Kultur und symbolische Formen

In seinem berühmten Essay The doors of perception (Die Pforten der Wahrnehmung) aus dem Jahr 1954 erläutert der britische Schriftsteller Aldous Huxley (1894 – 1963) eine These des Philosophen und Literatur-Nobelpreisträgers Henri Bergson, wonach das menschliche Gehirn und sein Nervensystem vor allem „eliminativ und nicht produktiv sind“. Insofern fungieren Gehirn und Nervensystem als eine Art „Reduktionsventil“, das aus dem überwältigenden Ausmaß an Wissen um uns herum, aus allem, „was irgendwo im Weltall geschieht“ und geschehen ist, diejenigen Informationen filtert, die zum überleben des Menschen nötig sind. Was dabei herauskommt, „ist ein spärliches Rinnsal der Art von Bewußtsein, die uns hilft, auf der Oberfläche gerade unseres Planeten am Leben zu bleiben. Um die Inhalte des so verringerten Bewußtseins zu formulieren und auszudrücken, hat der Mensch die Symbolsysteme und implizierten Philosophien, welche wir Sprache nennen, erfunden und endlos ausgestaltet.“ Diese Symbolsysteme drücken freilich mehr aus als nur rationale, vernunftgemäße Erfahrungen und Erkenntnisse, sie versuchen auch in einer, wie Huxley meint, allenfalls rudimentären Weise dem Irrationalen und der Gefühlswelt eine Gestalt zu geben, die sich zum Beispiel in der Poesie und der künstlerischen Darstellung äußert. Huxley plädiert für eine Umgehung des eliminativen Prozesses und für eine Öffnung der Erfahrungsfähigkeit des Menschen zum Zweck reicheren Erlebens und einer humaneren Moral beispielsweise durch chemische Beeinflussung unseres Bewußtseins und hält Mescalin oder Peyote dabei für geeignet, wenn auch nicht für ideal. In eine andere Richtung weisen philosophische Überlegungen, die sich ebenfalls mit nicht rationalen, symbolischen Ausdrucksformen menschlicher Erfahrung und Erkenntnis befassen, sie aber rationaler Deutung zugänglich machen wollen.

 Bei der künstlerischen Gestaltungsfreiheit und der Rezeption von Kunst (Immanuel Kant: „Wohlgefallen ohne alles Interesse“) wird im allgemeinen nicht nur von kognitiven, rational vermittelbaren Prozessen und Produkten ausgegangen, sondern die emotionale und affektive Ebene erhalten ein mindestens gleichbedeutendes Gewicht. Wertvorstellung und Wertschätzung ergeben sich nicht nur aus rational darstellbaren, sondern gleichermaßen aus emotional empfundenen Eindrücken. Wissenschaftliche Forschung arbeitet ebenfalls sowohl mit kognitiven als auch mit affektiven Zielsetzungen, weil ihre Methoden zwar normalerweise rationalen und logischen Regeln folgen, ihre Absichten und Zwecke aber häufig spekulativ sind („Versuch und lrrtum“). In manchen Theorien wird mit Bezug insbesondere auf Jürgen Habermas der Kulturentwicklung ein kommunikativer gesellschaftlicher Prozeß zugeordnet („herrschaftsfreier Diskurs“), der der Demokratie als Herrschaftsform entsprechen soll. Dabei geht es vor allem um „Deliberation“, um die kontinuierliche allseitige Vermittlung und kritische Erörterung von Kenntnissen, Standpunkten und Wertvorstellungen, die eine friedliche und humane Entwicklung der Gesellschaft auf der Basis von Pluralismus und Toleranz ermöglichen sollen. Die vorgefundene Welt ist niemals neutral, sie ist immer schon eine vermittelte und interpretierte Welt, die zur Stellungnahme herausfordert; wir müssen unser Verhältnis zu ihr also immer wieder neu untereinander aushandeln, um den unterschiedlichen Bewertungen der Wirklichkeit und ihren stetigen Veränderungen gerecht zu werden und vor allem die Grundlagen der Demokratie, die der Rechtsstaat allein nicht garantieren kann, zu stabilisieren.

