Im Zweifel für die Freiheit
Es geht um einen häufig benutzten, gleichwohl schwer zu fassenden Begriff, um die Freiheit. Immanuel Kant nannte sie ein „Postulat der Vernunft“, das wir als ein Ideal erstreben können, von dem wir aber nicht wissen, ob sie, die Freiheit, wirklich existiert. Auch der zeitgenössische Philosoph Peter Bieri, der in seinem Buch „Das Handwerk der Freiheit“ nachzuweisen versucht, daß es den freien Willen tatsächlich gibt, kommt zu dem ernüchternden Resultat: „Vielleicht ist Willensfreiheit … in ihrer vollkommenen Ausprägung eher ein Ideal als eine Wirklichkeit.“ Dennoch: Wenn wir jemand Verantwortung abverlangen wollen für sein Handeln, so müssen wir ihm zugleich Freiheit seiner Entscheidungen und seines Willens, Autonomie also zubilligen. Dies Bild vom Menschen liegt unserem Gesellschafts- und Rechtssystem zugrunde. Darin wird die Freiheit zum Motor der Gesellschaftsentwicklung, wird die Triebfeder des Fortschritts, der Antrieb, den freien Willen im wohlverstandenen Eigeninteresse walten zu lassen – und die Verantwortung dafür zu übernehmen.
Weil die Interessen der Menschen unterschiedlich sind, ihre Absichten und Ziele divergieren, entstehen in einer freien Gesellschaft Konkurrenz und Wettbewerb. Sie allein bewirken den Fortschritt. Auf Harmonie sollten wir verzichten, so empfiehlt Ralf Dahrendorf, indem er Kant zitiert: „Es ist der Konflikt, der ‚Antagonism’ menschlicher Anlagen in der Gesellschaft, ja, die ‚ungesellige Geselligkeit’ der Menschen, die die Quelle des Fortschritts bilden. Ohne Konflikt ‚würden in einem arkadischen Schäferleben bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben; die Menschen, gutartig wie die Schafe, die sie weiden, würden ihrem Dasein kaum einen größeren Wert verschaffen, als diesen ihr Hausvieh hat; sie würden das Leere der Schöpfung in Ansehung ihres Zwecks, als vernünftige Natur nicht ausfüllen’. (…) ‚Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht, aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht.’“
Zwietracht, Konflikte spielen sich überall in unserer Gesellschaft ab. Von der Familie über die Unternehmen und Institutionen bis in die Interessenverbände und Parteien; und nicht nur zwischen ihnen, sondern auch innerhalb der Parteien. Die Medien schlachten diese Konflikte für ihre Berichterstattung weidlich aus: Wenn es um die „Agenda-Treue“ oder „soziale Freiheit“ geht (wie die Sozialdemokratie gegensätzliche Positionen heute verklausuliert), um Geld für die häusliche Betreuung der Kinder oder für Kitas, um Ja oder Nein zu militärischer Intervention, um angebots- oder nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik – Konflikte, die gar zwischen „Parteifreunden“ oder unterschiedlichen „Lagern“ in einer Partei ausgetragen werden, finden in der öffentlichen Wahrnehmung ganz besonderen Anklang. Obwohl es dabei nur um sachorientierte Debatten gehen sollte, entstehen aus diesen Kontroversen zuweilen kriegsähnliche Zerwürfnisse, die eine kleine Partei an den Rand ihrer Existenzfähigkeit treiben können. So passierte es den Freien Demokraten, als die „Sozialliberalen“ im Wendejahr 1983 den „Wirtschaftsliberalen“ die Macht überlassen mußten. Denn um Macht geht es natürlich immer in der Politik. Wenn jemand Art und Inhalt der Machtausübung nicht gefällt, dann wendet er sich enttäuscht ab von der Partei. Wie es der Journalist Heribert Prantl getan hat, der sozialliberaler Politik, namentlich Karl-Hermann Flach und Werner Maihofer, Ruhmeskränze flocht, um ihre Nachfolger desto heftiger abzustrafen, weil sie sich mit den Christdemokraten einließen.
