Kultur und Kunst
Wilhelm von Humboldt hat in seinem großartigen Text aus dem Jahre 1830 „Über Schiller und den Gang seiner Geistesbildung“ den Zusammenhang zwischen Kunst und Kultur, wie der Dichter der Freiheit ihn sah, knapp und prägnant dargestellt: „Eine Idee, mit der Schiller vorzugsweise gern sich beschäftigte, war die Bildung des rohen Naturmenschen, wie er ihn annimmt, durch die Kunst, ehe er der Kultur durch Vernunft übergeben werden konnte.“ In dieser Formulierung fließen die Vernunftphilosophie des Denkers Immanuel Kant und die ästhetische Intuition des Dichters Friedrich Schiller zusammen. Schiller und Friedrich Nietzsche waren im 18. und 19. Jahrhundert die Exponenten einer großen Schar von Künstlern und Intellektuellen, die in ihrem Verständnis von Kunst die vollkommene Form einer humanistischen Kultur erblickten. Der Schriftsteller Rolf Schroers hat den traditionellen Zusammenhang von Kunst und Kultur für das 20. Jahrhundert aufgegriffen, die Kunst aber nur als einen Teilbereich der Kultur verstanden: „Kunst ist nur ein Teil der Kultur und nur ein besonderer, aber besonders wichtiger Ausschnitt der Kulturpolitik. Kultur ist die Summe des gesellschaftlichen Sichverhaltens, ist die dichte Tatsächlichkeit gelebten Lebens in all seinen natürlichen und intellektuellen Bedürfnissen. Kultur ist elementare Bedingung eines menschenwürdigen Lebens. Die Frage nach der Zukunft von Freiheit der Kultur ist gleichzeitig die Frage nach der Zukunft einer menschenwürdigen Gesellschaft.“
Dieses umfassende Verständnis von Kultur findet sich vor allem in politischen Dokumenten demokratischer Staaten heute nahezu durchgängig, auch in den Vereinbarungen der UNESCO, der unter anderem für die Kultur zuständigen Organisation der UNO; der Kulturbegriff hat dort eine sehr weite Bedeutung und umfasst Recht, Bildung, Wissenschaft, Kunst und Religion, inzwischen schließt er auch die Technologie (Umwelt) und vor allem sowohl die traditionellen als auch die neuen, elektronischen Medien ein. In dieser Form ist er indessen für eine spezifische Kulturpolitik kaum noch greifbar, vielmehr wird er allgemein zur Grundlage von Politik oder doch wenigstens von Gesellschaftspolitik. Deshalb wird er in der politischen Praxis häufig im Sinne des Artikels 5 Grundgesetz auf die Kunst (und Wissenschaft) begrenzt. Freilich wird die Rolle des Staates bei einer solchen Eingrenzung problematisch. Denn die Freiheit der Kunst schließt staatliche Beeinflussung aus. Ja, Kunst scheint ihres experimentellen und überzeichnenden Charakters wegen geradezu in einem Gegensatz zur Politik zu stehen, die andererseits auf die Kultur, die Staat und Gesellschaft kennzeichnet, durchaus prägenden Einfluss ausüben kann – ebenso wie wechselwirkend Kultur die Politik zu prägen vermag. Die Freiheit der Kunst ist in diesem Zusammenhang stets gefährdet; Künstler neigen dazu, gegen den Stachel zu löcken und der politischen Praxis vor allem Kritisches und Oppositionelles, Provozierendes und Karikierendes entgegenzustellen. Damit haben sie in einer freiheitlichen Gesellschaft eine wichtige, aufklärerische Funktion, die der liberale Soziologe Max Weber (1864 – 1920) „das Handwerk des Zuspitzens“ genannt hat. Der Rechtsphilosoph Werner Maihofer spricht im Zusammenhang mit der Gewährleistung der Kunstfreiheit vom „Hauptgrundrecht des Kulturstaates“. Der Kulturexperte Oliver Scheytt bestätigt die Schlüsselfunktion der Kunst in der kulturellen Debatte auch für unsere Zeit, dazu schreibt er im Jahre 2003: „Die Rolle der Künste in Kultur und Gesellschaft sollte meines Erachtens der zentrale Bestimmungsfaktor der Kulturpolitik sein. (…) Denn die Künste leben vom Wagnis, sie entfalten Visionen, sie irritieren.“
In welchem Maße sie irritieren und wie stark sie dabei die staatlichen Autoritäten herausfordern können, wird in dem verärgerten Diktum des damaligen Bundeskanzlers Ludwig Erhard deutlich, der die Kritiker aus der Künstlerszene an seiner Politik, namentlich vor allem den Dramatiker Rolf Hochhuth, 1965 mit „Pinschern“ und „Banausen“ gleichsetzte. Für den bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß waren Intellektuelle, die es wagten, konservative Politik öffentlich anzugreifen, 1978 gar „Ratten und Schmeißfliegen“.
