett aus Ministern gebildet wurde, die zwar aus den Parteien der Großen Koalition kamen, ihren Fraktionen gegenüber aber nicht verantwortlich sein sollten.
Stresemann gab diese Empfehlung von der Bühlerhöhe im Schwarzwald aus, wo er sich zur Kur aufhielt. Das entsprechende Telegramm an Müller wurde deshalb der „Schuß von der Bühlerhöhe“ genannt. Stresemann hatte die Empfehlung an den Kandidaten der SPD ohne Rücksprache mit seiner Fraktion gegeben, was deren Vorsitzenden Ernst Scholz dazu veranlaßte, den Parteivorsitzenden öffentlich zu maßregeln. Daraufhin drohte Stresemann am 30. Juli 1928 in einem Brief an Scholz mit seinem Austritt aus Partei und Fraktion. Nachdem die Partei ihn indes Ende Dezember noch einmal einstimmig zum Vorsitzenden gewählt hatte, wurde das Thema nicht wieder aufgegriffen, der Konflikt zwischen der Fraktion und dem Außenminister jedoch schwelte weiter.
Gustav Stresemann starb am 3. Oktober 1929
Stresemann war von seiner Krankheit inzwischen so geschwächt, daß er sich diesem Konflikt nicht mehr stellen konnte. Schon im August hatte er nach der Unterzeichnung des „Kellog-Paktes“ zur Kriegsächtung in Paris einen erneuten Schwächeanfall erlitten und mußte sich wieder in ein Sanatorium begeben. Als sich der Völkerbund im Herbst 1928 wiederum darauf einigte, eine internationale Konferenz von Sachverständigen zur Regelung der Reparationen einzuberufen, diesmal mit Deutschland als vollwertigem Mitglied, war damit Stresemanns letzte große Aufgabe angekündigt. Trotz erheblicher innenpolitischer Krisen und eines fast katastrophalen Rückgangs der Konjunktur, der vor allem Stresemanns Außenpolitik angelastet wurde, trotz des immer stärker werdenden Widerstandes der Deutschnationalen und großer Teile der eigenen Partei gegen seine Politik konnte er die Voraussetzungen für erfolgreiche Verhandlungen der unter Leitung des Amerikaners Paul D. Young zusammentretenden Konferenz noch einmal sichern. Ihm gelang die Bildung einer großen Koalition unter Müller, acht Tage, bevor die Sachverständigenkonferenz ihren Ausschußbericht, den Young-Plan, annahm. Der Plan bekräftigte die strengen Reparationsforderungen und bot als Gegenleistung die Räumung aller noch besetzten Gebiete an. Die deutsche Öffentlichkeit reagierte auf den Young-Plan mit größerer Entrüstung als auf den Dawes-Plan. Hugenberg und Hitler wollten ein Volksbegehren für eine strafrechtliche Verfolgung des Kabinetts wegen Landesverrats, falls der Plan angenommen würde. Am 6. August 1929 reiste Stresemann nach Den Haag zur Konferenz über den Young-Plan. In Verhandlungen mit dem inzwischen in der Nachfolge Poincarés zum französischen Ministerpräsidenten ernannten Briand, die ihn die letzten gesundheitlichen Reserven kosteten, konnte Stresemann die Zusage zur Räumung aller noch besetzten Gebiete zum 30. Januar 1930 erwirken.
Am 9. September 1929 raffte sich der vom nahenden Tod gezeichnete Stresemann vor der Völkerbundversammlung in Genf noch einmal zu einer großen Rede auf in der er den Kabinettsbeschluß der Reichsregierung zur Annahme des Haager Ergebnisses vom 1. September 1929 erläuterte. Am 3. Oktober, nach einer harten Auseinandersetzung am Vortag in der DVP-Fraktion, starb Gustav Stresemann an den Folgen eines Herzinfarktes.
Es ist oft darüber nachgedacht und geschrieben worden, ob und warum sich der glühende Monarchist Stresemann im laufe der Weimarer Jahre zum Republikaner gewandelt oder auch – je nach Standpunkt – geläutert habe. Bei objektiver Würdigung der wesentlichen Persönlichkeitsmerkmale dieses mit politischer Hochspannung geladenen Mannes kann man eine solche Fragestellung letztlich als nicht entscheidungsbedürftig betrachten. Ihm ging es darum, an der Macht maßgeblich beteiligt zu sein und für das Wohl und die Größe Deutschlands arbeiten zu können. Dabei mußte er erkennen, daß nach 1918 eine solche Absicht mit monarchistischen Zielen nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen war. Also wurde er Republikaner. Dies fiel ihm um so leichter, als er vor allem in seinen außenpolitischen Bemühungen bald feststellen konnte, daß die Wiederherstellung deutscher Größe im internationalen Konzert besser mit pragmatischen Republikanern wie Ebert, Marx und Müller als mit verstockten Konservativen oder allzu utopischen Sozialisten zu bewerkstelligen war.