Noch im Jahre 2005, anläßlich der Regierungsbildung der großen Koalititon, hatte Prantl seinen Jammer nicht überwunden. Zu den Koalitionsverhandlungen schrieb er am 24. Oktober in der „Süddeutschen“: „Heute ist wieder einmal so ein Tag, an dem einem die FDP fehlt. Nein, nicht die neoliberale FDP, nicht die FDP also, von der Angela Merkel so fasziniert war, daß sie deswegen den Wahlsieg vergeigte. Es fehlt einem diejenige FDP, die sich früher Rechtsstaatspartei nannte. Heute beginnen nämlich die Koalitionsverhandlungen zu den Fragen der Rechts- und der Innenpolitik – und am Verhandlungstisch gibt es keine Kraft mehr, die sich als Hüterin der Bürgerrechte versteht.“
Hier haben wir ihn, den „Antagonism“. Prantl ortet ihn innerhalb der liberalen Partei. Die Rechtsstaatsliberalen stehen den Neoliberalen, den „Marktfundamentalisten“ gegenüber, die ihren Gegenpart weit in die Defensive gedrängt haben. Abgesehen davon, daß es sich programmatisch in dieser Gegenüberstellung um einen konstruierten und nicht um einen tatsächlichen Gegensatz handelt (denn eine funktionierende Marktwirtschaft braucht einen funktionierenden Rechtsstaat), so zeigt sich doch ganz deutlich, wie politische Akzentsetzungen als Auf- und Ausbau von Machtpositionen verstanden werden, denen, wie hier Heribert Prantl, man zustimmend oder ablehnend gegenüber steht. Prantl mag den Neoliberalismus, den man früher auch einfach Wirtschaftsliberalismus nannte, nicht. Ihm ist es gleichgültig, daß der Rechtsstaatsliberalismus gar nicht dessen Gegensatz ist. Er sieht ganz einfach seine eigene Interessenlage in der FDP nicht mehr repräsentiert, weil den Liberalen nun Marktwirtschaft scheinbar wichtiger sei als Rechtsstaat, und flugs etikettiert er sie mit dem Reizwort „Neoliberalismus“, der in Zeiten der Globalisierung nach Johano Strasser geradewegs in die „Barbarei“ führen muß.
Tatsächlich sind die Liberalen nicht unschuldig daran, daß die Medien ihre unterschiedlichen Akzentsetzungen – mal sind die Bürgerrechte wichtiger, mal ist es die Marktwirtschaft; mal steht die Freiheit, mal die Sicherheit im Vordergrund – als Gegensätze verstehen, die im schlimmsten Fall miteinander keinen Platz haben in einer einzigen Partei. Wie die Sozialliberalen sich in früheren Zeiten allzu oft wirtschaftlicher Vernunft verweigerten, so sind die Liberalen späterer Jahre nicht selten den Bürgerrechten, zumal den sozialen Bürgerrechten abhold. Wenn nach der Freiheit gefragt wird, sollte nach der Freiheit gegen, aber auch nach der Freiheit durch den Staat gefragt werden. In der sozialen Marktwirtschaft gehören diese beiden Bereiche zusammen. Den Leistungsstarken darf der Staat keine zu engen Schranken setzen, damit er ihre Leistungsbereitschaft nicht abschnürt; den Schwachen sollte er Hilfe leisten, damit sie zu einer Position tätiger Freiheit (zurück)finden können. Diese zwei Seiten derselben Medaille werden den Medien von den Liberalen selbst allzu oft allzu einseitig präsentiert, so daß es nicht wunder nehmen kann, wenn jemand wie Herr Prantl sich daran stößt. Nur am Rande sei bemerkt, daß sich angesichts der Verbissenheit von Debatten zwischen zwei Lagern in einer Partei gelegentlich die Frage aufdrängt, ob Vernunft hier überhaupt noch eine Chance hat.
