Leseprobe – Herbstlicht

Es fiel ihm auf, daß alles viel grüner war als in seiner Erinnerung. An der Straße entlang großblättrige Bäume, in den Durchsichten dichte Büsche und sattes grünes Gras. Die angrenzenden Gebäude, als waren sie weit weg. Dabei lag das Kaufhaus am Rand der Kölner City. Nur zehn Minuten zu Fuß bis zum Dom. Es war Mai, bisher ein verregneter Mai. 

Er fuhr seinen Volvo in die Hochgarage. Mit der Plastikkarte, die man ihm geschickt hatte, ließ sich die Schranke problemlos öffnen. Er fuhr ganz nach oben. Den Wagen stellte er auf den weiß markierten Chefparkplatz, direkt neben dem Aufzug. Noch eine Station bis zum sechsten Stock, in die Verwaltungsetage. Die schwere Stahltür war verschlossen, sie ließ sich nur mit einiger Anstrengung bewegen, nachdem er sie mit dem General-Schlüssel, der ihm auf seinen ausdrücklichen Wunsch ebenfalls zugeschickt worden war, aufgeschlossen hatte. 

Er durchschritt einen langen, hellen Flur. Niemand begegnete ihm. Auch im Sekretariat, am Ende des Flurs, war noch niemand. Die Tür zu seinem Büro ließ sich mit dem General-Schlüssel ohne Schwierigkeiten öffnen. Dahinter präsentierte sich der beeindruckend großzügige und helle Raum, von dem man ihm erzählt hatte: Das Chefbüro mit der riesigen Glaswand. 

Der Blick über den Rhein war atemberaubend. Er fühlte sich, als wäre er auf eine Aussichtsplattform getreten. Einige Sekunden ließ er sich von der überwaltigenden Flußlandschaft gefangen nehmen, bevor er seinen Blick losreißen und sein neues Büro näher in Augenschein nehmen konnte. Vor der hinteren Wand ein dunkler, mächtiger Schreibtisch, der gleichwohl eher verloren wirkte. Der Flat Screen des Computers ragte an der rechten Seite des Tisches auf. Dahinter ein imposanter Chef-Sessel, der an der bedeutenden Position seines Besitzers keinen Zweifel ließ. 

Noch gelang es ihm indessen nicht, dem Rhein-Panorama ganz zu entkommen. Es dominierte alles andere, drängte in den Raum und bannte für Minuten seine Aufmerksamkeit. Der leichte Wind kräuselte die Oberfläche des Wassers; unter diesiger Morgenluft bot sich ihm der Anblick eines silbern irisierenden, gen Norden treibenden Flußes. 

Endlich ließ der Rhein seinen Blick los; er wandte sich wieder dem Interieur des Büres zu. Schwarze Bezüge auf den Sesseln und dem Sofa, die vorn rechts einen niedrigen Besuchertisch umrahmten. Weiches Leder in futuristischen Stahlkonstrukten. Der Tisch mit einer bräunlich getönten, schweren Glasplatte, die von einem verchromten Rahmen getragen wurde. Man sah dem Ensemble das Kostspielige auf den ersten Blick an. 

Er schritt daran vorbei und setzte sich an seinen neuen Arbeitsplatz, in den Schreibtisch-Sessel mit mehr als kopfhoher Rückenlehne, stellte die Aktentasche vor sich hin, sah sich um. Alles clean, nirgends Bilder, keine auffälligen Accessoires, nur eine große Zimmerpalme vorn rechts in der Ecke. Links das sprossenlose Fenster über die ganze Breite und Höhe der Wand, dahinter die eher unspektakuläre rechtsrheinische Skyline; vorn in der Mitte die Tür zum Sekretariat: gediegene Qualität; edles Holz, dunkel gebeizt, prägnante Maserung. Die rechte Wand eine leere helle Fläche, geteilt in ihrer Mitte durch eine zweite Tür, ebenfalls dunkel und gediegen. Zu seinem Bad mit Ruheraum und von dort ins Treppenhaus führe sie, so hatte man ihm gesagt. Später. 

