Leseprobe – Kleine Welten

Sticky Fingers in Cuxhaven

Die Sonne
scheint noch nicht so stark.
Mich fröstelt ein wenig,
kauernd auf der Eckbank –
der Penner
vor der Schwarzen Madonna,
dem es egal war,
wie die mathematischen
Gesetze funktionieren.

… send me dead flowers to my wedding
and I won’t forget
to put roses on your grave.

Ich hab’s nicht mehr ausgehalten,
bin abgehauen – wie man so sagt –
in aller Herrgottsfrühe.

Die ganze Verwirrung in
meinem Gefühlsleben
beruhigt sich auf seltsame
Art und Weise.
Die zärtliche Gleichgültigkeit
der Welt …

Wie war das noch, damals,
als Carmen mich anrief
aus Bremerhaven?
Ich werde die schöne Geschichte,
die sie mir erzählte,
nie wieder vergessen.
Sie taucht immer ganz schnell
in meinem Kopf auf.
Auch später, als sie sich
meldete – aus Duisburg
oder irgendwo vom
Niederrhein.

Sie war unterwegs mit ihrem
Mann, einem Ekel von
Zahntechniker.
Südfrankreich,
und plötzlich eine Panne.
Sie geht die staubige Straße
entlang, um Hilfe zu holen.
Knappe Sommerkleidung
und eine Frau, die in den
Süden gehörte, nicht nach
Cuxhaven.
Da fährt langsam ein offener
kleiner Wagen auf sie zu.

Am Steuer sitzt ein Mann,
der sie ansieht.

Zuerst
spürt sie es nur.
Dann begegnet sie seinem
Blick, hält ihn aus,
erwidert ihn.
Der Wagen rollt an ihr vorüber.
Wenn er angehalten wäre,
sagt sie,
ich wäre eingestiegen
und hätte mich nie mehr
blicken lassen in Cuxhaven.

Ich habe es ihr geglaubt.
Auf’s Wort.

Der Rest Calvados,
den ich mitgehen ließ,
wärmt in der kühlen Luft.
Die Beine angezogen
hocke ich da.
Die Stadt ist leer.
Die Fischer sind nach Hamburg
gefahren. Zur Demonstration
gegen die Verschmutzung der
Gewässer.

Meine eigene Welt
ist abhanden gekommen.
Als gäbe es sie gar nicht.
Sie liegt vierhundert
Kilometer südlich.
Hier bin ich fremd,
gehöre nicht dazu.
Ich genieße dies Gefühl.

Wenn ich an Carmen denke,
erinnere ich mich auch
an den Maler
mit der eigenartigen
Technik. Er ließ die Farben
ineinanderlaufen.
Ich stand fasziniert dabei
und erlebte, wie Vergangenheit
und Gegenwart zueinanderfanden,
eins wurden.
Und zur Ruhe kamen.

Ich ziehe die Knie näher an die Brust.
Stütze das Kinn darauf.
Die Lautsprecher im Auto
erinnern mich an morgen.
Sister Morphine.

Eine Frau hastet an mir vorbei.
So früh.
Einen Moment scheint sie irritiert
von der Musik.
Dann stolpert sie weiter.
Sieht mich nur aus den Augenwinkeln an.


Innenansichten

Manche Erfahrungen
haben sich Raum geschaffen –
andere wieder
entwickeln sklerotischen Ehrgeiz.

Die Prismen der Wahrnehmung
brechen Wirklichkeiten
und vermitteln ihre
ganz eigne Farbenlehre.

Der jeweils reale Mensch
empfindet sich
als sein eigenes Double.

Ich nenne mich nicht mehr du.
Ich spreche in der Dritten Person
über mich

mit mir.

Manche Erfahrungen
entwickeln Metastasen
und wuchern
in vormals leidlich transparente Räume.

Die Wahrnehmung
hat es täglich schwerer,
mit ihren bunten Reizen
Nennenswertes auszurichten.

Die jeweilige Realität
hat den Anschein
eines unscharfen Abziehbildes.

Du nennst mich nicht mehr du.
Du sprichst in der Dritten Person
über mich.


Reflexion

Es gibt
vor lauter Regentropfen
keine ruhigen Blicke –

Eine Zigarette
nach der andern.
Pflichten – sogenannte –
schnell erledigt.

Die es gut meinen,
sagen:
Bleib doch über Nacht,
auch die Kinder
würden sich freuen.

Solange das Thema reicht,
fühlt man sich sicher
im Versteck.
Plötzlich evidente
Bezugspunkte im Persönlichen
mahnen
zum Aufbruch.

Erträglicher
wäre der Regen,
wenn all’ die Häuser
den Blick nicht verstellten.

Es bedarf nur
eines leichten Schlages,
dann sind die Fäden gekappt.
Dann
gibt es
die vorgespiegelten
Zwangsläufigkeiten
nicht mehr.

Der Wille,
vielfach gebrochen,
treibt geradeaus
in die Vergangenheit.


Grenzverschiebung

Da nützt sie dir gar nichts –
die Überfall-Musik
von Moon Martin.
Wohin mit den Grimassen,
den täglichen Verkleidungen?

Sie belagern dich, deine
ausgesperrten Gedanken.
Machen sich aufdringlich bemerkbar und
lassen dir kein Schlupfloch,
Türen und Fenster verschlossen.
Machen sich dann erst recht wichtig.
Da nützen sie dir gar nichts –
die Kaskaden von Überfällen.

Besser, du hättest sie dir nicht angewöhnt,
die täglichen Ausflüchte.
Das Telefon
könntest du ebensogut klingeln lassen.

Wenn du die Spieldose öffnest,
klingt sanftere Musik
als die von Moon Martin.
Löst sich die Spannung und
verströmt zu blecherner Harmonie.

Vielleicht gibt es die Möglichkeit,
dem verborgenen Mechanismus
nachzuspüren.
Wenn du auch nur über
die Erinnerung an deine Kindheit verfügst.

post scriptum
Schmerzlich
spüre ich wieder den Unterschied
zu meinem Marcuse-Aufsatz –
spüre ihn an diesen Zeilen,
leide an diesem Gedicht
und seiner Ursache:
Ich schreibe nicht
über Geschriebenes.


Was ich mir (manchmal) sage

Der Weg ist das Ziel –
auf Bestimmungen verzichten,
dem zu Planenden vorgreifen
durch das nicht Planbare,
der dünnen Eisdecke,
die das Wasser überzieht,
nicht achten –
das mögliche Versinken als Station betrachten,
nicht als Untergang.

Laß dich nicht zerreißen
in den Spannungsfeldern.
Gib den anderen,
was du von ihnen forderst.
Hab Vertrauen zu dir.