Leseprobe – Die andere Unschuld

Es war eine Idee gewesen, ein Versuch, mehr nicht. Was sich daraus dann alles entwickeln sollte, hätte ich mir keineswegs träumen lassen.
Ich besaß kaum noch Geld, und etwas Besseres als die Annonce in unserer Kreiszeitung, dem örtlichen Käseblatt, fiel mir nicht ein: „Schreiben Sie die Geschichte Ihres Lebens auf! Bekannter Schriftsteller hilft!“ Und dann meine Telefonnummer, unter der Interessenten mich täglich zwischen sechzehn und achtzehn Uhr anrufen sollten.
Die Annonce kostete fünfzehn Mark.
Wenn etwas dabei rauskommt, so dachte ich mir, ist das Geld gut angelegt. Wenn nicht, was soll’s. Fünfzehn Mark war mir der Versuch allemal wert.
„Bekannter Schriftsteller“ – das war ein bißchen geprahlt, zugegeben. Aber immerhin hatte ich mittlerweile vier Romane und ein Bändchen mit Prosa und Lyrik veröffentlicht, und der zweite Roman hatte sogar einen literarischen Preis erhalten. Verkaufserfolge waren sie leider alle nicht, meine fünf Bücher. Deshalb mußte ich mich mit allerlei Nebenjobs über Wasser halten: Journalisterei, Taxifahren, Auslieferungen für eine chemische Reinigung und Urlaubsvertretungen bei der Post.
In den letzten beiden Jahren allerdings hätte ich mich ausschließlich meiner schriftstellerischen Arbeit widmen können, eine kleine Erbschaft machte es möglich. Das Ärgerliche war nur, daß meine Inspiration versiegte. Ich brachte außer ein paar Kurzgeschichten und einigen mittelmäßigen Gedichten nichts zustande. Und nun war die Erbschaft bis auf einen kaum noch nennenswerten Rest verbraucht, ein neues Buch war nicht in Sicht, also mußte ich mir wohl oder übel wieder andere Einkommensquellen erschließen. Zum Beispiel über die Annonce.
Nachmittags zwischen vier und sechs hockte ich also neben meinem Telefon und wartete. An den ersten beiden Tagen rief niemand an. Und obwohl ich mir einzureden versuchte, daß ich ja eigentlich mit nichts anderem gerechnet hätte, war ich doch etwas enttäuscht. Keine angenehme Vorstellung, wieder zum Arbeitsamt marschieren zu müssen, um nach einer Aushilfsstelle zu fragen. Außerdem wurde es wegen der anhaltenden Arbeitslosigkeit immer schwieriger, überhaupt was zu finden. Bei der Post war nichts mehr zu machen, und einen Job als Taxifahrer bekam man normalerweise auch nur noch, wenn man Beziehungen hatte. Es würde wohl wieder auf eine freie Mitarbeit beim Kreisblatt, meinem ehemaligen Arbeitgeber, hinauslaufen; vorausgesetzt, der Chefredakteur Werner Christens hätte sein Interesse an mir noch nicht verloren.
Am dritten Tag nach Erscheinen der Anzeige rief aber doch noch jemand an, der Stimme nach ein älterer Herr.
Seinen Namen sagte er zuerst nicht.
Ob ich der Schriftsteller sei, der annonciert habe, fragte er.
Ja, gewiß.
Ob er denn bitte meinen Namen erfahren könne.
Aber gern. Ich heiße Hans Anklam. Wie der Ort …
Anklam? unterbrach er mich, Anklam? Nie gehört. Sie schreiben doch, daß Sie berühmt wären.
Berühmt nicht, nur bekannt, sagte ich, vielleicht haben Sie schon mal von meinem Roman „Bauernopfer“ gehört. Er hat den Keppler-Preis erhalten.
„Bauernopfer“, so, der Mann am anderen Ende der Leitung schien einige Sekunden nachzudenken. Ein Begriff aus dem Schach, sagte er dann, das gefällt mir.
Ich stieg offenbar ein wenig in seinem Ansehen, denn nun entschloß er sich, mir seinen Namen zu nennen.