Theodor Heuss hat das problematische Verhältnis von Staat und Kunst 1926 im Deutschen Reichstag mit folgenden Worten beschrieben: „Die Tatsache ist immer kompliziert, wenn der Staat befehlend in Kunstfragen hineinreden will, weil er als ein Macht- und Gewaltsystem, als ein Verwaltungsapparat eine Kunstauffassung als solche nicht besitzt. Überall und immer, wenn der Staat mit seinen Polizeiorganen irgendeine Kunst oder Kunstrichtung kanonisierte oder disziplinierte, hat ihn eine spätere Zeit ausgelacht. Die Geschichte der Zensur ist eine Geschichte der Grotesken von Heine bis Wedekind.“ Gleichwohl stimmte Heuss einem Gesetz zur Vermeidung von „Schmutz und Schund“, das Kinder und Jugendliche vor jugendgefährdenden Schriften, der sogenannten „Schundliteratur“ schützen sollte, zu und meinte: „Schreiben können und dürfen, was man will, pinseln können und dürfen, was man will – das Ergebnis ist noch lange keine Kunst.“
In diesen paradoxen Äußerungen zur Rolle des Staates im Bezug auf künstlerische Produktion wird die Versuchung deutlich, die jeder politischen Praxis innewohnt, wenn sie sich durch die Freiheit der Kunst herausgefordert fühlt. Denn mit Politik ist häufig ein moralischer und/oder ideologischer Anspruch verbunden, der von der Kunst, wenn sie ihn denn zur Kenntnis nimmt, keineswegs unkritisch akzeptiert wird. Kunst ist zugleich Spiegelbild und Zerrbild, Überzeichnung und Zumutung der Realität; sie gefällt sich in der Funktion des Hofnarren und des Harlekin, will Tabus brechen, um zu provozieren, will zuspitzen und überspitzen, um Sachverhalte und Meinungen, ihre Gegensätzlichkeiten und Ungereimtheiten, ihre Stärken und Schwächen zu verdeutlichen. Kunst lebt nicht (mehr) vom Einverständnis mit den Realitäten, sondern von der hinterfragenden und infragestellenden Auseinandersetzung mit ihnen unter Einsatz ihrer ureigenen Mittel und Methoden; das Kabarett zum Beispiel entlarvt nur allzu gern die Sprache mancher Politiker als inhaltsleeres Geschwätz, ihre bedeutungsschwanger daherkommenden Sonntagsreden als eine Aneinanderreihung hohler Phrasen. Wenn man aber den Künstlern autoritär übers Maul fährt, wenn die Freiheit der Kunst gar über die legitimen gesetzlichen Grenzen hinaus von der Politik eingeschränkt wird, nimmt die liberale Kultur einer Gesellschaft Schaden. (Eine vergleichbare Problematik findet sich im übrigen in der seit einigen Jahren anhängigen Debatte zur Legitimität staatlicher Zensur des Internets.) Johan Huizinga, der holländische Kulturhistoriker (1872 – 1945), hat die schädlichen Auswirkungen staatlichen Einflusses auf die Kultur recht drastisch dargestellt: „Der Staat als Leviathan frisst, nachdem er die Kultur gefesselt und gelähmt hat, alles, was er packen kann: den Geist, das Herz und das Leben des Menschen, ganz gleichgültig, welche Weltanschauung oder soziale Idee hinter den wütenden Kämpfern zu suchen ist.“
Die Freiheit der Kunst korrespondiert in gewisser Weise mit der Meinungs- und Pressefreiheit, die erst einen informierten und kritischen Kommunikationsprozeß in einer freien Gesellschaft ermöglicht. „Das Grundrecht der Meinungsfreiheit, der Informationsfreiheit und der Pressefreiheit ist nicht ein Grundrecht neben anderen. Es ist eine Art Fundamentalgrundrecht, ohne das alle anderen Grundrechte illusorisch wären und ohne das es eine freie Willensbildung der Bevölkerung als Grundlage der Zusammensetzung der Staatsorgane nicht geben würde.“ So schrieb es der liberale Journalist und Politiker Karl-Hermann Flach (1929 – 1973) in seinem nach wie vor grundlegenden Buch „Macht und Elend der Presse“ von 1967. Und das Bundesverfassungsgericht hat dazu 1966 festgestellt: „Eine freie, nicht von der öffentlichen Gewalt gelenkte, keiner Zensur unterworfene Presse ist ein Wesenselement des freiheitlichen Staates; insbesondere ist eine freie, regelmäßig erscheinende politische Presse für die moderne Demokratie unentbehrlich.“ Die Freiheit der Kunst und die Freiheit der Medien haben also gewissermaßen eine komplementäre kathartische Funktion der politischen Herrschaft gegenüber und haben dadurch entscheidenden Anteil am kulturellen Leben eines Gemeinwesens.
