Harry Graf Kessler – „Künstler in lebendigem Material“
Über sechs Jahrzehnte hat Harry Graf Kessler Tagebuch geführt, von 1880 bis 1937. Im Verlag Klett Cotta ist eine vollständige Ausgabe in neun Bänden projektiert. Acht der neun Bände sind inzwischen erschienen.
Er war ein homme de lettres, ein Kunstmäzen, ein preußischer Offizier und deutscher Diplomat; er gehörte zu einer Spezies intellektueller und kultivierter Aristokraten, die heute längst ausgestorben zu sein scheint. Die geistigen und künstlerischen, aber auch die politischen Turbulenzen seiner Zeit spiegeln sich in der Persönlichkeit des Grafen Kessler, eines Individualisten, der ein Leben lang rastlos seinen angemessenen Platz in Geselllschaft und Politik suchte und ihn trotz einer Fülle von Ämtern und Initiativen doch niemals gefunden hat. Seine Bücher und Schriften durchzieht der melancholische Ton des unbehausten Kosmopoliten, der stets bemüht ist, seine Erkenntnisse und Erfahrungen in sein ästhetisches Weltbild einzuordnen, der im praktischen Leben aber scheitert, weil ihm die Robustheit fehlt, die nötig wäre, um dem Trivialen und Brutalen der Jahre vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg angemessen zu begegnen. Je länger er sich weigerte, seine Illusionen aufzugeben, desto weiter entfernte er sich von den Realitäten und führte schließlich sein Leben nur noch als Chronist seiner Wahrnehmungen und Deutungen. Sie sind sein Vermächtnis, das vor allem in seinen Tagebüchern festgehalten ist.
Europäische Herkunft
Harry Kessler wird am 23. Mai 1868 in Paris geboren. Sein Vater leitet dort als Teilhaber eines Europäischen Bankhauses die örtliche Filiale. Die Mutter entstammt einem südirischen Landadelsgeschlecht. Zu ihren Lebzeiten kommt der Sohn mit ihrem romantischen Naturell sowie ihren kunst- und kulturbeflissenen Ambitionen nicht eben gut zurecht; später aber, fünfzehn Jahre nach ihrem Tod im Jahre 1919, setzt er ihr ein Denkmal mit dem ersten Kapitel seiner Erinnerungen „Gesichter und Zeiten“, das er „Mémé“ überschreibt.
Der Vater läßt dem Sohn eine solide und umfassende humanistische Bildung angedeihen. Er schickt ihn 1880 auf die Elite-Anstalt „St. George’s School“ in Ascot und danach 1882 auf eines der besten humanistischen Gymnasien Deutschlands, das „Johanneum“ in Hamburg. So wächst der junge Kessler dreisprachig auf, was die Grundlage für sein späteres Leben als Weltbürger und Europäer „mit mehreren Vaterländern“ bildet.
Sein Verhältnis zu Deutschland, dem er als Patriot trotz allen Ungemachs ein Leben lang in erster Linie zugewandt bleibt, wird in jungen Jahren vornehmlich geprägt durch die Verbundenheit des Elternhauses mit der Familie Bismarck und dem Hause Hohenzollern. Kaiser Wilhelm I. wird Patenonkel von Kesslers zwölf Jahre jüngerer Schwester Wilhelma; gleichwohl sind schon in seinen frühen Äußerungen zur Monarchie, vor allem aber später zum Selbstverständnis Kaiser Wilhelms II., Vorbehalte unüberhörbar, die sich um die Jahrhundertwende zu kompromissloser Opposition gegen den geistlosen Byzantinismus des eitlen Monarchen und seines speichelleckenden Hofstaates verfestigen.
1879 wird die Familie Kessler geadelt, 1881 wird ihr der Grafentitel zuerkannt. Dadurch und wegen des beträchtlichen väterlichen Reichtums ist der Weg des jungen Grafen vorgezeichnet: Trotz aller Hinwendung zur Avantgarde in Kunst und Kultur bleibt der Edelmann „seinen“ Kreisen verbunden, auch während er Künstlerzirkeln angehört, deren andere Mitglieder meist kleinen Verhältnissen entstammen, oder wenn er später sozialistische und kommunistische Bestrebungen oppositioneller Literaten und Maler unterstützt.