Also, ich heiße Wagenschied, Dr. Wagenschied, und Ihre Annonce hat mich dazu angeregt, mit Ihrer Hilfe die – er zögerte einige Sekunden – die Bedeutung, die Zusammenhänge einer … , einer, nun, sagen wir: einer zum großen Teil zwischen den Jahresringen und unter den Ablagerungen der Vergangenheit verborgenen Geschichte herauszufinden die ich seit fast einem Menschenalter mit mir herumschleppe. Es jedenfalls zu versuchen.
Äh … , ich verstehe nicht recht, war meine Antwort.
Wieder zögerte er sekundenlang.
Nun, vielleicht gewinne ich mehr Klarheit, sagte Wagenschied dann, wenn Sie aufschreiben, was ich Ihnen erzähle. Vielleicht finde ich doch noch … , nun, es ist am Telefon schwer zu erklären. Könnten Sie denn mal vorbeikommen, damit wir das Projekt besprechen? Hätten Sie überhaupt Interesse?
Gewiß. Wann ist es Ihnen recht?
Kommen Sie doch Montag Nachmittag um fünfzehn Uhr.
Unvermittelt nahm seine Stimme einen herrischen, arroganten Ton an, so schien es mir. Jedenfalls unterschied sich ihr Tonfall jetzt deutlich von den Worten vorher, die Wagenschied eher unsicher und stockend gesprochen hatte.
Und nehmen Sie sich ungefähr drei Stunden Zeit. So lange werden wir wohl brauchen, um den Rahmen abzustecken. Und um dann festzustellen, ob es überhaupt sinnvoll ist, die Sache auf diese Weise anzugehen.
Ist recht, Herr Dr. Wagenschied, sagte ich artig, ein wenig verwirrt auch, … äh, und Ihre Adresse?
Ich wohne in der Wilhelmstraße Nummer einundsechzig, das Haus liegt etwas zurück. Dann erwarte ich Sie also Montag um drei Uhr hier. Wagenschied legte ohne Gruß auf.
Ich dachte einige Sekunden über die eigenartigen Andeutungen Wagenschieds nach, über den plötzlichen Wechsel des Tonfalls, zuckte dann aber die Achseln und gab mir keine Mühe mehr, das Telefonat zu entschlüsseln. Hauptsache ein Job.
Wilhelmstraße, das war die nobelste Wohngegend in unserer Kleinstadt. Villen aus der Gründerzeit inmitten großzügiger Parks und gepflegte Mehrfamilienhäuser jüngeren Alters. Dort wohnten hauptsächlich Ärzte, Rechtsanwälte, höhere Beamte und begüterte Geschäftsleute.
Ich notierte zufrieden Namen und Anschrift:
Dr. Wagenschied, Wilhelmstraße einundsechzig.
Seinen Vornamen hatte er mir nicht gesagt. Ich nahm das Telefonbuch zur Hand und schlug nach. Aber es gab keinen Eintrag unter diesem Namen, nichts. Seltsam, dachte ich, suchte aber nicht weiter nach einer Erklärung.
Glücklich über die Aussicht, auf erträgliche Art und Weise ein bißchen Geld verdienen zu können, machte ich mich auf den Weg in meine Stammkneipe.
Es war Freitag, erst kurz nach fünf.
Ich stand schon draußen auf dem Bürgersteig, als mir der Gedanke kam, bis sechs könnte immerhin noch jemand anrufen, wegen der Annonce. Einen Moment zögerte ich, dann jedoch setzte ich meinen Weg fort. Wahrscheinlich hatte ich ja schon einen Kunden; und wenn es mit dem nicht klappte, müßte ich eben noch einmal annoncieren. Der kleine Erfolg machte Mut.
August; vierzehn Tage lang war es unerträglich heiß gewesen, jetzt kühlte es glücklicherweise allmählich wieder ab. An beiden Seiten meiner Straße, die auf den Ring um die Innenstadt führte, hatten sie im Frühling junge Linden angepflanzt, zwei bis drei Meter hohe, dürre Bäumchen. Ihr zartgrünes, spärliches Laub zitterte im sanften Wind, die Sonnenstrahlen flimmerten.