Um ihrer liberalen Kultur willen müssen Staat und Gesellschaft ertragen, dass auch unbequeme, ja anprangernde Positionen und Meinungen in zugespitzter Form medial dargestellt und akzentuiert werden. Solange keine strafrechtlich relevanten Tatbestände vorliegen und keine Persönlichkeitsrechte verletzt sind, darf der Staat die Freiheit der Kunst und der Presse nicht antasten. Es mag legitim sein, dass er sich bei der materiellen Förderung problematischer Projekte zurückhält (wie etwa bei der RAF-Ausstellung in den Berliner „Kunstwerken“ aus dem Jahre 2005), aber systemkonformes Wohlverhalten zur Bedingung von staatlicher Unterstützung zu machen, kennzeichnet eine moralisierende, autoritäre Haltung, die dem Staat, will er ein liberaler und demokratischer Kulturstaat sein, der Kunst und den Medien gegenüber nicht zusteht. – Einer solchen Auffassung hat Theodor Heuss dann sogar unter dem Diktat der Nazis und in der Gefahr, sein Publikationsorgan zu verlieren, 1936 in der Zeitschrift „Die Hilfe“ mit folgenden Worten zugestimmt: „Die Fragestellungen der Kunst in der Zeit, gerade in dieser Zeit, sind weiter, kühner, wagender, der Versuch, auch wenn er Konventionen sprengt, bleibt wichtiger als liniengerade Vorsicht.“ Heuss musste im gleichen Jahr die Herausgeberschaft der „Hilfe“ aufgrund einer Anordnung der Reichsschrifttumskammer niederlegen und ihm wurde verboten, weiterhin als Journalist zu veröffentlichen. (Heuss lebte fortan in der „inneren Emigration“. Allerdings gelang es ihm, trotz des Verbotes während der Nazi-Zeit einige Bücher zu veröffentlichen, unter anderem eine Biographie über seinen Lehrer Friedrich Naumann, und er publizierte sogar – worauf Axel Schildt hinweist – „gelegentlich für das Feuilleton von Goebbels’ Zeitung ‚Das Reich’“.)