Kunstmäzen
Kessler selbst freilich versucht sich nicht als Künstler – abgesehen von den für seine Kreise obligaten poetischen Übungen im jugendlichen Überschwang der Gefühle. Es gehört zu seinen Stärken, daß er seine eigenen Fähigkeiten als homme de lettres richtig einzuschätzen weiß, wenn er auch später, eitlem Geltungswunsch folgend, seine Bedeutung und seine vermeintliche Macht als Mittler in Kunst und Politik in den Spiegelungen der Tagebücher weit überzeichnet. Hugo von Hofmannsthal, der lange Zeit zum Kreis um Kessler gehört, notiert 1905: „Warum ist Kessler kein Künstler? Er wäre etwa kein großer, und so ist er etwas mehr: er ist ein Künstler in lebendigem Material: verschafft Seelen einen Anblick, führt Erscheinungen einander zu … Erwarte von Kessler: Anleitung, fremde Charaktere zu genießen.“
Kessler beginnt 1888 sein Jura-Studium in Bonn. Dort lernt er den gleichaltrigen Eberhard von Bodenhausen kennen, mit dem ihn bald eine echte Freundschaft verbindet; vielleicht die einzige echte Freundschaft, die Kessler ein Leben lang eingegangen ist. Die Zuneigung ist gegenseitig, so daß ihr Verhältnis stets herzlich bleibt, wie immer sich ihre Lebenswege voneinander entfernen. Bodenhausen geht später in die Industrie, wird Aufsichtsratsvorsitzender bei Krupp und 1917 sogar zum Reichskanzler vorgeschlagen. Am 6. Mai 1918 stirbt er allzu früh.
Im Oktober 1889 wechselt Kessler an die Leipziger Universität, wo er 1891 sein Referendar-Examen ablegt und zugleich die Doktor-Würde erlangt. Danach absolviert er sein Referendariat am Kammergericht und am Landgericht in Berlin. In dieser Zeit entfaltet sich sein Engagement als Kunstmäzen und streitbarer Wegbereiter avantgardistischer Kunstrichtungen zu voller Blüte. Hans-Ulrich Simon, der Herausgeber des Briefwechsels zwischen Kessler und Bodenhausen, stellt die Anfänge mit folgenden Worten dar: „Im ‚Schwarzen Ferkel‘, dem Stammlokal des Strindberg-Kreises. Junge, kaum ‚entdeckte‘ Maler und Literaten kamen hier zusammen, zechten, zankten, revoltierten und räsonnierten, fanden sich in Überzeugungen und verloren sich im Überschwang: Bierbaum, Dehmel, Hartleben, Hofmann, Meier-Graefe, Munch, Przybyszewski, dessen Frau Dagny und Scheerbart zählten zu den beständigeren Mitgliedern dieser Bohème-Clique. Die formlose Gruppierung mit antigesellschaftlichem Habitus, die zum Teil sozialkritisch dachte, wählte den jungen Freiherrn [Bodenhausen] zum Vorsitzenden ihres Unternehmens, der Genossenschaft PAN; der Graf [Kessler] wurde insgeheim sein Stellvertreter.“
Von 1895 bis 1900 existiert die „Genossenschaft mit beschränkter Haftpflicht“ PAN. Die erste Ausgabe ihrer Zeitschrift erscheint im April 1895. Kessler ist als Geldgeber, als Mitglied des Aufsichtsrates und als Redakteur in den fünf Jahren ihres Bestehens eng daran beteiligt. Im Katalog zur Ausstellung „Harry Graf Kessler: Tagebuch eines Weltmannes“ kann man dazu lesen: „Pan, der bocksfüßige Hirtengott aus dem Gefolge des Dionysos, der nicht zu den Olympiern zählt und es gewagt hatte, mit Apoll zu wetteifern, gibt der Zeitschrift den Namen, als Sinnbild rauschhafter Lebensphilosophie ebenso wie in Anspielung auf den ‚umfassenden‘ Stoffkreis der Hefte.“
Insgesamt ist diese Gründung als ästhetische Opposition gegen die etablierten Literatur- und Kunstzeitschriften zu verstehen, etwa gegen die „Neue Deutsche Rundschau“ Samuel Fischers, bei der Otto Julius Bierbaum soeben als Redakteur gefeuert worden war.