 Als geistesgeschichtliche Erläuterung und Versuch der systematischen Darstellung eines die kognitiven, affektiven und kommunikativen Dimensionen umfassenden Kulturbegriffs wird von Kulturtheoretikern (z. B. Max Fuchs) gelegentlich auf die Philosophie der symbolischen Formen von Ernst Cassirer verwiesen. Cassirer (1874 – 1945), 1919 bis 1933 Professor für Philosophie an der Universität Hamburg, war ein Schüler Hermann Cohens. Er kam aus der Marburger Schule des Neukantianismus, jener Denkrichtung, die im Anschluß an Immanuel Kant die Wirklichkeit als einen Zusammenhang begrifflicher Beziehungen darstellt. War im Neukantianismus Erkenntnis ausschließlich im mathematisch-naturwissenschaftlichen Sinn verstanden worden, so ging Cassirer einen großen Schritt weiter, indem er seine Untersuchungen auf die Geistes- und Kulturwissenschaften ausdehnte und neben dem wissenschaftlichen das sprachliche und das mythisch-religiöse Denken sowie die künstlerische Tätigkeit berücksichtigte.

 Unter dem Begriff Kultur faßt Cassirer die symbolischen Formen von Kunst, Technik, Politik, Wissenschaft, Religion und Mythos zusammen. Max Fuchs sieht bei Cassirer die „Spezifik des Mensch-Seins in seinem Umgang mit Symbolen“. Er interpretiert die Symbol-Philosophie Cassirers wie folgt: „Der Mensch braucht Sinnhaftigkeit, sucht nach Bedeutungen, konstruiert ständig die Welt, in der er lebt. Suche nach Sinn, Suche nach Bedeutungen, Suche nach Orientierung und damit: Deutung von sich und der Welt sind ständige Aufgaben des Menschen.(…) Der Preis seiner Freiheit, seiner Loslösung von unhinterfragten Deutungsinstanzen bringt die Last einer ständigen Deutung seiner Existenz mit sich.“ Wie in der systematischen Philosophie von Wilhelm Dilthey die Hermeneutik („Wissenschaft vom Verstehen durch Textauslegung“) als Methode des Sinnverstehens und der Sinndeutung kultureller Akte angewandt wird, so werden bei Cassirer die symbolischen Formen als Ausdruck von Sinnfälligkeit menschlicher Erfahrungen, Äußerungen und Gestaltungen betrachtet.

 Auch Cassirers Zeitgenosse, der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga, neigte diesem Verständnis von Kultur zu. In einem Brief an Julien Benda aus dem Jahr 1933 kleidet er es in eine Frageform: „Stimmen Sie mir zu, daß unsere gemeinsame Aufgabe, soweit sie intellektueller Art ist, darin besteht, Symbole, oder – wenn Sie wollen – Metaphern, Bilder, zu finden, die den uns zugänglichen Teil der Wahrheit verhältnismäßig am angemessensten wiedergeben?“

 Der Kulturwissenschaftler Paul Luchtenberg (1890 – 1973) kommt in seinen Überlegungen zur Bedeutung der christlichen Religion für einen „geläuterten Liberalismus“ zu folgender Erkenntnis: „Während die Jünger der Aufklärung ihre Wesensmitte im Intellekt und einer rationalen Vernünftigkeit entdeckt zu haben meinten und daraus ihren Bildungsintellektualismus, ihre Nützlichkeitspädagogik und ihren positivistischen Fortschrittsglauben nährten, hat sich der geläuterte Liberalismus die anthropologische Erkenntnis zu eigen gemacht, daß Mensch-Sein sich nicht im Ratio-Haben erschöpft, daß der ,Bürger zweier Welten‘ mit einem vom bloßen Verstande aus nicht zu bewältigenden Irrationalen verbunden ist.“ Einer solchen Auffassung von einem komplexen Begriff des Lebens, der sich nicht auf Rationales reduzieren läßt, stimmt auch der schwäbische Kulturpolitiker Walter Erbe (1909 – 1967) zu, wenn er schreibt: „Gesunde und dauerhafte menschliche Gemeinschaft kann nicht in irgendeinem Teil des Menschlichen wurzeln, sondern nur in der Ganzheit des Menschlichen, in Geist und Seele, in Vernunft und Gefühl.“