Er erhob sich und trat wie von einem Magneten gezogen wieder an das riesige Fenster zur Linken. Unten die vierspurige Uferstraße, dahinter der mächtige Fluß. Er liebte den gleichgültig dahintreibenden Strom, die unaufhaltsamen grünbraunen Wassermassen. Auf der anderen Seite die Ansicht von Köln-Deutz mit dem Messeturm. Der Verkehr floß mäßig. Er betätigte einen vorn an der Wand angebrachten Schalter: geräuschlos senkte sich außen eine Jalousie über das Fenster; ihre Lamellen ließen sich auf- und abblenden. Es machte ihm Spaß, ein wenig damit zu spielen. 

Er setzte sich wieder hinter den ausladenden Schreibtisch, öffnete die Tür rechts, die leeren Schubladen links. Hinter der Tür ein Rechner. Er schaltete ihn ein und blickte auf den Screen. Ein paar metallische Geräusche, ein albernes Begrüßungs-Jingle, dann der mählich aufwachsende, goldene Schriftzug: ,,Prestige“. Nach einigen Sekunden wurde ein Paßwort verlangt. Er zuckte die Schultern. Ein Paßwort hatte man ihm nicht geschickt. Das schmale Schubfach in der Mitte des Schreibtisches war verschlossen. Er hatte keinen Schlüssel dazu. Er wandte sich ab. 

Leichte graue Schatten an den Wänden, wo bis vor kurzem wohl noch Bilder gehangen hatten. Sie fielen ihm jetzt erst auf. Er überlegte einen Moment und beschloß, demnächst wieder nur die Schottland Fotos aufzuhängen, die er selbst aufgenommen, entwickelt und vergrößert hatte. Zwei Bilder von den Hebriden, eines von Staffa; chamois. Zuerst mußten die Wände neu gestrichen werden. 

Er ging ins Sekretariat. Alles ordentlich aufgeräumt, einer der beiden Schreibtische wirkte unbenutzt. Der andere war wohl der Arbeitsplatz von Frau Zimmer, seiner Sekretärin. Edith Zimmer. Ihre Stimme kannte er vom Telefon. Sie sollte recht attraktiv sein, hatten ihm Kollegen berichtet, attraktiv und tüchtig. 

Er hängte seinen hellen Bugatti-Sommermantel in die Schrank Garderobe, richtete die hellblaue Krawatte. Einige Sekunden betrachtete er sich im mannshohen Spiegel, zog die Hose seines anthrazitfarbenen Anzugs hoch, knöpfte das Jackett zu. Er drehte sich auf den Hacken seiner italienischen Slipper ein paarmal hin und her, prüfte den Sitz der Kleidung, schien mit seiner noch immer einigermaßen schlanken, aufrechten Gestalt ganz zufrieden. Dann strich er sich über den spärlichen Rest seines graublonden Haupthaares, seufzte und wandte sich vom Spiegel ab. 

Die anderen Wandschränke waren verschlossen. Die Blumen auf den Fensterbänken fielen ihm auf: blütenlose, großblättrige Pflanzen. 

Überall diese Sauerstoff-Ideologie, flüsterte er. 

Er wandte sich um, ging in sein Büro zurück und zog die Tür hinter sich zu, blickte wieder auf die Rheinseite gegenüber. De scheel Sick, so nannten sie die Kölner. Daran erinnerte er sich gut. Und an die Seilbahn, die über den Rhein vom Zoo aus in das Gelände der Bundesgartenschau führte. Über den Fluß und über die Autobahn. Man sah sie manchmal in Fernsehfilmen. Und an die Messehallen erinnerte er sich, an die Deutzer Brücke, die Zoobrücke, die Flora. An seine kleine Wohnung in Rodenkirchen, im Maler-Viertel. An das unscheinbare Restaurant beim Weisser Kapellchen. 

Er hatte gern hier gelebt, drei Jahre und ein paar Monate. Später war er häufig zu seinem Vergnügen hergekommen, meistens für einige Tage. Minutenlang hing er seinen Gedanken an die Zeit der Lehre nach, deren Beginn nun auch schon, wieviele Jahre? – mehr als fünfunddreißig Jahre zurücklag. 

Er atmete tief durch. 

Hätte ich mir nicht träumen lassen, dachte er, heute, mit fünfundfünfzig, nach Köln zurückzukehren. 

Achselzuckend wandte er sich zu seinem Schreibtisch um. Er nahm ein ledernes Portefeuille und ein flaches Notebook aus der Aktentasche, legte beides vor sich hin. Wohin mit der Tasche? Er verstaute sie neben dem Rechner hinter der Schreibtischtür. 