Am 10. Oktober 1900, nach dem Erscheinen des letzten PAN-Heftes im Juli des Jahres, legt Kessler sein Assessor-Examen ab. Inzwischen hat er eine Fülle von Persönlichkeiten kennengelernt, deren Porträts er in seinen Tagebüchern zeichnet. Unter anderem Elisabeth Foerster-Nietzsche („das Lama“), die Schwester des großen Philosophen (den umnachteten Denker kann Kessler vor dessen Tod noch einige Male sehen), den belgischen Architekten, Designer und Jugendstil-Künstler Henry van de Velde sowie den Dramatiker und Poeten Hugo von Hofmannsthal. In der gestaltenden Kunst hat er sich abgewandt von der deutschen naiv-naturalistischen Schule und sich dem Neo-Impressionismus französischer Herkunft gewidmet, was sich vor allem in seinem Mäzenatentum für van de Velde und den Bildhauer Aristide Maillol manifestiert.
Neben dem Engagement für seine künstlerischen Interessen leistet der junge Graf sein Einjähriges bei den nahezu ausschließlich dem Adel vorbehaltenen III. Garde-Ulanen ab, wo er sich einem Kreis junger Fähnriche und Offiziere anschließt, „die zusammen Nietzsche lasen, sich für allerlei Geistiges, Literarisches und Philosophisches ernsthaft interessierten und in mancher Beziehung einen ähnlichen Kulturhunger gemeinsam zu befriedigen suchten wie in der altpreußischen Armee die Offiziere um Scharnhorst, Boyen und Clausewitz“. (Aus: „Tagebuch eines Weltmannes“)
Während seines Studiums, in dem er neben Jurisprudenz auch Nationalökonomie belegt und hier besonders von dem liberalen Ökonomen Lujo Brentano beeinflußt wird, beschließt er, Diplomat zu werden. Er will dem verehrten deutschen (preußischen) Staate dienen, ohne jedoch seine dynastische Organisation zu akzeptieren. Daß er diese Absicht zugunsten der Förderung von Kunst und Kultur später zunächst aufgibt, liegt nicht zuletzt an dem Unbehagen, das ihm die bornierte, bramarbasierende Attitüde Wilhelms II. vermittelt, findet seine Ursache aber auch in der enormen Erbschaft, die er 1895 nach dem Tod des Vaters antritt und die ihn von Erwerbsarbeit unabhängig macht. Ein anderer Grund: er sei in Wahrheit der Sohn Wilhelms I., der sich in die bildschöne Mutter verliebt hatte, wird im Klatsch der damaligen Zeit immer wieder kolportiert, ist aber gewiß unbedeutend für Kesslers Entschluß. Denn er konnte des Kaisers Sohn nicht sein, weil Wilhelm I. und seine Mutter sich erst nach seiner Geburt kennengelernt hatten.
Der Individualist
Bei aller Entschiedenheit, mit der der junge Kessler seine künstlerische Linie verficht, bleibt er doch ein distanzierter Individualist und letztlich ein politisch und gesellschaftlich Unentschiedener. Herkunft und Vermögen garantieren ihm Autonomie, verstellen ihm aber auch den Weg zu echtem, leidenschaftlichem Engagement und zum Schulterschluß mit Gleichgesinnten. Hans-Ulrich Simon drückt diese ambivalente Haltung mit folgenden Worten aus: „In der Kunst wie in der Politik charakterisierten Bodenhausen und Kessler gleichermaßen ein Optieren, Offen-Halten, schillernd zwischen Indifferenz und Liberalität; … Sie haben wohl Politik nur unter ästhetischen Gesichtspunkten verstanden und betrieben, fast reduziert auf Kultur- und Bildungspolitik. … Die Einstellung gegen den Kaiser, aber für die Nation in ihrer bestehenden Formation kennzeichnet … ein problematisches Verhältnis zur Macht.“ Und schließlich: „Trotz aller politischen Wachsamkeit liegt in dieser Haltung ein unpolitisches Moment, weil es die Notwendigkeit einer Bindung nicht anerkennt. Solche ‚Heimatlosigkeit‘ des Intellektuellen war typisch für die Jahrhundertwende; sie trug zur Konsolidierung des Konservativismus bei.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
Kunstorganisator
Nachdem Kessler 1902 für van de Velde und andere Künstler der Avantgarde Ausstellungen organisiert und sich dadurch einen Namen gemacht hat, wird er ehrenamtlicher Vorsitzender eines zur Verwaltung des Großherzoglichen Museums für Kunst und Kunstgewerbe gewählten Kuratoriums in Weimar. In dieser Funktion forciert er seine Aktivitäten zur „Schaffung einer Heimstätte für eine frische, jugendkräftige deutsche Kultur zu Füßen Goethes und Nietzsches“ gegen den Stumpfsinn deutschen Mittelmaßes, bis er sein Amt 1906 wegen eines Skandals um angeblich obszöne Aktskizzen Auguste Rodins aufgeben muß. Indessen gehören die Ausstellungen, die Kessler in diesen vier Jahren organisiert (unter anderem Monet, Renoir, Cezanne, Manet, Liebermann, Kandinsky, Gauguin und Vogeler), zu seinen besten Leistungen für eine Neubelebung der Kunst in Deutschland. Zum Dank porträtiert ihn Edvard Munch: 1904 als „Amtierenden“, 1906 als eleganten Flaneur.