Bevormundung und Gängelung von Kunst und Kultur bis hin zu empfindlichen Strafen und Verboten sind in Diktaturen gang und gäbe; dass sie auch in von strenger Religion geprägten Staaten zur Disziplinierung Andersdenkender eingesetzt werden, haben 1989 das Todesurteil des Ayatollah Khomeini gegen den Schriftsteller Salman Rushdie wegen dessen angeblicher Verunglimpfung des Islam in dem Roman „Die satanischen Verse“ sowie die islamischen Reaktionen auf die „Mohammed-Karikaturen“, die am 30. September 2005 in der dänischen Tageszeitung „Jyllands-Posten“ und am 17. Oktober in der ägyptischen Zeitung „Al Fager“ veröffentlicht wurden, gezeigt. Im Falle Rushdies gilt das Todesurteil nach Ansicht islamistischer Fundamentalisten bis heute, und alle Moslems sind von ihnen zur Vollstreckung des Urteils aufgerufen, obwohl der iranische Staat es offiziell 1998 aufgehoben hat. Das auf die Ermordung Rushdies ausgesetzte Kopfgeld wurde mehrmals erhöht, inzwischen soll es bei fünf Millionen Dollar liegen. Im Namen des Urteils wurden etliche Gewalttaten begangen; der japanische Übersetzer der Verse, Hitoshi Igarashi, wurde 1991 ermordet, der italienische Übersetzer, Ettore Capriolo, schwer verletzt, und der norwegische Verleger, William Nygaard, entkam nur knapp einem Mordversuch. – Im Nachgang zu den gewalttätigen Reaktionen auf die „Mohammed-Karikaturen“ musste der dänische NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen im April 2009 gegen den Willen der türkischen Regierung für sein zukünftiges Amt nominiert werden; der muslimische türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan lehnte die Kandidatur Rasmussens ab, weil dieser sich als dänischer Ministerpräsident nicht von den Karikaturen distanziert, sondern der Presse- und Meinungsfreiheit den Vorrang gegeben hatte. Erst durch eine Reihe von Zugeständnissen an die Türkei konnte Rasmussen die notwendige Einstimmigkeit der NATO-Mitgliedstaaten für seine Ernennung zum Generalsekretär erreichen. – Auf den Zeichner einer der Karikaturen, Kurt Westergaard, wurde am 2. Januar 2010 von einem somalischen Islamisten ein Mordanschlag verübt, der aufgrund von weitsichtigen Schutz-Vorkehrungen des Karikaturisten und des raschen Eingreifens der Polizei mit Mühe entschärft werden konnte; Westergaard kam mit leichteren Verletzungen davon.
Dass Einmischung und gar autoritäre Zensur von Kunstwerken sowie Ächtung und Verfolgung von Künstlern durch den Staat in der liberalen Demokratie nicht erfolgen dürfen und sollen, scheint mittlerweile in den meisten westlichen Ländern selbstverständlich zu sein. Nur wenn die Freiheit der Kunst mit anderen Grundrechten kollidiert, bedarf es einer Rechtsabwägung, die in Deutschland vom Bundesverfassungsgericht vorgenommen werden muss. In der Bundesrepublik sind Fälle der Zensur oder des Verbotes von Kunstwerken aufgrund von entsprechenden Urteilen freilich die Ausnahme. In der Regel ist die Freiheit der Kunst nicht nur durch die Verfassung, sondern auch in der Praxis gewährleistet.
Allerdings war und ist es unvermeidlich, daß die Politik immer wieder direkt und indirekt Einfluss auf die Inhalte von Kunstwerken nimmt, indem ihre Programme und Maßnahmen zu Stellungnahmen und Protesten von Künstlern herausfordern. In der deutschen Geschichte sind solche Reaktionen zum Beispiel aus der Freiheitslyrik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bekannt, als mittels kritischer Literatur sowohl die individuelle Freiheit der Bürgerinnen und Bürger von den Fürsten gefordert als auch die Einheit der deutschen Nation beschworen wurde. Liberale und demokratische Literaten und mit ihnen Journalisten und Verleger, die ihre Blätter für den Abdruck oppositioneller Texte zur Verfügung stellten, wandten sich gegen die repressive Politik in den meisten der drei Dutzend deutschen Staaten, in denen Zensur geübt und zum Teil strenge Strafen gegen künstlerische oder journalistische „Verunglimpfung“ von Staat und Herrschaft verhängt wurden. Erst nach der Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 wurde diese Praxis allmählich liberaler. Allerdings entstand aufgrund der preußischen Siege über Österreich und Frankreich und der Machtpolitik des Kanzlers Otto von Bismarck nun auch eine „patriotische“ Kunst, die zum Beispiel in kriegsverherrlichenden Sedan-Gedichten mancher Lyriker oder auch in den Gemälden von Adolph Menzel (etwa der „Krönung von Kaiser Wilhelm I.“) und von anderen, spöttisch „Pinselpatrioten“ genannten Malern ihren Ausdruck fand.