Dr. Wagenschied – mir war, als hätte ich den Namen schon einmal gehört. Ich wußte nur nicht mehr, wo und wann. Dabei war in unserer Kleinstadt eigentlich jeder Name aus der besseren Gesellschaft Allgemeingut. Und einer wie ich, der immerhin länger als vierzig Jahre, seit seiner Geburt, in diesem Städtchen lebte, hätte ihn normalerweise kennen müssen. Aber mir fiel nicht ein, wo mir der Name Wagenschied schon mal begegnet war, so sehr ich mein Gedächtnis auch anstrengte. Nun, es würde sich zeigen.
Während ich die Straße entlang schlenderte und über Einzelheiten des Anrufs nachdachte, spürte ich allmählich etwas wie Neugier und Spannung. Was mochte das für ein älterer Herr sein, dessen Name nicht einmal im Telefonbuch stand? Nummer einundsechzig in der Wilhelmstraße. Die Gegend kannte ich, aber nicht jedes einzelne Haus. Vielleicht ein Pseudonym, hinter dem sich eine geheimnisvolle Biographie verbarg. Seine eigenartigen Andeutungen ließen auf die Geschichte einer nicht alltäglichen Persönlichkeit schließen.
Ach was, ich schüttelte den Kopf, wahrscheinlich nur ein in spießbürgerlichen Ehren ergrauter, eitler Akademiker, der seinen zutiefst durchschnittlichen Lebensweg für etwas ganz Besonderes hielt, das unbedingt zu Nutz und Frommen der Enkel und Urenkel verewigt werden sollte. Einer aus unserer Kleinstadt-Arroganzia. Ich zuckte die Achseln. Nun ja, mir konnte es gleichgültig sein. Hauptsache, ich fände Gelegenheit, ein paar Mark zu verdienen.
Bei Willi, in meiner Stammkneipe, die für diese Stunde üblichen Gesichter.
Ich hockte mich an die Theke.
Ein Pils, Hans? fragte der Wirt.
Ja, aber heute, zur Feier des Tages, auch einen Kurzen dazu, antwortete ich.
Neben mir, zu meiner Rechten, saß Konrad, Frührentner und Fußballexperte.
Hast du etwa im Lotto gewonnen? fragte er mit freundlichem Grinsen.
Nein, aber ich habe möglicherweise einen Job, antwortete ich.
Ach was, wieder als Taxifahrer?
Nein, nein, diesmal in meinem richtigen Beruf, als Schriftsteller.
Na, wenn da man was draus wird.
Willi grinste und stellte mit skeptischem Stirnrunzeln den Schnaps auf einen Bierdeckel vor mich hin, das Glas schön beschlagen.
Während ich auf mein Pils wartete, versuchte Konrad mich in ein Fachgespräch über einen vermutlich bevorstehenden Trainerwechsel beim Fußballverein Bayern München zu verwickeln.
Ich hörte ihm kaum zu, nickte nur manchmal knapp, wenn er mich am Arm rüttelte, um mich für den bewußten Personalfall zu interessieren. In Gedanken war ich noch immer bei Dr. Wagenschied. Ich hatte so einen Job als Ghostwriter schließlich noch nie gemacht.
Am besten nehme ich meinen Kassettenrecorder mit und zeichne das Gespräch auf, dachte ich. Um es später, zuhause, dann in den Computer zu tippen und zu bearbeiten. Ja, genau, das wäre wohl das Beste.
Willi stellte das Pils neben den Schnaps. Also dann prost, auf deine neue Karriere, sagte er.
Konrad griff ebenfalls nach seinem Glas. Während ich meinen Kurzen kippte, blickte er mich leicht verstimmt an.
Über die Bundesliga sollteste man mal ’n Buch schreiben, sagte er mit Nachdruck, das würde sich lohnen. Und nicht immer nur deine Romane und Gedichte und so.
Ich zuckte die Achseln und nickte ihm zu.
Wahrscheinlich hast du recht, sagte ich, vielleicht probier’ ich es auch tatsächlich noch mal.
Konrad gestikulierte lebhaft.
Genau, sagte er, das solltest du man lieber gleich probieren. Für Auskünfte stehe ich jederzeit gegen Expertenhonorar zur Verfügung. Ich bin aber nicht billig.