In seiner Weimarer Zeit von 1902 bis 1906 ist Kessler maßgeblich beteiligt an der Gründung des „Deutschen Künstlerbundes“. 1903 wird er dessen Vizepräsident. Aus Protest gegen die reichsdeutsche Kulturpolitik treffen sich hier die wichtigsten Künstler, Museumsleiter und Kunsthistoriker, um dem internationalen Ansehen deutscher Kunst ein neues Fundament zu legen. Eigentlicher Gründer des „Deutschen Künstlerbundes“ ist – auch dies typisch für das Ambivalente in Kesslers Biographie – der Berliner Akademiedirektor, „seiner Majestät getreuester Pinselpatriot“ (Walter Leistikow), Anton von Werner.
In seiner Eigenschaft als Vizepräsident versucht Kessler 1906 über einen Notenwechsel deutscher und englischer Intellektueller in der „Times“ die deutsch-englischen Beziehungen zu beeinflussen; sie verschlechtern sich wegen des englischen Anspruchs auf die Seeherrschaft und des deutschen Versuchs, neue Kolonien zu gewinnen, zusehends. Eine große Ausstellung „Exhibition of modern German Art“ in London folgt, jedoch machen all seine Bemühungen auf den bornierten Kaiser, der Kessler für einen „modernen Querkopf, total verdreht“ hält, keinen Eindruck.
Engagement für den Frieden
Dieser Verständigungsversuch ist einzureihen in pazifistische Bemühungen Kesslers, die in der Weimarer Republik in sein aktives Engagement für die „Deutsche Friedensgesellschaft“ münden. Seine Grundvorstellung, daß nicht die Frage, ob jemand national gesinnt ist oder nicht, sondern daß die seelische Haltung (das „Tempo der Seele“) das Ausschlaggebende für ein friedliches Zusammenleben aller Menschen sein müsse, ist das durchgängige Leitmotiv seines Handelns. 1911 zeigt sich dieses Motiv in der publizistischen Verteidigung französischer Kunst gegen die engstirnigen Angriffe deutscher Kleingeister.
Gleichwohl bleibt Kessler im Innersten seines Herzens ein deutscher Patriot, wenn nicht gar ein heimlicher Nationalist. Jedenfalls zeigt sein Eintreten für die vermeintliche deutsche Sache im Ersten Weltkrieg, sein Engagement als Offizier in Belgien (in Begleitung Heinrich Vogelers) und Polen gleichermaßen wie seine Haltung als Leiter der deutschen Kulturpropaganda in Bern 1916 bis 1918, daß den pazifistischen Bemühungen noch das Fundament der inneren Überzeugung fehlt. Erst nach dem Krieg, und auch dann noch zögerlich, entwickelt sich der naive, unreflektierte zum überzeugten Pazifisten.
Indessen ist auch das Bekenntnis Kesslers zum Pazifismus wohl zu einem Teil Ausdruck seines unentschiedenen Zauderns in Fragen der Politik. Er bleibt vorerst hin- und hergerissen zwischen modischer Attitüde und gefestigter Überzeugung. Als Mitglied der liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) in der Weimarer Republik fördert er zugleich sozialistische Kulturbestrebungen von Wieland Herzfelde, Johannes R. Becher und George Grosz. Man nennt ihn deshalb den „roten Grafen“, auch weil er für die Aufnahme der Unabhängigen Sozialdemokraten in die Regierung eintritt, wovon er sich einen Ausgleich mit dem von Osten drohenden Bolschewismus verspricht. Seine Tagebücher verzeichnen eindeutig sozialistische Sympathien; gleichzeitig beklagt er sich ausführlich darüber, daß seine Bank während des Spartakus-Aufstandes in Berlin geschlossen hat und er sein Geld nicht abheben kann. Die Aussicht, daß die Herrschaft der Linkssozialisten ihn möglicherweise um sein ganzes Vermögen gebracht hätte (was ihm später durch die Reaktion von rechts passiert), mag er verdrängt haben.