Dann setzte er sich und zog seine Taschenuhr vor. Kurz nach sechs. Eine Stunde etwa würde noch Zeit sein, bevor Frau Zimmer und nach und nach die anderen kamen. Noch kein Putz-Personal. Seltsam. 

Er öffnete das Portefeuille. Obwohl er seinen Vertrag und die Nebenabmachungen bestens kannte, überflog er alles noch einmal, legte das Dokument dann in eine der Schubladen. Er rüttelte wieder an dem Schubfach in der Mitte, es ließ sich auch mit Gewalt nicht öffnen. Der Flat Screen fragte immer noch nach einem Paßwort, das er nicht kannte. 

Dann klappte er sein Notebook auf und schaltete es ein. Er befaßte sich mit den Bilanzen. ,,Prestige“ Company, Department Cologne, stand über den Dokumenten, golden auf beige. Derselbe edle Schriftzug wie auf dem Flat Screen. Er blätterte von einer Seite zur anderen. Die Umsatzentwicklung der letzten Monate war stetig abfallend, auch das wußte er. Die einzelnen Abteilungen hatten allerdings sehr unterschiedliche Plus- oder meistens Minus-Raten. Wo unbedingt sofort Korrekturen nötig waren, hatte er schon gestern im Hotel dicke gelbe Markierungen angebracht. Außerdem war beim Einkauf zu rationalisieren, ja, dort vor allem. Er hatte schon recht konkrete Vorstellungen, auch zum Personal. 

Heute zuerst einmal die Besichtigung.

Herrn Doktor Anton Friedes‘ nähere Inaugenscheinnahme und Diagnose, murmelte er und grinste. Der sächsische Genitiv war schon immer seine ironische Spezialitat gewesen. 

Danach Gespräche mit den leitenden Angestellten und dem Betriebsrat. Ab morgen dann die Analyse der einzelnen Abteilungen. 

Auf Frau Zimmer war er gespannt; auf sie wäre Verlaß, hieß es. 

Einen neuen Assistenten wurde er vielleicht brauchen. Den bisherigen hatte er noch von London aus in die PR-Abteilung zurückversetzt. Woher ihn Kalkmann, sein Vorgänger, vor anderthalb Jahren geholt hatte. Er wollte von Anfang an seinen eigenen Stil durchsetzen, möglichst keine Altlasten. Allerdings wollte er sich mit dem Assistenten Zeit lassen; man würde sehen. 

An Personalabbau dachte er nicht. Vorerst. Unter anderem durch personelle Verschlankung hatte Kalkmann die Kosten zu senken und die Bilanz zu verbessern versucht. Es war ihm nicht gelungen; er hatte die guten Leute gehen lassen, die anderen waren geblieben. Deshalb mußte er bald selbst seinen Posten räumen. Nun machte die Konzernleitung einen neuen, vielleicht den letzten Versuch und schickte ihn, Anton Friedes, als trouble shooter aus London nach Köln. 

Es ging um eine radikale Sanierung. Auch die Schließung des Nobelkaufhauses hatte zur Debatte gestanden. Ob es mit seiner jetzigen Angebots-Palette in die Zeit paßte, stand durchaus dahin. Nach wie vor. 

Noch einmal was Neues machen. Er hatte es sich zwar ein paar Tage lang überlegt, aber dann doch freudig zugesagt. Trotz oder wegen des Risikos. Weg aus der Zentrale, wo er für das weltweite Controlling zuständig gewesen war. Greta – er nannte sie seine Frau, obwohl sie nicht verheiratet waren – hatte ihm ihre Skepsis nicht verschwiegen, seine Entscheidung aber akzeptiert. 

Köln, das war eigentlich immer seine Stadt gewesen. Auch wenn er seit der Lehre stets nur auf Besuch hierher gekommen war. Sozusagen. Vor allem in den Jahren mit Gisela; damals war er regelmäßig zwischen Düsseldorf und Köln gependelt. Und obwohl er sich langst nicht mehr als Deutscher, sondern als Europäer fühlte.