Ralf Dahrendorf hat ein ganzes Buch darüber geschrieben, daß die Konflikte zwischen unterschiedlichen Prioritäten den Motor für den Fortschritt im Zeitalter der Moderne ausmachen. Dem friedlichen Wettbewerb zwischen Interessen und Meinungen ist zu verdanken, daß wir in den westlichen Demokratien zu rechtsstaatlichen Strukturen und Wohlstand finden konnten – die freilich stets gefährdet bleiben und stets neu befestigt werden müssen. Dahrendorf geht es um den „modernen sozialen Konflikt“, um den „Antagonismus von Anrechten und Angebot, Politik und Ökonomie, Bürgerrechten und Wirtschaftswachstum“. Dabei handelt es sich nicht um Gegensätze, sondern um programmatische Prioritäten, die jeweils die Oberhand gewinnen und halten wollen gegenüber ihren Widerparts; um Antagonismen eben. Mal sind die Anrechte wichtiger als das Angebot, mal beherrscht die Ökonomie die Politik, mal geht es mehr um Wachstum als um den Rechtsstaat – und umgekehrt. So ergibt sich ein dialektischer Prozeß, der zu keiner Synthese findet und der so lange funktioniert, als er sich nach demokratischen, fairen Spielregeln richtet und solange Gerechtigkeit und Solidarität um der Freiheit willen geübt werden. Wenn indessen der Alternative keine Chance gegeben wird, wenn die Spielregeln verletzt, wenn These oder Antithese absolut gesetzt werden, Freiheit, das „freie Spiel der Kräfte“ also ausgeschaltet wird, kommt es zu Verwerfungen und Verharzungen, die den Fortschritt lähmen und schlimmstenfalls in Diktaturen enden. Deutschland kann davon ein Lied singen.
Die Liberalen repräsentieren diesen Prozeß der unterschiedlichen, gegenläufigen Gewichtungen in ihrer eigenen Geschichte. Schon daran, daß im 19. Jahrhundert bei den Nachfahren der Aufklärung nicht nur von Liberalen, sondern von Liberalen und Demokraten die Rede war, wird die unterschiedliche Ausrichtung deutlich. Wie feindlich sich diese beiden doch auf einem gemeinsamen Nenner basierenden politischen Richtungen gesonnen waren, zeigt sich etwa an einem Gedicht des Poeten und Demokraten Robert Prutz, das er „Pereant die Liberalen“ überschrieben hat! Immerhin: Zunächst, als sie 1859, noch vor den Sozialisten, die erste deutsche Partei im modernen Verständnis gründeten, die „Deutsche Fortschrittspartei“, waren einige Grundlagen unumstritten. Zum Beispiel daß man eine Republik anstelle einer Monarchie wollte; gewählte Parlamente und Regierungen statt einer willkürlich eingesetzten Obrigkeit. Schon bald aber, als Bismarck die Macht Preußens mit „Blut und Eisen“ demonstrierte, Österreich und Frankreich in die Knie zwang und die Kleindeutsche Lösung realisierte, erlagen Liberale seinem martialischen Charme. Schon 1867 gründeten sie die „Nationalliberale Partei“, der die nationale Größe und Einheit nunmehr über die Freiheit ging und die der Monarchie anstelle der Republik die Treue hielt. Hermann Baumgarten, der spätere Bismarck-Kritiker, schrieb das Buch dazu: „Der deutsche Liberalismus – Eine Selbstkritik“. Es erschien 1866, als Bismarck die Habsburger bei Königgraetz besiegt hatte. Viele der von den Liberalen bis dahin für unverzichtbar gehaltenen Grundlagen ihrer Politik wurden über Bord