Erfolgreiche Jahre
Die Jahre zwischen 1900 und 1914 sind gewiß die fruchtbarsten für die künstlerischen Ambitionen Kesslers. Nach der Gründung des „Deutschen Künstlerbundes“ beschreibt er seine eigene Position mit folgenden Worten: „Niemand anders in Deutschland hat eine so starke, nach so vielen Seiten reichende Stellung. Diese auszunutzen im Dienste einer Erneuerung Deutscher Kultur: mirage oder Möglichkeit? Sicherlich könnte einer mit solchen Mitteln Princeps Juventutis sein. Lohnt es die Mühe?“
37 Jahre ist Kessler alt, als er diese Zeilen in sein Tagebuch schreibt, und obwohl er 1919, also 14 Jahre später, noch Vorsitzender der Weltjugendliga wird – ein ”Princeps Juventutis” wurde er wohl nicht.
Allerdings gedeiht die künstlerische Kooperation mit Hofmannsthal: gemeinsam schreiben sie das Libretto für Richard Strauss‘ ”Rosenkavalier”, und ebenfalls für Strauss schreiben sie die ”Josephslegende”, ein Ballett, das 1914 in Paris uraufgeführt wird.
Bereits 1904 hat Kessler eine ”Großherzog-Wilhelm-Ernst-Ausgabe Deutscher Klassiker” im Insel-Verlag betreut, für die er das Dünndruck-Papier, das der Verlag über Jahre beibehält, eigens in England herstellen läßt. In eigener Regie bringt er ab 1913 mit seiner ”Cranach-Presse” in Weimar (so benannt, weil sie in der Cranach-Straße untergebracht ist) bibliophile Ausgaben heraus mit einer besonderen graphischen Gestaltung, mit einer nach eigenen Vorstellungen über Jahre entwickelten Fraktur-Schrift, gedruckt auf gemeinsam mit Maillol hergestellten, handgeschöpften Bütten. Bis 1931, als er die Presse aus finanziellen Gründen aufgeben muß, druckt Kessler, nur dem Gebot der Qualität gehorchend, bibliophile Ausgaben der antiken Klassiker von Homer bis Vergil (die ”Eklogen”-Ausgabe mit Holzschnitten von Maillol wird 1927 zum schönsten Buch des Jahres gekürt), zeitgenössische Lyrik und andere erlesene Texte, zum Beispiel die ”Hamlet”-Bearbeitung von Gerhart Hauptmann. Der Insel-Verlag vertreibt die Bücher, jedoch bleibt das Unternehmen ein grandioses Verlust-Geschäft, so daß Kessler ein Vermögen aufwenden muß, um seine Presse zu erhalten.
Kesslers künstlerische (Mittler-)Tätigkeit ist besonders vor dem Weltkrieg auf fast allen Gebieten von Erfolg begleitet. Henry van de Velde und Aristide Maillol werden nicht zuletzt durch sein Mäzenatentum zu anerkannten Künstlern; seine Schriften über den ”Deutschen Künstlerbund”, über politische Themen, zu Fragen der modernen Kunst und seine Reiseberichte werden vielbeachtet; die Zusammenarbeit mit Hofmannsthal und Strauss erfährt internationale Anerkennung.
Hofmannsthal indessen scheint dem umtriebigen Grafen dessen Anteil am gemeinsamen Ruhm nicht zu gönnen. In abgünstiger Kehrtwendung weiß er bald nur noch Negatives über den ehemaligen Freund und Förderer zu sagen und zu schreiben. 1914 heißt es in einem Brief: ”Er ist ein Narr und ein armer Narr, zuweilen unleidlicher Narr. Er hat sich mit alberner Wichtigmacherei so heruntergebracht, daß er jetzt in einem jammervollen Zustand zu sein scheint.” Beleidigte Künstlereitelkeit, anders kann man diese Sätze wohl nicht verstehen.
Offizier und Diplomat
Im Ersten Weltkrieg dient Kessler zunächst als Rittmeister in Belgien und Polen (was ihn später dazu prädestiniert, den Obersten Pilsudski aus der Festungshaft in Magdeburg zu befreien und nach Warschau zu bringen, wo Pilsudski die Regierung übernimmt), 1916 wird er in die Deutsche Botschaft nach Bern entsandt, von wo aus er im Sinne der deutschen Kriegsziele für den Frieden mit Frankreich wirken soll.