 Diese „Ganzheit des Menschlichen“, die man auch unter den Begriff der Kultur fassen kann, philosophisch auszudrücken und systematisch darzustellen war das Anliegen Ernst Cassirers. Unter dem Oberbegriff der Symbolischen Formen werden bei ihm Rationales und Irrationales, Vernunft und Gefühl, Wissenschaft und Mythos, Erkenntnis und Fiktion auf eine Stufe der Erfahrung und der Bedeutung gestellt. Er hat damit gewissermaßen die Reaktion von Romantik und Lebensphilosophie auf die Aufklärung und die kantische Vernunftlehre aufgegriffen und beides in einer Synthese zusammenzuführen versucht, ohne den Boden der kantischen Transzendentalphilosophie zu verlassen, ohne also die rationale „Deutungshoheit“ des Menschen aufzugeben. Mit den Worten Cassirers: „Der rechte Begriff der Realität läßt sich nicht in die bloße abstrakte Seinsform hineinpressen, sondern er geht in der Mannigfaltigkeit und Fülle der Formen des geistigen Lebens auf. (…) In diesem Sinne bedeutet jede neue symbolische Form nicht nur die Begriffswelt der Erkenntnis, sondern auch die anschauliche Welt der Kunst, wie die des Mythos oder der Sprache nach dem Worte Goethes, eine von dem Inneren an das Äußere ergehende Offenbarung, eine Synthese von Welt und Geist‘, die uns der ursprünglichen Einheit beider erst wahrhaft versichert.“

 Dimitri Gawronsky, ein Schüler Cassirers, faßt die Grundlage der Symbol-Philosophie mit folgendem Satz zusammen: „Das Ganze menschlicher Kultur spiegelt sich in unserem Geiste in einer endlosen Reihe symbolischer Formen.“ Indem der Mensch diese Formen rational darstellen und deuten kann, eignet er sich die Welt auf der Ebene eines gestaltenden Bewußtseins an, das heißt: Er schreibt der Welt die Symbole, mit deren Hilfe die Vielfalt und Bedeutung der Wirklichkeit vermittelbar wird, in der gleichen Weise vor, wie der Mensch nach Kant „der Natur seine, also ihre Gesetze vorschreibt“. Auf diesem Weg befreit der Mensch sich aus den Zwängen vorrationaler Mythologien und findet zu seiner ureigenen gestaltenden Freiheit. Die Mythen verschwinden zwar deshalb nicht aus seinem Leben, aber sie werden von der Erkenntnis gezähmt.

 Cassirer hat diesen Prozeß der „symbolischen Erkenntnis“ in einem anschaulichen Bild dargestellt: „In der babylonischen Mythologie finden wir eine Legende, die die Erschaffung der Welt beschreibt. Es wird uns erzählt, daß Marduk, der höchste Gott, bevor er mit seinem Werk beginnen konnte, einen schrecklichen Kampf bestehen mußte. Er mußte die Schlange Tiamat und die anderen Drachen der Finsternis besiegen und unterjochen. Er erschlug Tiamat und fesselte die Drachen. Aus den Gliedern des Ungeheuers Tiamat bildete er die Welt und gab ihr Gestalt und Ordnung. (…) Die Welt der menschlichen Kultur kann mit den Worten dieser babylonischen Legende beschrieben werden. Sie konnte nicht entstehen, ehe die Finsternis des Mythus besiegt und überwunden war. Aber die mythischen Ungeheuer waren nicht endgültig vernichtet. Sie wurden für die Schöpfung eines neuen Universums verwendet, und sie leben noch fort in diesem neuen Universum. Die Mächte des Mythus wurden durch höhere Kräfte besiegt und unterworfen. Solange diese Kräfte, intellektuelle und moralische, ethische und künstlerische, in voller Stärke stehen, bleibt der Mythus gezähmt und unterworfen. Aber wenn sie einmal ihre Stärke zu verlieren beginnen, ist das Chaos wiedergekommen. Dann beginnt mythisches Denken sich von neuem zu erheben und das ganze kulturelle und soziale Leben des Menschen zu durchdringen.“ – Der Jude Cassirer mußte 1933 erleben, daß das Chaos aus finsterer, mythischer Zeit tatsächlich wiederkehrte. Er flüchtete über England und Schweden in die USA, wo er 1945 starb. (Ohne an dieser Stelle näher darauf eingehen zu können, sei darauf hingewiesen, daß die Erkenntnisse der Psychoanalyse das Fortleben des Mythos im Unterbewußten und die Gefahr seiner Wiederbelebung bestätigt haben. Auch die jüngsten Tendenzen mancherorts in der Politik, engstirniges nationalistisches Denken an die Stelle von Toleranz und Weltoffenheit treten zu lassen und den Prozeß der Deliberation durch selbstgerechte Verdikte zu verdrängen, mögen dafür eine Bestätigung sein.)