geworfen: Republik, Parlamentarismus, Rechtsstaat – und mit ihnen die Freiheit. Der Historiker Dieter Langewiesche beschreibt diese Situation mit folgenden Worten: „Nicht festgelegt waren die Liberalen hinsichtlich der Staatsform. Mit der Republik konnten sie sich abfinden, doch ihre Sympathie galt der parlamentarisch gezügelten Monarchie, die sie als Reserveverfassung für Notzeiten bewahren wollten. Darin unterschieden sie sich markant von den Demokraten, deren Ideal die Republik war, die für die meisten Liberalen immer mit dem Odium der sozialen Revolution und der Vernichtung der ‚bürgerlichen Gesellschaft’ behaftet blieb.“
Die Dichotomie der liberalen Parteien setzte sich bis zum Ende des Ersten Weltkrieges fort, wenn es auch einen lebhaften Austausch zwischen beiden Richtungen gab und im Laufe der Jahre allerlei Abspaltungen zu verzeichnen waren. Der Friedensnobelpreisträger Ludwig Quidde, selbst ein streitbarer Demokrat, definierte den Unterschied zwischen Liberalen und Demokraten 1912 in einem Aufsatz, der in Friedrich Naumanns „Patria-Jahrbuch“ erschien: „Demokratie und Liberalismus sind dem Wortsinn und ihrem Ursprung nach zwei Ausprägungen des gleichen Grundgedankens; sie stellen nur zwei verschiedene Seiten der freiheitlichen Idee in den Vordergrund. Die Demokratie legt den Nachdruck auf die Selbstregierung des Volkes, also auf die Verfassungsform, auf die Abhängigkeit der selbstgeschaffenen höchsten politischen Autorität vom Willen der Bürger, auf die Ausdehnung des Einflusses, den der einzelne bei der Gestaltung der Staatsgewalt besitzt. Der Liberalismus betont die Freiheit der Persönlichkeit, also den freiheitlichen Inhalt der Gesetze und des Staates, die Unabhängigkeit des Bürgers gegenüber einer nicht selbst geschaffenen politischen Autorität, die Einschränkung des Einflusses, den umgekehrt die Staatsgewalt bei Gestaltung des persönlichen Lebens des einzelnen besitzt.“ Kurz: Während die Liberalen die Monarchie und ihre Macht nicht infrage stellen, sich also einer höheren Gewalt unterordnen und damit ein Stück ihrer Entscheidungsfreiheit preisgeben, bestehen die Demokraten darauf, auch die Grundlagen des Staates vom Volkswillen abhängig zu machen, die Freiheit also in vollem Umfang zu realisieren.
Mag sein, daß es für diese beiden Strömungen im Kaiserreich keinen gemeinsamen Weg gab, man konnte aber darauf hoffen, daß sie in der ersten deutschen Republik zueinander finden und in einer starken liberalen Partei zusammengefaßt werden könnten. Allerdings kam es dazu nicht. Die Gegensätze zwischen nationaler Orientierung und republikanischem Denken waren zu stark. Das von Dahrendorf dargestellte Wechselspiel der Kräfte funktionierte angesichts der Situation nach dem verlorenen Krieg und des allgemeinen Haders über den nationalen Niedergang nicht mehr. Immer stärker mußte sich alle Politik dem übermächtigen Wunsch der Deutschen nach dem Wiedererstarken ihrer Nation und dem nationalistischen Machtanspruch unterwerfen. Erst nach dem zweiten verlorenen Krieg konnte es zu einer (verordneten) demokratischen Besinnung kommen, die dem freien Spiel der Kräfte, der Freiheit eine neue Chance eröffnete.