Walther Rathenau führt ihn in die ”Mittwochs-Gesellschaft” ein, einen überparteilichen, vom Nationalliberalen Ernst Bassermann mitbegründeten Club, der dem informellen Gedankenaustausch zwischen Politikern, Journalisten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens dient. Hier ist Kessler einbezogen in die Diskussionen über Sinn und Unsinn des Krieges, den er selbst inzwischen gänzlich ablehnt. Zwischen Bern, Wien, Zürich und Berlin hin- und herreisend, bemüht er sich um den Frieden, ohne jedoch Entscheidendes bewirken zu können.
Nach dem Waffenstillstand von 1918 wird Kessler für einen Monat Deutscher Gesandter in Warschau. Er beschreibt diese grotesk anmutende Episode sehr plastisch und ausführlich in seinem Tagebuch. Als Polen die diplomatischen Beziehungen abbricht, muß er nach Berlin zurückkehren. Dort lebt er fortan als interessierter Privatmann, ohne seine Position als Gesandter offiziell zu verlieren.
”Der wahre Völkerbund”
Die wichtigste Aufgabe, der Kessler sich in den Anfangsjahren der Weimarer Republik widmet, ist die Verbreitung seiner Idee eines Völkerbundes. Zwar hält er Kontakt mit der Welt der Künstler, zum Beispiel indem er revolutionäre Zeitschriften unterstützt (etwa Herzfeldes ”Die Pleite”); auch ist er schriftstellerisch und journalistisch weiterhin rege, indem er beispielsweise Mitherausgeber der von Theodor Heuss geleiteten ”Deutschen Nation” wird; jedoch gilt sein wichtigstes Engagement seiner Idee von einem friedenserhaltenden Völkerbunde, die er den Konzepten der Siegermächte und der deutschen Parteien entgegenstellt. Kessler versucht seinen Plan vor allem mittels der Organisationen der Pazifisten zu verbreiten und wirbt dafür national wie international. Selbst im Vatikan spricht er vor und erwirkt eine Audienz beim Papst.
Im Gegensatz zur im Versailler Vertrag festgelegten Organisation des Völkerbundes, in den die nationalen Regierungen ihre Vertreter entsenden, schwebt Kessler eine ”Organisation der Organisationen” vor. Die Idee ist bestechend: Wenn nicht nationale Vertretungen, sondern supranationale Institutionen wie Gewerkschaften, Berufsverbände, Künstlervereinigungen, Kirchen und gemeinnützige Körperschaften das Geschick der Völker bestimmen, dann sind engstirnige nationale Egoismen sehr viel leichter auszuschalten. So ist es denn Kesslers Ziel, eine internationale demokratische Organisation zu errichten, die mit der nötigen Macht ausgestattet ist und den Boden bereitet ”für einen neuen moralischen Geist und für eine neue moralische Weltgemeinschaft”. Durch den ”Druck der Hand- und Kopfarbeiter” sowie der Pazifistenorganisationen auf die nationalen Regierungen soll die Gründung eines solchen Völkerbundes gelingen.
Kesslers Plan wird vom IX. Deutschen Pazifistenkongreß 1920 gebilligt und in der Folge von vielen anderen Institutionen, die dem Frieden in der Welt verpflichtet sind, übernommen. 1922 wird Kessler Präsident der ”Deutschen Friedensgesellschaft”, in der er an der Seite des späteren Friedensnobelpreisträgers Ludwig Quidde bis 1929 aktiv bleibt. Freilich läßt sich sein Völkerbundsplan nicht verwirklichen; dazu fehlt ihm und den Pazifisten die politische Macht. Auch seine Partei, die DDP, ist nicht in der Lage, diese Macht im tragischen Weimarer Kapitel deutscher Geschichte, dem die Diktatur der Schergen und Mörder folgen sollte, zu erringen. Zwar vereinigt die DDP hervorragende Köpfe in ihren Reihen, jedoch verhält sie sich ähnlich unentschlossen wie der Kosmopolit Kessler, so daß sie den eruptiven, gewalttätigen Ansprüchen der Zeit letztlich nichts mehr entgegenzusetzen hat. Immerhin gelingt es aufrechten Demokraten um Gustav Stresemann 1925, Deutschland in den Völkerbund zu führen. Wenn es auch nicht der Bund Kesslers ist, so scheint doch ein Meilenstein zur Überwindung nationaler Grenzen erreicht. Der Schein trog, wie wir heute wissen.