 Robert S. Hartman von der Ohio State University hat in seiner Cassirer-lnterpretation eine Position formuliert, die man als Gegenpostion zu Aldous Huxley verstehen kann. Ihm geht es nicht um die Steigerung sinnlicher Erfahrung, sondern um „reine Erkenntnis“. Die Formung der Symbole, der Sinnbilder, durch den menschlichen Geist und damit den Gewinn reiner Erkenntnis beschreibt er wie folgt: „Indem das Bewußtsein sich fortschreitend vom Sinnlichen löst, gewinnt es seine Freiheit und damit sein wahres Mensch-Sein. Das Wesen des Menschen ist seine Freiheit; in ihr gründet sein schöpferisches Tun, das den Kosmos symbolischer Formen, der mit der Kultur identisch ist, aufbaut. ,Die … Kultur als Ganzes kann als der Prozeß der Selbstbefreiung des Menschen verstanden werden.‘ Je reicher daher der Symbolgehalt eines geistigen Aktes ist, in um so höherem Maße ist er ein wahrhaft menschlicher Akt.“ Die Kultur einer Gesellschaft besteht in diesem Sinn aus einer Vielfalt von Symbolen, die emotionalen Wertsetzungen die gleiche Bedeutung zugesteht, wie sie rationale Prozesse haben, Wissenschaft und Kunst den gleichen Rang zuweist wie Religion und Mythos; je umfassender diese Symbole die Wirklichkeit gestalten und abbilden, desto reicher ist die Kultur einer Gesellschaft, in desto höherem Maß ist die „Selbstbefreiung des Menschen“ vorangeschritten.

 Es mag oberflächlich anmuten, aber analog könnte man aus heutiger Sicht diese rein geistige Theorie der Kultur phänotypisch auf die bunte Welt der Medien übertragen, die der Massenkommunikation und Massenkultur verpflichtet sind. Ein analytischer Blick auf die Art und Weise der medialen Darstellungen erhellt das Ausmaß, in dem Vermischungen und Gleichsetzungen von Rationalem und Irrationalem sich in unserer Zeit, vielleicht in einem eher banalen Sinn, durchgesetzt haben. Auch wenn Denker wie Theodor W. Adorno einer solchen Form der Massenkultur skeptisch, ja ablehnend gegenüberstanden, weil sie vor allem Beeinflussung und nicht Aufklärung zum Ziel hat, so läßt sich doch nicht leugnen, daß sie in den liberalen Demokratien der westlichen Welt, und zunehmend auch in anderen Teilen der Erde, in nahezu allen Bereichen des Lebens die öffentlichen Märkte und damit die Oberfläche des kulturellen Erscheinungsbildes prägt. In der nachindustriellen Informationsgesellschaft sind rationale Verfahren zwar nach wie vor grundlegend für die Entwicklung von Produkten und Leistungen, Ihre Vermittlung indes, das „Marketing“, folgt längst psychologischen Erkenntnissen, die vor allem auf Affekt und Emotion ausgerichtete Instrumente zur Ansprache ihrer Zielgruppen bereitstellen. So ist eine kompetitive „Oberflächen-Kultur“ symbolischer Formen entstanden, deren Oberflächlichkeit bei Intellektuellen und deren Tabubrüche bei konservativen Moralisten und religiösen Eiferern Widerspruch und militante Gegenwehr hervorgerufen haben.