Diese Art der systemkonformen Kunst trug bei zu einer nationalen, patriotischen Hochstimmung, die von großen Teilen des deutschen Bürgertums begierig aufgenommen wurde und ein neues Selbstbewusstsein erzeugte, das freilich nicht unproblematisch war, weil es erheblichen Anteil an der Euphorie zu Beginn des Ersten Weltkrieges und wohl auch an den Gründen für seinen Ausbruch hatte. Der Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels Wolf Lepenies schreibt dazu: „Bismarcks Politik und Richard Wagners Musik eroberten Europa. In beiden verkörperte sich die romantische Vorherrschaft des deutschen Geistes. Politik und Kultur waren eins.“ Dieses Gefühl der „romantischen Vorherrschaft“ führte zu überheblicher nationaler Attitüde und sollte sich nun auch machtpolitisch erweisen. Alexander Mitscherlich (1908 – 1982) hat die Gründe für den Waffengang psychologisch untersucht und kommt im Bezug auf die Kriegsbegeisterung im Deutschen Reich zu folgendem Ergebnis: „Am Ende der Erregungssteigerung steht der Wunsch, jetzt endlich einmal die Rangverhältnisse eindeutig herzustellen. Solcherart entwickelte sich ein Leitmotiv des deutschen, politischen Weltmachtstrebens vor 1914.“
Indessen gab es durchaus skeptische Stimmen, was den Aufstieg Preußen-Deutschlands zur europäischen Großmacht und die davon ausgehende Wirkung auf Kunst und Kultur im weiteren Sinne betrifft. Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) war schon nach dem Sieg Preußens über Frankreich im Jahre 1871 einer der Skeptiker; er schrieb 1873 in den „Unzeitgemäßen Betrachtungen“: „Die öffentliche Meinung in Deutschland scheint es fast zu verbieten, von den schlimmen und gefährlichen Folgen des Krieges, zumal eines siegreich beendeten Krieges zu reden: um so williger werden aber diejenigen Schriftsteller angehört, welche keine wichtigere Meinung als jene öffentliche kennen und deshalb wetteifernd beflissen sind, den Krieg zu preisen und den mächtigen Phänomenen seiner Einwirkung auf Sittlichkeit, Kultur und Kunst jubilierend nachzugehen. Trotzdem sei es gesagt: ein großer Sieg ist eine große Gefahr. (…) Von allen schlimmen Folgen aber, die der letzte mit Frankreich geführte Krieg hinter sich drein zieht, ist vielleicht die schlimmste ein weitverbreiteter, ja allgemeiner Irrtum: der Irrtum der öffentlichen Meinung und aller öffentlich Meinenden, dass auch die deutsche Kultur in jenem Kampfe gesiegt habe. (…) Dieser Wahn ist höchst verderblich (…), weil er im Stande ist, unseren Sieg in eine völlige Niederlage zu verwandeln: in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des ‚deutschen Reiches’.“
Diese von Nietzsche als Niederlage des deutschen Geistes interpretierte Entwicklung, die sich aus der Bismarckschen Machtpolitik ergab und die zum Beispiel von der Nationalliberalen Partei in weitem Umfang akzeptiert, ja von ihrem Theoretiker Hermann Baumgarten gar inhaltlich gerechtfertigt wurde, festigte für Jahrzehnte den Ausschluß des Bürgertums aus der politischen Verantwortung; es trug zwar den wirtschaftlichen Aufschwung, musste sich in der Politik aber per saldo mit der Rolle des Zuschauers begnügen; dem Feudalismus und der adligen Elite blieb die Gestaltung der politischen Verhältnisse überlassen. Viele Bürger suchten im kulturellen Leben eine Art Ersatzbefriedigung. Es entstanden eine systemkonforme und eine unpolitische Form der Kunst, die einerseits der politischen Resignation des Bürgertums, andererseits aber auch seinem „Gefühl der romantischen Vorherrschaft“ Rechnung trugen. Der Historiker Gordon A. Craig schreibt dazu: „Während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm diese Wirklichkeitsflucht verschiedene Formen an. Vielleicht die zwei harmlosesten darunter fanden in der Begeisterung für die Wagneroper und in der Beliebigkeit der Werke von Karl May Ausdruck.“