Stresemanns außenpolitischer Triumph stoppte nicht die Katastrophe
Dies alles mag dazu beigetragen haben, daß auch sein Fühlen, nicht nur sein Denken, republikanisch wurde – demokratisch war es schon zu Zeiten der Monarchie gewesen. Vielleicht können einige Hinweise für die Wahrscheinlichkeit der inneren Wandlung sprechen:
Der Mann, der noch 1925 dem ehemaligen Kronprinzen einen ergebenen Brief schrieb, in dem er seine Absicht des „Finassierens“ auf dem Weg zu seinen außenpolitischen Zielen erläuterte – was ihm in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit fast nur negativ angekreidet wurde -, trat 1928 aus dem Kaiserlichen Yachtclub in Kiel, dem deutlichsten äußeren Symbol innerer Gesinnung, aus. Mit der Begründung, daß ein Minister der Republik nicht Mitglied in einem monarchistischen Club sein könne. Indes mag schon der Brief an den ehemaligen Kronprinzen Teil eines innenpolitischen „Finassierens“ gewesen sein, mit dem er die aufbegehrende Rechte in seiner Partei beruhigen wollte. Vielleicht wollte er 1928, in die andere Richtung zielend, es den Linken in der Koalition oder auch im Ausland recht machen. Dem Taktiker Stresemann wäre es jedenfalls dann zuzutrauen, wenn er sich davon etwas zur Unterstützung seiner Außenpolitik versprochen haben sollte.
Ein anderer Hinweis mag schwerer wiegen: Die schlimmsten Feinde der Republik, die Nationalsozialisten, mußte er nicht nur im Jahr seines letzten Wahlkampfes 1929 erleben, nein, schon früher, zur Zeit der Morde an Erzberger und Rathenau und des Attentates auf Scheidemann, hatten antisemitische Nationalisten ihn wegen der jüdischen Herkunft seiner Ehefrau mit primitivsten Mitteln angegriffen. Seine Wertschätzung für die eindeutig republikanischen Parteien wurde dadurch sicherlich größer. Es ist zu vermuten, daß die Verleumdungen durch die extreme Rechte ihn, der doch in letzter Instanz nur emotionale Motive für seine Politik der Vernunft hatte, tiefier beeindruckten und entschiedener Position beziehen ließen für eine akzentuiert liberale Politik, als er es zugeben wollte.
Schließlich sei hingewiesen auf seine Bemühungen aus den Jahren 1928/29, zusammen mit dem Vorsitzenden der DDP, Erich Koch-Weser, und mit Hilfe der „Liberalen Vereinigung“, in der von Beginn der Republik an überzeugte Liberale aus DVP, DDP, aber auch Parteilose und Mitglieder anderer Parteien vertreten waren, eine neue, eindeutig in der politischen Mitte angesiedelte Partei zu gründen. Dieses Vorhaben stellte er zugunsten der Verhandlungen über den Young-Plan, vor allem aber aus gesundheitlichen Gründen, zurück. Sein Tod ließ diese Pläne gegenstandslos werden. Es hätte einer ihm ebenbürtigen Persönlichkeit bedurft, um sie Wirklichkeit werden zu lassen. Und die gab es – zumindest unter den Liberalen am Ende der Weimarer Republik, wahrscheinlich aber auch in den anderen Parteien – nicht.
Henry AshbyTurner weist mit Recht darauf hin, daß der größte außenpolitische Triumph Stresemanns, die Verträge von Berlin und Locarno sowie der Eintritt des Reiches in den Völkerbund, zugleich seine größte innenpolitische Niederlage markiert. Dies ist bitter, aber wahr. Es war seine Absicht, die politische Rechte in Deutschland, die DNVP, und große Teile seiner eigenen Partei durch seine außenpolitischen Erfolge so zu beeindrucken, daß sie ihm auch innenpolitisch auf dem Weg zur Anerkennung der Republik folgte. Das Gegenteil hat er erreicht. In einem Brief vom 13. März 1929 an seinen Parteifreund Wilhelm Kahl schrieb er resignierend: „Ich wollte die Brücke sein zwischen dem alten und dem neuen Deutschland, und ein Teil unserer Partei hat diese historische Mission unserer Partei auch erkannt. Andere können nur die alte Grammophonplatte spielen lassen und wollen immer wieder dieselbe Melodie hören.“ Und weiter: Die DVP ist „keine Partei der Weltanschauung mehr“, sondern „mehr und mehr zu einer reinen Industriepartei“ geworden. Diese Erkenntnis kam zu spät, die Partei war seiner Kontrolle bereits entkommen.