Rathenau
Trotz seines nicht immer spannungsfreien Verhältnisses zu dem Großindustriellen, ”Großschriftsteller” und Politiker Walther Rathenau befürwortet Kessler doch dessen ”Erfüllungspolitik” (des Versailler Vertrages), die der Parteifreund als Außenminister virtuos betreibt. An der Weltwirtschaftskonferenz in Genua 1922, die den von Rathenau unterzeichneten Vertrag von Rapallo zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich zeitigt, nimmt Kessler in der Entourage der deutschen Delegation teil. Als der liberale Außenminister, dem es gelungen war, den Alliierten ihre ökonomischen Fehlkalkulationen bei ihren völlig unrealistischen Wiedergutmachungs-Forderungen vorzurechnen und der so eine Teilrevision des Versailler Vertrages einleitete, am 24. Juni 1922 von rechts-nationalen Feme-Mördern erschossen wird, ist Kessler ”wie vom Schlag gerührt”. Er klagt die Deutschnationalen und ihren Vorsitzenden Helfferich wegen ihrer Hetze gegen Rathenau als die wahren Mörder an.
Fast die ganze Nation, mit dem Kanzler Wirth an der Spitze, scheint gegen die Reaktion aufzustehen. ”Der Feind steht rechts” – dieser Satz des Kanzlers bei der Trauerfeier im Reichstag wird zum geflügelten Wort. Jedoch klingt die Empörung bald ab. Kessler kandidiert 1924 in Nordwestfalen für den Reichstag und verliert entscheidend. Er muß registrieren, daß die Deutschnationalen und andere republikfeindliche Kräfte wieder auf dem Vormarsch sind. Resignierend zieht er sich aus der Politik zurück.
Kessler beschließt nun, eine Rathenau-Biographie zu schreiben, kommt jedoch zunächst über die Vorbereitungen nicht hinaus. 1926 kollabiert seine nicht sehr widerstandsfähige Physis. Lungenentzündung und Darmblutungen müssen langwierig ausgeheilt werden. Erst im November 1927 kann er mit der Niederschrift beginnen.
Zum sechsten Todestag Rathenaus im Juni 1928 erscheint die Biographie. Kessler legt eine Arbeit vor, die durch intime Detailkenntnis und den Versuch größtmöglicher Objektivität besticht. Bald wird das Buch ins Englische und Französische übertragen. Kessler prüft und ergänzt die Übersetzungen in allen Einzelheiten – eine Reverenz an seine beiden anderen Vaterländer.
Homme de lettres
Trotz aller Aktivitäten, die der rastlose Graf, seiner Krankheiten nicht achtend, weiterhin entfaltet – seit Mitte der zwanziger Jahre hat die Zeit ihn überholt. Er lebt in der Vergangenheit, zehrt von seiner Liebe zur Antike, die – einst durch Nietzsche angeregt – in den Büchern der ”Cranach-Presse” ihren Ausdruck findet. Trotz aller Verbindungen zu den Prominenten seiner Zeit, die in den Tagebüchern eindrucksvoll dokumentiert sind – Kessler lebt ein einsames Leben, das von 1929 an überdies seine materielle Grundlage zu verlieren beginnt.
Die Behörden fordern Erbschaftssteuern und sonstige Verbindlichkeiten ein und plündern seinen Besitz. Die Schwester Wilma und der ergebene Freund Max Goertz, dessen Gedichte Kessler einst verlegt hatte, retten, was noch zu retten ist, können dem seit 1933 im Exil auf Mallorca Lebenden jedoch nur noch wenig erhalten.
Kessler hat bereits 1929 gegen die Machenschaften des nationalsozialistischen Innen- und Volksbildungsministers von Thüringen, Wilhelm Frick, öffentlich protestiert. Wohlmeinende bedeuten ihm deshalb 1933, als er sich in Frankreich aufhält, besser nicht nach Deutschland zurückzukehren. So geht er zunächst ins spanische, dann, vom Terror des Franco-Faschismus vertrieben, ins französische Exil.
Kessler hatte schon 1929 den Plan gefaßt, seine Erinnerungen zu schreiben. 1930 beginnt er mit dem Sammeln von Material. Letzlich mag die Veröffentlichung der fragwürdigen ”Denkwürdigkeiten” des Fürsten Bülow 1931 den Anlaß für seinen Entschluß, die Erinnerungen zu vollenden, geliefert haben. Jener hatte einst seiner Mutter nachgestellt und entblödet sich nunmehr nicht, über den Vater mit beleidigenden Worten zu urteilen. Auch die alten Gerüchte, Kessler sei in Wahrheit der Sohn des Wilhelms I., wärmt er wieder auf. So entschließt sich der Graf, seine Memoiren mit einem Kapitel über die Mutter einzuleiten. Erstmals muß er Streitigkeiten mit seinem Verleger bestehen, weil er auf die Honorare aus dem Verkauf seiner Bücher angewiesen ist. Inhaltlich jedoch macht er keine Kompromisse.
