Leseprobe – Krebsgang

Es wäre schwierig gewesen, nach allem eine stinknormale Tagesordnung abzuarbeiten.
Weil sich keine andere Möglichkeit ergab, vielleicht auch weil er keine Lust mehr hatte, weiterzusuchen, nahm er das Engagement bei der Heinz Klunckert Combo an. Der Chef, Kluncki genannt, war ein routinierter Akkordeonist und Klavierspieler, der gewöhnlich alles im Griff hatte und aufpaßte, daß keiner von seinen Musikern aus der Reihe tanzte. Er war seit Jahren im Geschäft, machte aber über das Riverboat hinaus in der Musikszene kaum noch von sich reden. »So, du willst also Profimusiker werden?« hatte er Capriccio gefragt, »mit dem Namen solltest du dich lieber als Clown bewerben. Bist du Italiener?« »Nein, ich bin Deutscher. Mein Vater ist Italiener, Sie kennen ihn vielleicht. Aber wo der sich jetzt rumtreibt, weiß ich nicht. Saxophonspielen hab’ ich noch von ihm gelernt, dann ist er abgehauen.« »Ist dein Alter denn auch Profi?« »Ja, er nannte sich Cappo.« »Ach, der! Der also! Na ja, kannste ja nix für, für den Namen und für deinen Alten. Und du? Haste überhaupt schon mal in ’ner Kapelle gespielt?«
Gino hatte keine besonders beeindruckenden Engagements vorzuweisen. Nur Schülerbands, ein bißchen Rock und Jazz; was den Spott des athletischen Akkordeonisten verschärfte. » Beim Sprung vom Amateur zum Profi stürzen die meisten ab«, sagte er. Immerhin durfte Gino vorspielen. Wenn Klunckert auch ziemlich sarkastisch und zynisch geworden war im Laufe der Jahre: ob einer ein guter Musiker war, das hörte er mit dem linken Ohr. Er engagierte den unbekümmerten schwarzhaarigen Jungen vom Fleck weg. »Mit dem Sax kannste ja umgehen«, sagte er, »das ist nicht zu überhören. Aber hoffentlich biste kein Träumer oder so, kein Bruder Leichtfuß wie dein Alter. Wenn ich dir so in die Augen kucke …« Gino lief rot an. Die Gage war lächerlich, aber er versuchte nicht zu handeln. Was sollte er weitersuchen, wenn er hier einen Job haben konnte. Hauptsache ein Job. Wozu brauchte er schon Geld dachte Gino. Er kam mit wenig aus. Und Klunckert gefiel ihm irgendwie, von Anfang an.
»Heino, wir haben einen Neuen«, schrie der Chef, »Gino heißt er. Erzähl’ ihm mal ’n bißchen und sag’ ihm, wo’s lang geht. Tenor-Sax für’s erste. Noten kann er. Sagt er wenigstens. Fühl’ ihm mal ein bißchen auf den Zahn und mach’ ihn fit, daß er am besten gleich heut’ Abend einsteigen kann.«
Heino war ein dünner, unendlich langer Gitarrist, der eine RothHändle nach der anderen rauchte. Mit fünfundvierzig hoffte er immer noch auf den Durchbruch als Picking-Star. Er blickte gelangweilt, aber nicht ohne Neugier, und legte die Fender Stratocaster beiseite. Seine Augen waren erstaunlich jung geblieben. »Komm, gehen wir mal backstage.«
Gino nahm im stickigen, fensterlosen Kabuff hinter der Bühne mit Heino das aktuelle Programm durch. Es war nicht besonders anspruchsvoll. Die üblichen Tanzmusik-Arrangements, die er von seinem Vater kannte. »Paß’ etwas bei den Louis-Prima-Nummern auf«, sagte Heino, »da setzt sich Kluncki gern ans Klavier und singt. Seine ganz persönliche Nostalgie. Wir müssen die Stücke dann eine Tonart tiefer spielen. Er kommt nicht mehr so hoch rauf mit seiner Stimme. Dafür wird sie von Jahr zu Jahr bluesiger.« »Und die anderen Bläser?« fragte Gino, »welche sind das?« »Es gibt nur noch einen, Trompete«, antwortete Heino achselzuckend, »der kommt erst kurz bevor’s losgeht. Gibt nachmittags Stunden. Anton heißt er. Er spielt gut, aber nur die ganz normalen Melodie Sätze. Kaum Improvisation. Dürfte für dich kein Problem sein, mit ihm zusammenzuspielen. Kannst du auch Posaune?« »Bißchen, aber nicht gut genug.« » Wär’ nicht schlecht, wenn wir noch ’ne Posaune hätten. Wir hatten eine bis vor ’nem Vierteljahr. Der Typ ist dann leider ausgestiegen, weil die Kohle nicht reichte.«