 Die Macht, aber auch das Ambivalente der Massenkultur zeigten sich zum Beispiel, als der ambitionierte Züricher Ammann-Verlag ankündigte, daß er seine Produktion demnächst einstellen werde oder einstellen müsse. Der Verleger Egon Ammann beschrieb in einem Interview vom 11. August 2009 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die kulturelle Landschaft, in der ein literarisch anspruchsvolles Unternehmen wie sein Verlag bestehen muß, mit den folgenden Worten: „Genauer aber ist, daß eine Verschiebung stattfindet, Techno und Rap, Pop, Glamour, Fun schieben sich vor das Ernstere. Zerstreuung, Abenteuer, Fantasy, Selbsterfahrung, Internet verbauen den Blick auf das Wesentliche, das wir eines Tages wieder benötigen, wenn viele dieser Phänomene ihre Anziehungskraft verloren haben.“ Die „ernsteren“ und „wesentlichen“ literarischen Produkte des AmmannVerlages wurden verdrängt von einer als oberflächlich und kurzlebig empfundenen „Spaß- und Unterhaltungs-Kultur“ – ein Phänomen, das mancherorts zu besichtigen ist und von manchem Repräsentanten eines traditionellen Kulturverständnisses bedauert wird.

 Ob zum Beispiel der Anspruch unser über die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten verbreiteten Unterhaltung de kulturellen Auftrag, der einmal mit ihnen verbunden war, noch realisiert, kann mit Fug und Recht in Zweifel gezogen werden. Im Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien heißt es: „Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben in ihren Angeboten der Bildung, Information, Beratung und Unterhaltung zu dienen. Sie haben Beiträge insbesondere zur Kultur anzubieten.“ Dieser Auftrag dürfte angesichts des Übermaßes an oberflächlichen und anspruchslosen Unterhaltungsangeboten der Öffentlich-Rechtlichen kaum noch erfüllt werden. Die geforderten Beiträge zur unterhaltenden Kultur bestehen weitgehend aus gefühlsseligen Herz- und Schmerz. Serien, hausbackener Krimi-Kost nach immer gleichem Strickmuster oder tosenden Glanz-und-Glitzer-Shows; sie vor allem okkupieren die auch für die Produkt-Werbung attraktiven Sendeplätze.

 Bezeichnend ist, daß die Kulturmagazine der ARD, die seit dem 30. April 2006 unter dem Sammelnamen titel thesen temperamente zusammengefaßt werden, Ende der 1990er Jahre vom attraktiven Sendeplatz nach dem Sonntagskrimi um 21.45 Uhr zugunsten einer Promi-Talk-Show auf 23.00 Uhr ins Nachtprogramm verbannt wurden. Die Zahl der Zuschauer ging dadurch von ehedem bis zu 2,5 Millionen auf weniger als die Hälfte zurück. Kulturelle Anliegen erschienen gegenüber mehr oder minder redundanten Gesprächen über aktuelle, „angesagte“ Themen vor allem aus dem politischen Alltag nicht wichtig, weil nicht zugkräftig genug. Für die zunächst von Sabine Christiansen, später von Anne Will und Günter Jauch moderierte Talk-Show mit Prominenten waren offenbar erheblich mehr und wesentlich leichter Zuschauer zu gewinnen, was insbesondere angesichts der Konkurrenz durch die privaten Fernseh-Stationen zunehmend zum Erfolgsmaßstab und Gütesiegel wurde. Die Quote siegte über den Bildungs-Auftrag.