Jahrzehnte mussten vergehen, bis nach zwei schrecklichen Kriegen die „Exstirpation des deutschen Geistes“ überwunden werden und eine liberale, demokratische Kultur zunächst im Westen Deutschlands entstehen konnte – freilich nicht ohne fremde Wegweisung. Der liberale Publizist Christian Graf von Krockow (1927 – 2002) schreibt mit bitterem Unterton vom „historischen deutschen Defizit“ und verweist darauf, „dass die Prinzipien der Liberalität und der Progressivität sich niemals siegreich, mit der Folge gefestigten Selbstbewusstseins, aus eigener Kraft haben durchsetzen können. Die Ideen des politischen Humanismus und der Aufklärung haben nicht in die Breite und Tiefe gewirkt, wohl aber die der Gegenaufklärung. Die liberale Revolution von 1848 ist gescheitert. Die nationale Einheit war das Werk des alten Obrigkeitsstaates, der damit zu einer Zeit nachhaltige Wiederaufwertung erfuhr, als er eigentlich geschichtlich obsolet geworden war. Die Demokratie hielt Einzug einzig im Gefolge verlorener Kriege, zuletzt auf den Spitzen fremder Bajonette.“
Wenn heute die Begriffe Kunst und Kultur in der öffentlichen Auseinandersetzung benutzt werden, so sind sie von der Verbindung mit politischem Kalkül und Machtstreben à la Bismarck meist frei; natürlich auch, weil sich die politischen Verhältnisse inzwischen grundlegend gewandelt haben. Der Weg zur Freiheit von Kunst und Kultur ging per saldo einher mit ihrer politischen Entflechtung; vor allem in den fünfziger und in der ersten Hälfte der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts begnügte sich die tonangebende Kultur- und Künstlerszene in Deutschland zumeist mit der Pflege des „Guten, Schönen und Wahren“. Der Kulturhistoriker Axel Schildt bemerkt dazu: „Allein die Feier der freien Persönlichkeit, einer autonomen, an der Gesellschaft weitgehend desinteressierten Individualität der Kunst und des Künstlers, schien noch zeitgemäß.“ Wobei es freilich eine Reihe von Ausnahmen gab, zu denen Heinrich Böll, Wolfgang Koeppen und Günter Grass neben anderen Autorinnen und Autoren zu zählen sind, die sich nicht nur, aber vor allem in der „Gruppe 47“ zusammenfanden. Einige Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die im quälenden Bewusstsein der nicht aufgearbeiteten Belastungen Deutschlands aus der Nazi-Zeit jenseits des etablierten Literaturbetriebes engagierte Gedichte, Romane, Hörspiele und Theatertexte veröffentlichten, machten meist nur kurzfristig bei einer begrenzten Leserschaft von sich reden. Zu den wichtigsten von ihnen, die in der Regel keiner bestimmten kulturellen Gruppe oder Organisation angehörten, sich aber als Opposition zum politischen System und zum Establishment im Nachkriegsdeutschland verstanden, zählen Jürgen Beckelmann (1933 – 2007), Karl Günther Hufnagel (1928 – 2004) und Christian Geißler (1928 – 2008), der mit seinen beiden Büchern „Anfrage“ (1960) und „Ende der Anfrage“ (1967) an das moralische Gewissen der Deutschen appellierte, damit aber auch nur für kurze Zeit Aufsehen erregte.
Die Diskussion um die befürchtete Atombewaffnung der neu geschaffenen Bundeswehr Ende der fünfziger Jahre und besonders der Skandal der „SPIEGEL-Affäre“ von 1962, bei der die Bundesregierung dem SPIEGEL „Landesverrat“ vorwarf und mit ungesetzlichen Maßnahmen die Pressefreiheit einzuschränken versuchte, veranlassten auch eine Reihe von namhaften Künstlern, sich bei Aktionen und mit Manifesten dem politischen Protest anzuschließen. Besondere Beachtung erfuhr ihr politisch-kulturelles Engagement aber erst in der zweiten Hälfte der sechziger und in den siebziger Jahren.