Woran lag es, daß die doch aus heutiger Sicht so imposanten außenpolitischen Leistungen bei der Rechten keinen Anklang fanden? Die Antwort ist einfach: Jeder Erfolg wurde durch harte Reparationsleistungen erkauft, durch die „Erfüllungspolitik“ des Versailler Vertrages und seiner Nachfolgeverträge. Diese Belastungen trieben das Reich in den Augen der Rechten wirtschaftlich, und damit politisch, tiefer in die Abhängigkeit von den Alliierten, vor allem vom „Erzfeind“ Frankreich, als es die Gegenleistungen vermeintlich aufwiegen konnten. Gewiß war diese Bewertung, wenn überhaupt, dann nur zu einem Teil richtig – schließlich hatte Deutschland es durch Stresemanns Außenpolitik wieder zu einer gewissen Gleichberechtigung im Konzert der Nationen gebracht -, aber es ließ sich Stimmung damit machen. Die Vorwürfe, die Stresemann von der Rechten – und manchmal auch von der extremen Linken – hinnehmen mußte, speisten sich im wesentlichen aus Ressentiment. Man muß ihm gewiß vorwerfen, daß er in seinen Verhandlungen zum Beispiel mit Briand in Thoiry allzu bereitwillig immer neue Zahlungen des Reiches in Aussicht stellte. Jedoch wäre dieser Preis wohl ohnehin nicht zu vermeiden und die Rückkehr Deutschlands zu nationaler Einheit und Größe ihm vermutlich gar noch mehr wert gewesen. Das mag man kritisieren, bessere Gegenleistungen hätten allerdings wohl nicht ausgehandelt werden können.
Seinen Gegnern, zum Beispiel dem General von Seeckt, wäre eine erneute Kraftprobe lieber gewesen. Seeckt und viele andere folgten dem eingängigen, aber katastrophalen Konzept, Deutschland solle seine frühere militärische Macht wieder zurückgewinnen und damit alles zurückerobern, was es verloren habe. Ein völlig unrealistischer Plan, aber mit solcher Kraftmeierei ließ sich die Rechte zusammenbinden. Auch die DVP erlag noch zu Stresemanns Lebzeiten dieser reaktionären Propaganda. Nach seinem Tod geriet sie folgerichtig mehr und mehr ins Fahrwasser der DNVP und schließlich in die Fänge der NSDAP, zu deren Erfüllungsgehilfen sie am Ende zählte. So trug also auch Stresemanns großartige Außenpolitik dazu bei, Deutschland in die Tyrannis zu führen? Man muß es wohl anders formulieren: Auch seine Politik internationaler Verständigung konnte die Katastrophe nicht verhindern. Viele Faktoren kamen zusammen, die schließlich in das Verhängnis führten. Eine Schuld ist freilich nur denen zuzuschreiben, die diesen Weg bewußt und aktiv beschritten. Und zu diesen zählte Stresemann niemals, wenn er auch in einigen innenpolitischen Bereichen eher der Rechten als der Mitte oder gar der Linken zuzurechnen sein mag.
Wenn wir absehen von dem bitteren Ende der Weimarer Republik, das vermutlich auch Stresemann nicht hätte verhindern können, was bleibt dann von seiner Politik? Ganz gewiß das große und ehrliche Beispiel seines Willens zur Verständigung, seines Wunsches, die Grenzen zwischen den Nationen und ihre eitlen Machtgelüste nicht noch einmal zum Anlaß von Kriegskatastrophen werden zu lassen. Und ein Beispiel für Patriotismus, der von Herzen kommt und der die Einheit und Würde Deutschlands nicht durch Hybris und Kraftmeierei, sondern Im friedlichen Ausgleich mit seinen Nachbarn wiederherstellen wollte. Für diese Ziele hat er gekämpft wie kaum ein anderer in der Weimarer Republik, bisweilen mit Mitteln, die die Grenzen politischer Redlichkeit überschritten. Auch wenn er seine Ziele nicht erreichen konnte, so hat er durch sein Beispiel die Außenpolitik in der zweiten deutschen Republik, nach der zweiten großen Katastrophe, sicherlich ganz maßgeblich vorgeprägt. Allerdings waren nach 1945 die Verhältnisse anders, insgesamt die Probleme wohl auch eher zu bewältigen. Einer Persönlichkeit von der Statur Stresemanns hat es bisher in der Bundesrepublik glücklicherweise noch nicht wieder bedurft.