 Die Weigerung des „Literaturpapstes“ Marcel Reich-Ranicki (1920 – 2013) im Dezember 2008, einen Fernsehpreis für sein Lebenswerk anzunehmen, mag zwar einen bigotten Beigeschmack haben – war er (Reich-Ranicki) mit seinem Literarischen Quartett und diversen anderen TV-Auftritten doch selbst Teil der seichten Massen-Unterhaltung, die er nun anprangerte -, gleichwohl wirft sie ein Schlaglicht auf das allzu anspruchslose Niveau, auf dem viele Unterhaltungsangebote inzwischen ganz selbstverständlich funktionieren –  gleichzeitig freilich kennzeichnet sie auch das Niveau des massenhaft applaudierenden Publikums. Der Kulturhistoriker Hermann Glaser schreibt aus Sicht der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts über das Fernsehen: ,,Die Entwicklung der westdeutschen Fernsehlandschaft seit den sechziger Jahren stimmt hinsichtlich der Hoffnung auf eine durch Aufklärung bestimmte multimediale Zukunft nicht optimistisch; eine populistisch ausgerichtete Politik hat die vornehmlich durch die Entscheidung der Westalliierten gegebene Chance, Rundfunk und Fernsehen als ,kulturellen Auftrag‘ zu verstehen, vertan – mit Zustimmung eines Publikums, das in seiner Mehrheit die emanzipatorischen Möglichkeiten der Medien nicht wahrnehmen wollte oder konnte.“

 Die von Emotionen und irrationalen Aspirationen beherrschte Massenkultur symbolisiert indessen eine Gesellschaft, die damit den Preis für eine Freiheit zu zahlen bereit ist, der möglichst vielfältige Optionen für die selbstbestimmte und selbstverantwortliche Wahl jedes Einzelnen zur Verfügung stehen. Das idealistische pädagogische Engagement für das „Schöne, Gute und Wahre“ tritt dem gegenüber in den Hintergrund und gibt der Autonomie (scheinbar) emanzipierter, eigenverantwortlicher Persönlichkeiten den Vorrang. (Über die Wandlung symbolischer Formen in Kunst und Kultur gibt in ironischer Weise der Titel Auskunft, den der Lyriker Robert Gernhardt einer seiner Gedichtsammlungen gab: Vom Schönen, Guten, Baren.) Daß dabei Oberflächliches „marktgängiger“ ist als Anspruchsvolles, mag man bedauern, die Alternative einer gelenkten Kultur ist dem gegenüber indessen keineswegs zu bevorzugen.

 Vielleicht ist es ja auch ein Relikt althergebrachten, heute längst nicht mehr relevanten Kulturverständnisses, wenn über den Mangel an Qualität in den Unterhaltungsangeboten Klage geführt wird. Vielleicht ist es auch ein Ergebnis der Forderung nach einer „republikanischen Kultur“, wie sie von dem Schriftsteller Rolf Schroers (1919 – 1981) formuliert wurde; einer Kultur, die sich von ihren traditionellen Bezugspunkten löst, um eine Fülle neuer symbolischer Formen zu erzeugen, die einer veränderten Realität Rechnung tragen. Hedda Guhr und Siegfried Hummel beschreiben diese Forderung wie folgt: „Rolf Schroers brach mit der deutschen Tradition, den Kulturbegriff auf das sogenannte Schöne, Gute und Wahre in Kunst· und Wissenschaft einzuengen. Kultur sollte nicht mehr nur der Besitz einiger weniger Bürger sein, die sich elitär von den politisch-gesellschaftlichen Realitäten zurückzogen. (…) Vielmehr sollten öffentliche und private Kulturförderung dafür sorgen, daß ein inter-kultureller Kommunikationsprozeß das Verharren auf den jeweiligen Positionen lockert und gegenseitige Akzeptanz ermöglicht.“

 Zum Schluß noch einmal Aldous Huxley: „Daß die Menschheit als Ganzes je imstande sein wird, ohne künstliche Paradiese auszukommen, ist sehr unwahrscheinlich.“ Es liegt an uns, die Qualität der Paradiese zu bestimmen.