Zu dieser Zeit und zu bestimmten Anlässen, etwa im Zuge der „68er-Bewegung“ im Westen Deutschlands, aber auch in der vor allem subkutan aktiven Protest-Szene der DDR, engagierten sich Künstler nun auch mit ihren Werken in meist oppositionellen politischen Zusammenhängen. In der Bundesrepublik erregte Rolf Hochhuth mit seinem Schauspiel „Der Stellvertreter“ (1963 von Erwin Piscator an der Freien Volksbühne in West-Berlin uraufgeführt), in dem er sich kritisch mit der Haltung Papst Pius XII. zum Holocaust auseinandersetzt, großes Aufsehen; in der DDR erhielt Wolf Biermann 1965 wegen seiner offenen Kritik an der politischen Praxis der SED Auftritts- und Publikationsverbot; „Klassenverrat und Obszönität“ waren die offiziellen Begründungen. In diesem Zusammenhang schreibt der Kulturhistoriker Hermann Glaser: „Inmitten einer solchen Situation existentieller Angst [wegen der Bespitzelung durch die Staatssicherheit], die auch immer wieder Selbstzensur bewirkte, ist der direkte oder indirekte Widerstand der DDR-Literatur bewundernswert, gerade dann, wenn man sie mit dem in der westlichen intellektuellen Szene grassierenden vorauseilenden Gehorsam und Opportunismus vergleicht.“ Indessen ist bei den DDR-Künstlern auch eine Fülle von systemkonformen Arbeiten zu finden, die zu großen Teilen einer ebenso opportunistischen oder doch gleichgültig angepassten politischen Haltung entsprangen wie der vieler westlicher Kolleginnen und Kollegen.
Inzwischen hat sich in der „verspäteten Nation“ (Helmuth Plessner), begünstigt von wirtschaftlicher Prosperität, eine pluralistische Kultur etabliert, deren Bestand durch die Errungenschaften der Zivilisation, vor allem durch die Institutionen der Demokratie und den freiheitlichen Rechtsstaat, in ihrem Kern gesichert wird. Selten nur noch blitzt in Publikationen und Diskussionen der Widerschein alter deutscher Kultur-Arroganz und elitärer Ignoranz gegenüber der Zivilisation, die von Thomas Mann und anderen noch zu Beginn der Weimarer Republik mit der Politik gleichgesetzt und pejorativ bewertet wurde, irrlichternd auf. Davon sollte man sich nicht irritieren lassen, auch wenn eine Symbiose von Zivilisation und Kultur, wie sie etwa bei unserem Nachbarn Frankreich ganz selbstverständlich existiert, in Deutschland allenfalls in Ansätzen festzustellen ist. Nur kurze Zeit wurde das Politische in der Kunst Westdeutschlands vordringlich thematisiert, etwa in der unmittelbaren Nachkriegszeit von Wolfgang Borchert, Wolfgang Staudte (der zunächst für die DEFA in der SBZ bzw. später der DDR arbeitete – sein berühmter Spielfilm „Der Untertan“ nach Heinrich Mann aus dem Jahre 1951 blieb in der Bundesrepublik bis 1958 verboten -, erst 1955 ging Staudte in den Westen), Heinrich Böll, Hans Werner Richter und Wolfgang Koeppen; oder später, vor allem in den sechziger und siebziger Jahren, von Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger, Peter Weiss, Jörg Immendorff, Johannes Grützke, Ingeborg Drewitz, Klaus Staeck und Franz-Josef Degenhardt.
In der DDR regte sich die künstlerische und intellektuelle Opposition: Uwe Johnson, Wolf Biermann, Erich Loest, Robert Havemann, Günter Kunert, Stefan Heym, Christa Wolf, Stephan Hermlin und viele andere meldeten sich zu Wort. Besonders deutlich artikulierten sich systemkritische Intellektuelle nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns im Dezember 1976. Namhafte Schriftsteller, darunter auch SED-Mitglieder, forderten die DDR-Führung auf, die Maßnahmen gegen Biermann zu widerrufen. Allerdings stießen sie damit auf taube Ohren. Der Schriftsteller Bernd Wagner, der 1985 die DDR verließ, meint dazu, das Jahrzehnt nach Biermanns Ausbürgerung habe den Tod der ostdeutschen Intelligenz besiegelt; wenn sie nicht außer Landes ging, sei ihr von Staats wegen jeglicher Spielraum zu kritischem Engagement verwehrt worden. Der Vertrag gegenseitiger Toleranz wurde endgültig aufgekündigt.
