Laird McLeod Easton: Der rote Graf. Harry Graf Kessler und seine Zeit.

Aus dem Amerikanischen von Klaus Kochmann. Stuttgart: Klett-Cotta 2005. 575 S.

Nachdem der Verlag Klett-Cotta im Jahre 2004 damit begonnen hat, die Tagebücher von Harry Graf Kessler, die sich über 57 Jahre erstrecken, von 1880 bis 1937, vollständig zu veröffentlichen, erscheint die Biographie von Laird Easton als Komplement dazu zur rechten Zeit. Bisher gab es zwar eine Reihe von Aufsätzen zu Kessler (s. dazu auch „liberal“ 3/1988, S. 127 – 134) und vor allem die Arbeit von Peter Grupp aus dem Jahre 1995, aber eine Gesamtdarstellung seines Lebens fehlte. Die Fülle an Material von und über Kessler macht es verständlich, daß Easton mehr als zehn Jahre brauchte, um sein Buch zu vollenden. Es erschien zuerst in amerikanischer Sprache 2002 in der University of California Press. Easton ist Associate Professor für Geschichte an der California State University.

Seine Arbeit ist chronologisch angelegt. Sie beginnt mit der internationalen Familiengeschichte Kesslers, um sich dann den Etappen seines Lebens zu widmen. Easton will eine historische Figur nachzeichnen, die ihren „Einfluß weitgehend hinter den Kulissen“ ausübte, deren meist gescheiterte Unternehmungen aber „oft interessanter [waren] als die Erfolge anderer“ (S. 19). Kessler gehörte Zeit seines Lebens, sieht man von den letzten drei bis vier Jahren ab, zur Elite in der Kultur und Politik nicht nur des Deutschen Reiches, sondern auch Frankreichs und Englands. Seine Kontakte, schon durch die Verbindungen des Vaters zu Bismarck und zum Haus Hohenzollern angebahnt, vor allem aber seine aufgrund des ererbten Vermögens unabhängige Stellung, prädestinierten ihn einerseits für mäzenatisches Engagement, andererseits für politische Vermittlungen im internationalen Bereich. Easton zeichnet diese Aktivitäten präzise nach, indem er sich vor dem Ersten Weltkrieg vor allem mit den künstlerischen Interessen und danach insbesondere mit den politischen Bemühungen des Grafen beschäftigt.

Vor dem Krieg war Kessler an einer Reihe von kulturellen Projekten maßgeblich beteiligt, unter anderem an der ambitionierten Kultur-Zeitschrift „PAN“; an der Gründung des Deutschen Künstlerbundes als Alternative zur offiziellen reichsdeutschen Kulturpolitik; als Leiter des Museums für Kunst und Kunstgewerbe in Weimar an der Präsentation impressionistischer und expressionistischer ausländischer wie deutscher Künstler sowie moderner Kunstrichtungen, etwa der Art Deco; als Ko-Autor Hugo von Hofmannsthals an den Libretti einer Oper und eines Balletts von Richard Strauss sowie an einer Fülle anderer Unternehmungen. Sein Verdienst, das Easton sehr informativ und schlüssig herausarbeitet, lag dabei besonders in der Entschiedenheit, mit der Kessler überholten Vorstellungen in Kunst und Kultur entgegentrat und sich für neue Entwicklungen vor allem als Mentor und Mäzen, aber auch als Autor und Kritiker engagierte. Inspirieren ließ er sich dabei insbesondere von Friedrich Nietzsche, was dazu führte, daß er dem klassischen Gedankengut und klassischen Vorstellungen von Kunst und Kultur neben seinen avantgardistischen Bemühungen verbunden blieb. Dies wurde zum Beispiel deutlich in den Produktionen seines eigenen Verlages, der Cranach-Presse in Weimar, die Vergil und Shakespeare, aber auch moderne Autoren wie Gerhart Hauptmann und Max Goertz in bibliophilen Ausgaben herausbrachte.

Nach dem Krieg galt sein politisches Engagement als eine Art assoziierter Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes zunächst der Vermittlung von Vorschlägen, den Versailler Vertrag für die Deutschen annehmbar zu gestalten. Dabei war er manches Mal für ein wichtiges Amt im Gespräch, etwa als Botschafter in London oder Washington, gar als deutscher Außenminister, jedoch blieb es bei seiner nur wenige Wochen dauernden Berufung als deutscher Gesandter in Polen Ende 1918, andere offizielle Ämter waren ihm versagt. Er gehörte der liberalen Deutschen Demokratischen Partei an, für die er 1927 bei den Reichstagswahlen kandidierte, aber auch dieses Engagement führte zu keiner wichtigen politischen Funktion.