Die Bundesrepublik Deutschland gab sich ein liberales Grundgesetz, in dem die Rechte der Bürger durch die ersten 19 Artikel gewährleistet werden. Dabei handelt es sich im klassisch liberalen Sinne um Schutzrechte des Individuums gegenüber dem Staat zum Zwecke einer freien Bürgergesellschaft. Schon bald aber zeigte sich, daß die Sicherheitsbedürfnisse der Menschen mindestens ebenso stark waren wie ihr Interesse an einem freien, selbstverantworteten Leben. Adenauer trug diesem Bedürfnis Rechnung, indem er umlagefinanzierte Sozialleistungen, vor allem die Altersversorgung etablierte. Nicht nur daß durch diese und andere Pflichtversicherungen der einzelne in seinen freien Entscheidungen eingeschränkt war, sie führten auch zu einer Überforderung der Solidarsysteme, die vollends deutlich wurde, als die Bevölkerung sich nicht mehr regenerierte und zu schrumpfen begann. Es war ein mühsamer Weg, der nun eingeschlagen werden mußte, um der Freiheit Geltung zu verschaffen. Er begann mit dem Aufbegehren gegen ungefragte Autoritäten in den Revolten der sechziger und siebziger Jahre und er endete vorläufig in einer Renaissance sozialen Sicherheitsdenkens in der Großen Koalition. Zwischenzeitlich war es nicht gelungen, weder den Liberalen noch anderen politischen Kräften, das Freiheitsdenken gegenüber dem Sicherheitsbedürfnis voranzubringen. Im Gegenteil: Der Innenminister Otto Schily sprach von der Sicherheit als der „ersten Freiheit des Bürgers“. Mit den durch Migration und Terrorismus beförderten Gesetzen wurde die Freiheit stückchenweise mehr und mehr zugunsten scheinbarer Sicherheit eingeschränkt. Auch Sprüche des Bundesverfassungsgerichtes konnten die Politik nicht davon abhalten, Freiheit nachrangig zu behandeln. Und die populistische Hinwendung zu sozialem Sicherheitsdenken prägt heute wieder die Programme der Volksparteien.
Dabei ist es angesichts einer nicht mehr rational vorstellbaren Staatsverschuldung um so nötiger, dem einzelnen die Freiheit zu lassen, für sich selbst zu sorgen, wenn er es kann. Und wenn er es nicht kann, weil seine Fähigkeiten oder die Verhältnisse es nicht zulassen, erst dann sollte der Staat helfend eingreifen. Statt aber Anreize für mehr Initiative der Menschen zu setzen, fällt die Politik zurück in eine Versorgungsmentalität, die sich unser Staat eigentlich nicht leisten kann. Man spricht von Gerechtigkeit und Solidarität, um den Abbau der Freiheit zu rechtfertigen. Dazu sagt Norbert Seitz am 21. Oktober 2007 im „Tagesspiegel“: „Wer aber vollmundig die programmatische Gleichwertigkeit der Freiheit neben der Gerechtigkeit und Solidarität deklamiert, betreibt in Wahrheit deren Nachrangigkeit.“ Traurige Aussichten.
Was also tun, um der Freiheit eine Gasse zu bahnen? Vielleicht hilft es, wenn wir uns an Ralf Dahrendorf erinnern, der schon 1969 aufzeigte, was ein neuer Liberalismus sich vornehmen müsse: „Nahm der alte Liberalismus die Tatsache hin, daß seine Forderungen tatsächlich zu Privilegierungen führten, so wacht der neue Liberalismus ungeduldig über der effektiven Gleichheit der Ausgangschancen aller Bürger und ist insofern ein sozialer Liberalismus. Galt die Auseinandersetzung des alten Liberalismus vor allem den Hörigkeiten abgestandener Traditionen, so gilt die des neuen Liberalismus den neuen Hörigkeiten der Organisation, der Bürokratie, der Technokratie – also des Systems vorgeblicher Sachgesetzlichkeiten, das heute den Einzelnen entmündigt.“ Das klingt überzeugend und bleibt eine Aufgabe; denn die Gleichheit der Ausgangschancen aller Bürger haben wir bis heute nicht erreicht; PISA und andere Studien zur Situation unseres Bildungssystems haben uns deprimierend deutlich gemacht, in welch hohem Maße Erfolg in der Schule von sozialen Voraussetzungen abhängt. Und die Entmündigung des Einzelnen durch den Staat, der Abbau der Bürgerrechte, ist eher vorangeschritten als daß Mündigkeit und Freiheit befördert worden wären. Online-Durchsuchungen, Lauschangriffe, Kamera-Überwachung, Konto-Überprüfungen und allgegenwärtige Datenerfassungen sprechen eine überdeutliche Sprache. Viel zu tun also für einen „neuen Liberalismus“. Freilich hat es den Anschein, als sei mit einem Plädoyer für die Vorrangigkeit der Freiheit den anderen Grundwerten gegenüber in Deutschland keine Mehrheit zu gewinnen. Es ist eben, wie Max Weber uns gelehrt hat, ein langes, geduldiges Bohren dicker Bretter.