Er schüttelte den Kopf, lächelte ein wenig, kehrte mit seinen Gedanken zu den Bilanzen der einzelnen Abteilungen zuruck. ,,Prestige“ war ein Kaufhaus für die gehobene und höhere Kundschaft. Ihr mußte man etwas Besonderes, etwas Originelles bieten, um im Konkurrenzkampf überleben zu können. Exklusiven Lifestyle, edle Kosmetika, teure Kleidung. Einige auffällige Extravaganzen gehörten ins Angebot, er dachte an gediegenes schottisches Outfit für Männer, an italienische Mode oder neue Designer-Modelle für Frauen. Ausgefallene Kollektionen. Vielleicht auch die Vermittlung von Nobel-Karossen. Morgan oder Aston Martin zum Beispiel. Nichts jedenfalls, was man anderswo ähnlich gut oder gar in besserer Qualität und in größerer Auswahl bekommen konnte. Der Preis spielte eigentlich nur die zweite Rolle. 

Der gesamte Food-Bereich machte ihm Sorgen; schon der Name Feinkost-Abteilung schien ihm eher abschreckend. Der Umsatz hatte sich in den letzten drei Jahren nahezu halbiert, man schrieb tiefrote Zahlen. Kalkmann hatte das Personal reduziert und das Angebot verringert, es hatte nichts genutzt. Friedes trug sich mit dem Gedanken, die ganze Abteilung zu schließen. Auch wenn sie vorzügliche Malt Whiskys führte, wie er bei Durchsicht der Produktlisten festgestellt hatte. Außerdem wurde sie von einem Engländer geleitet, James Fox. 

Eigentlich seltsam, daß sie trotzdem nicht prosperiert, murmelte er grinsend. 

Und die Abteilung für Unterhaltungselektronik, sie war genauso problematisch. Mindestens. Wenn überhaupt, dann ging hier nur etwas mit Hilfe radikaler Modernisierung. Exklusive aktive und interaktive Systeme. Ausschließlich digitale Produkte. Ein Kollege aus der Oxford Street hatte Friedes gute Hinweise gegeben. Das analoge Zeitalter ist tot, hatte er gesagt. Er dachte an die Kooperation mit einem Bonner Outsider, einem Geheimtip unter Kennern. Bang & Olufsen jedenfalls war passé, absolut. 

Die Textil-Abteilungen immerhin machten Gewinn wenn auch in Maßen; darauf konnte man aufbauen. Dann gab es da noch die travel agency, das Reisebüro. Nobel-Reisen an besondere Platze der Welt, edle Hotels. Abenteuer-Safaris, Schiffspassagen, Kreuzfahrten. Eine streitbare Junge Frau leitete die Abteilung seit knapp zwei Jahren, Melina Kostas. Er hatte von ihr gehört, von ihren eigenwilligen Praktiken und daß sie nicht gerade beliebt war bei der Belegschaft. Die Umsätze hatten inzwischen stetig ansteigende Tendenz. Sie hatte die agency mit Phantasie und harten Ellbogen aus der Krise geholt. 

Wenigstens etwas Erfreuliches, dachte Friedes. 

Sie war die einzige Frau in der Führungsetage. Und dazu eine mit originellen Ideen. Die von ihr neu eingerichtete Joseph Conrad Corner für Ozean-Safaris hatte international von sich reden gemacht. Auch der Name war ihre Idee gewesen. Sie hatte vor allem mit attraktiven special offers den Niedergang des Reise-Geschaftes stoppen und mählich in die Gewinnzone steuern konnen. Das sprach für sie, absolut. Auch wenn sie ihre Mitarbeiter nicht gerade mit Samthandschuhen anfaßte, wie es hieß. 

Mit einem agressiveren Marketing mußte sich hier noch wesentlich mehr machen lassen, überlegte er, act local, go global oder so. 

Er hatte ziemlich genaue Vorstellungen von seinen ersten Maßnahmen. Nicht nur rationalisieren, sondern vor allem Innovatives fördern. Die Kreativitat anregen. Darum ging es. Nur die richtigen Mitstreiter mußte er noch finden. Abbauen, was keine Zukunft hat, zulegen bei imagefördernden Angeboten. Und Mut zum kalkulierten Risiko. Und viel mehr Power für die publicity. Alleinstellungsmerkmale entwickeln; imagebildende Produkte kreieren und sie mit Phantasie bewerben. 

So stellte er sich die Sanierung vor.