Zu betonen ist nach dem Krieg neben seinen offiziellen und halboffiziellen Missionen vor allem sein Wirken für den Pazifismus. Er entwarf zur Sicherung des Friedens einen eigenen Plan für einen von nationalen Regierungen unabhängigen Völkerbund, der freilich in Vergessenheit geriet, nachdem der im Versailler Vertrag vorgesehene Bund gegründet war. Easton stellt die rührige, rastlose Vermittler- und Vortragstätigkeit des Grafen zugunsten von Demokratie und Republik in den ersten Jahren nach dem Krieg ausführlich dar, informiert über die Gespräche auf allerhöchster Ebene – vom deutschen Reichskanzler über den englischen Premier und den französischen Präsidenten bis hin zu amerikanischen Regierungskreisen – und zeichnet damit das Bild einer zwar höchst engagierten, letztlich aber auch seltsam ziellos agierenden Persönlichkeit. In dieses Bild passen die linkslastigen Sympathien Kesslers, die ihm für kurze Zeit zu Beginn der Weimarer Republik in der Presse die Bezeichnung „Der rote Graf“ einbrachten, weil er für die Beteiligung der USPD an der Regierung warb. Allerdings steht diesem publizistischen Werben keine politische Praxis gegenüber, die folgerichtige persönliche Konsequenzen gezogen hätte. Vielmehr blieb Kessler einem elitären Lebensstil verhaftet, der die Ambivalenz vieler seiner Aktivitäten illustriert.

Indessen war sein Vermögen nicht grenzenlos. Gegen Ende der zwanziger Jahre, als Kessler mit ernsten gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte, mußte er immer öfter auf die materielle Hilfe seiner Schwester Wilma zurückgreifen, damit er seinen Lebensstil einigermaßen beibehalten konnte. Die ausländischen Guthaben wurden ihm als Deutschem im Zuge der Reparationen entzogen, in Deutschland überstiegen seine Ausgaben bald bei weitem die Einnahmen. Er begann Bücher zu schreiben, eine Biographie über Walther Rathenau und seine Lebenserinnerungen, und versuchte damit Geld zu verdienen. Als er aber nach 1933 emigrieren mußte, um den Nachstellungen der Nazis, deren Politik und Repräsentanten er stets mit verächtlicher Attitüde geschmäht hatte, zu entkommen, waren seine Rücklagen vollends verbraucht. Er fristete sein Leben auf Mallorca und seit 1936 in der Nähe von Lyon, von treuen Freunden und von seiner Schwester umsorgt. Am 30. November 1937 starb er. Hinterlassen hat er nicht nur seine umfangreichen Tagebücher, sondern auch eine vorzügliche Rathenau-Biographie, den ersten Band seiner Erinnerungen und eine Fülle von meist geistreichen und anregenden Arbeiten über fremde Länder, Kunst, Kultur und Politik, die auch heute noch höchst lesenswert sind.

Easton verwendet viel Raum auf die Nachzeichnung der Aktivitäten des Grafen im Zusammenhang mit den zeitgeschichtlichen Bedingungen. Dabei entsteht eine sehr informative Biographie, die freilich gelegentlich wichtigen Dingen zu wenig und eher unwichtigen zu viel Raum gibt. Die Affären und Skandale etwa im Weimar der Vorkriegszeit, die in Künstler- und Politikerkreisen Aufsehen erregten, sowie die Kriegsgeschehnisse von 1914 bis 1916, in die Kessler als Offizier involviert war, werden sehr ausführlich dargestellt, während der Leser beispielsweise über die gedankliche Beschäftigung des Grafen mit der Philosophie Friedrich Nietzsches oder später mit den Schriften Walther Rathenaus recht wenig erfährt. So wird ein Leben präsentiert, das sich an der Oberfläche rastloser Vermittler-Tätigkeiten zu verbrauchen scheint, dabei hin- und herschwankt zwischen fortschrittlichem Gestaltungswillen und der Fesselung an die Bigotterie der aristokratischen Eliten. Diese Ambivalenz wird unterstrichen durch die Homosexualität Kesslers, die ihm einerseits ein „normales“ Familienleben versagt, andererseits seiner Individualität und seinem moralischen Urteil eine besondere Qualität verleiht. Dies alles deutet Easton immer wieder an, widmet sich den Gründen für die Ambivalenz in Kesslers Leben aber eher unsystematisch und beiläufig. Dabei ist dies sicher eine der interessantesten Seiten, die der umtriebige Graf zu bieten hatte. Indessen sollte dieser Mangel das Verdienst der Biographie nicht allzusehr schmälern. Vor allem für den Leser, der eine zeithistorische Interpretation und weniger eine psychologische erwartet, bietet das Buch einen vorzüglichen Überblick.

Eines freilich sei noch am Rande angemerkt: Die Übersetzung läßt an mancher Stelle zu wünschen übrig. Probleme mit Grammatik, Syntax und Interpunktion sind leider nicht zu übersehen, von den zahlreichen Druckfehlern, die gelegentlich auch sinnentstellend sind, zu schweigen. Sollte das Buch eine zweite Auflage erleben, so wäre hier sicher noch Hand anzulegen. Und schließlich führt auch die Wahl des Buchtitels für Uneingeweihte eher zu Irritationen. Kessler hatte den Beinamen des „Roten Grafen“ durchaus nur für sehr kurze Zeit, und er war auch eher spöttisch als ernst gemeint. Die ganze Biographie nun unter diese Überschrift zu stellen, erscheint doch ein wenig kühn.