Die Wiedervereinigung Deutschlands wurde nach 1989 auch in der Welt von Kunst und Kultur zu einem politischen Thema, Günter Grass schrieb seinen kritisch aufgenommenen Roman „Ein weites Feld“ und Erich Loest die „Nikolaikirche“, manche andere Künstler griffen deutsch-deutsche Themen in Literatur und bildender Kunst, im Film und im politischen Kabarett auf. – Im 21. Jahrhundert haben Kunst und Kultur in Deutschland insgesamt gesehen eher einen unpolitischen Charakter angenommen (wenn man vom politischen Kabarett absieht, das getreu einer aus der Weimarer Republik kommenden Tradition mit mehr oder weniger gelungener künstlerischer Attitüde Spott und Hohn vor allem über die Politik und das Establishment ausgießt). Dies scheint zu Zeiten politisch unspektakulärer Verhältnisse, in denen freiheitliche Strukturen und Verhaltensweisen im wesentlichen gewährleistet sind, ein typisch deutsches Phänomen zu sein. Der Historiker Friedrich C. Sell (1892 – 1956) schreibt in seinem großartigen Buch „Die Tragödie des Deutschen Liberalismus“ über die Literaten in der Zeit des Kaiserreiches: „Vor 1914 verhielt sie [Ricarda Huch] sich so unpolitisch wie die überwiegende Mehrzahl aller Dichter und Literaten. Man kann nicht an der Feststellung vorübergehen, dass in dem Zeitalter der liberalen Geistesfreiheit die Literatur am Staat nicht interessiert war.“ Gordon A. Craig geht noch einen Schritt weiter, wenn er, durchaus mit bedauerndem Unterton, schreibt: „Es gibt kaum etwas, an dem die deutschen Intellektuellen einhelliger und hartnäckiger festgehalten haben als an ihrer Entschlossenheit, nichts mit Politik, in welcher Form auch immer, zu tun haben zu wollen (es sei denn in Form anspruchs- und risikoloser Dienstleistungen für das Establishment), und es gibt wohl nur weniges, das mehr zum tragischen Verlauf der deutschen Geschichte in den beiden letzten Jahrhunderten beigetragen hat.“
In den Prospekten und auf den Web-Seiten deutscher Städte und Kommunen findet sich für Kunst und Kultur meist eine eigene Abteilung, in der Kultur als Kunst im weiteren Sinne verstanden und beworben wird. Diese Form von Kultur wird, mindestens mit schönen Worten, von Amts wegen gefördert; Konzerte, Lesungen und sonstige Veranstaltungen werden öffentlich und offiziell angekündigt, Theater und Museen als Freizeit-Attraktionen vorgestellt. Das Politische wird dabei aus dem Kultur-Begriff eliminiert, an seine Stelle ist ein kulturwirtschaftliches und image-förderndes Interesse getreten, das mit kritischem Engagement nicht oder kaum kompatibel ist. Insofern scheint sich in der öffentlichen Darstellung eine Art Harmonie zwischen Kunst und Politik entwickelt zu haben, die in einem gemeinsamen unabhängigen und politikfernen Kultur-Verständnis zum Ausdruck kommt. Die Kultur wird von der Politik nicht mehr (oder doch kaum noch) für ihre Zwecke reklamiert, und die Kultur ihrerseits verzichtet meist auf einen allzu kritischen Umgang mit der Politik. Die Kunst jenseits kulturwirtschaftlicher und image-dienlicher Verwertung wird in diesem Zusammenhang eher stiefmütterlich behandelt (wobei gelegentliche Ausnahmen die Regel bestätigen).
In einem Aufsatz über Friedrich Schiller bemerkt die Journalistin Iris Radisch dazu: „Heute, gut zweihundert Jahre später, ist die Kunst entthront, abgeschoben und gehätschelt – ein im Überfluß vorhandenes Freizeitpläsir unter anderen. Sie hat nacheinander alle Ämter abgelegt, die sie je bekleidet hat. Sie dient weder Kirche noch König, und auch das Gewissen des Geschäftsbürgertums schläft gut ohne sie. Den lebensumstürzenden Ernst, den Schiller ihr zusprach, konnte keine Gesellschaft seither verwirklichen. Wenn Schiller den luxuriösen Keller sähe, in den wir das Aschenbrödel Kunst gesperrt haben, während wir die bösen Stiefschwestern in der Beletage der Medien- und Kulturindustrie für das vergessene Aschenbrödel ausgeben – ich glaube, er wäre verzweifelt.“