1935 erscheint der erste Band von ”Gesichter und Zeiten”, dem er den Titel ”Völker und Vaterländer” gibt. – ”Völker und Vaterländer”, Kessler wählt die Überschrift des Achten Hauptstücks aus des verehrten Nietzsche ”Jenseits von Gut und Böse”. Des Philosophen verächtliche Äußerungen über die Deutschen, die sich darin finden, mögen die Nazis bewogen haben, Kesslers Buch schon bald nach dem Erscheinen zu verbieten.
Über die Schwierigkeiten bei der Herstellung des Manuskriptes von ”Gesichter und Zeiten” und über das Leben des Grafen auf Mallorca berichtet Kesslers letzter Sekretär, Albert Vigoleis Thelen, überaus anschaulich und ergötzlich im zweiten Band seines Romanes ”Die Insel des zweiten Gesichts”. Zur vollständigen Ausführung des Memoiren-Planes kommt Kessler nicht mehr. Der Ästhet und Kosmopolit stirbt am 30. November 1937 in Lyon.
Die Tagebücher
57 Jahre lang hat Kessler Tagebuch geführt. Bis 2004 waren nur die Jahre 1918 bis 1937 in Auszügen publiziert. In der ersten Jahreshälfte 2004 hat die Deutsche Schiller-Gesellschaft im Verlag Klett-Cotta mit der Herausgabe einer neunbändigen Gesamtausgabe begonnen. Zuerst erschien der zweite Band, der die Jahre 1892 bis 1897 behandelt. Kessler beschreibt darin seine Weltreise von 1892 nach Nordamerika, Japan, China, Indien und Ägypten. Außerdem enthält der Band Notizen zu seiner Mexiko-Reise, die 1898 in seinem ersten Buch beschrieben wird. Auch über die Gründung der Zeitschrift PAN, über einen Besuch beim umnachteten Friedrich Nietzsche und über viele Begegnungen mit Prominenten berichtet der sorgfältig edierte, mit einer kommentierenden Einleitung von Günter Riederer und Jörg Schuster sowie einem ausführlichen Personenregister versehene Band. Inzwischen sind die Bände drei bis neun in ähnlich anspruchsvoller Ausstattung erschienen. Es handelt sich um ein eizigartiges Editionsprojekt, das die ästhetische Weltsicht des Grafen abbildet, aber auch originelle Einblicke in eine Übergangszeit ermöglicht, die erst nach vielen Irrungen und Wirrungen, nach dem „zweiten dreißigjährigen Krieg“ (Fritz Stern) in die deutsche Demokratie mündete.
Die Tagebücher sind gewiß der umfangreichste Nachweis über das rastlose Leben des Grafen; ob sie freilich auch hinreichend Auskunft über den Ästheten und „mondänen Überflieger“ (Johannes Saltzwedel im „Spiegel“) geben, mag bezweifelt werden. Allzuviel ist zwischen den Zeilen zu lesen, das erst verständlich wird, wenn das Leben des vielseitig Begabten genauer untersucht wird. Jedenfalls fehlt bisher eine Biographie, die den ‚ganzen Kessler‘ beschreibt, auch wenn die 1995 erschienene, solide Arbeit von Peter Grupp dafür eine gute Grundlage bietet. Auch die Biografie von Laird McLeod Easton aus dem Jahre 2005 leistet eine gründlichere Aufarbeitung von Kesslers Lebensleistung leider nur in Ansätzen. Easton verwendet viel Raum auf die Nachzeichnung der Aktivitäten des Grafen im Zusammenhang mit den zeitgeschichtlichen Bedingungen. Dabei entsteht eine informative Biographie, die freilich gelegentlich wichtigen Dingen zu wenig und eher unwichtigen zu viel Raum gibt. Es ist zu hoffen, daß die vollständige Publizierung der Tagebücher endgültig dazu herausfordert, ein Kessler-Porträt zu zeichnen, das die ganze Vielfalt seiner Begabungen und Aktivitäten spiegelt.