Gino blätterte in den Noten. Heino hockte unter einem Jimi Hendrix- Poster und improvisierte auf einer akustischen Gibson. Manchmal blickte er mit flinken Augen verstohlen nach dem jungen Saxophon-Spieler. »Du spielst gut«, sagte Gino, »wo haste das gelernt?« Heinos Züge hellten sich auf. »Naja, paar Jährchen Konservatorium und dann tägliche Praxis. Seit fast dreißig Jahren.« »Biste schon lange bei der Combo?« »Kluncki und ich, wir sind die beiden letzten aus der Ur-Besetzung. Die andern sind mit der Zeit abgesprungen oder so.« »Und wann habt ihr angefangen?« »Werden bald zehn Jahre, im Oktober.« »Und immer hier im Riverboat? « »Nee, nee. Wir haben’s auch anderswo versucht. Sogar in Amsterdam und Berlin. West-Berlin damals noch. Lief zeitweise ganz gut, vor allem, als wir Anja dabei hatten, als Sängerin. Die hat den Sprung geschafft. Wir sind immer wieder hierher zurück.« »Und jetzt?« »Tja, und jetzt werden wir wohl erstmal hier bleiben. Kluncki versucht immer mal was, aber gute Engagements sind schwer zu kriegen. Mal sehn, vielleicht kuck’ ich mich auch nochmal um. Und du? Warum kommst du zu uns?« »Na ja, irgendwas mußte ich machen. Und ich kann nichts außer Musik, vor allem Saxophon, Klarinette und ’n bißchen Posaune. Hab’ sonst nichts gelernt.« »Und willst gleich Profi werden?« »Warum nicht? Wenn’s geht.« »Hartes Brot, mein Lieber. Denk an Charly Parker. «
Die Tanzfläche war mäßig gefüllt. Mittelalte Pärchen schoben im Rhythmus der Musik hin und her. So stell’ ich mir die fünfziger Jahre vor, mußte Gino denken. Das Riverboat gab es schon solange er sich erinnern konnte. Sein Vater hatte nur Spott dafür übrig gehabt. Palast der einsamen Herzen hatte er es immer genannt und laut dabei gelacht. Als ob es tief unter der Würde eines richtigen Musikers wäre, dort zu spielen. Für die Jugendlieben hatte das Riverboat auch was Anrüchiges, irgendwie Unanständiges – und deshalb Reizvolles. Dort trafen sich ältere Semester, um jemand zum Bumsen aufzureißen, so hieß es. Deshalb verboten die Eltern ihren Kindern, im Riverboat zu verkehren.
Die Tanzfläche und die kleinen runden Tische an ihrem Rand waren nur spärlich beleuchtet. Im Halbdunkel fiel das schäbige, abgewetzte Parkett kaum auf. Die hohe Theke im Hintergrund hatte einen Himmel aus blau gestrichenem Holz mit vielen unterschiedlich großen Strahlern als Sterne. Die Farbe war verblaßt , blätterte hier und da ab. Vereinzelt hockten Männer vor der Theke. Sie hatten sich umgedreht und beobachteten das Treiben auf der Tanzfläche. Die meisten Tänzer trugen Anzug und Schlips. Die Kleider der Damen waren tief dekoltiert.
Bei Buena Sera Signorina setzte Kluncki sich tatsächlich ans Klavier. Der Bläsersatz haute nicht ganz hin. Anton wechselte plötzlich in die Terz. Gino mußte ein paar Takte lang improvisieren. Vielleicht wollte Anton ihn ärgern, dachte Gino. Der Schlagzeuger Jan, ein schwindsüchtiger Blondschopf undefinierbaren Alters, der stets mit weit offenem Mund wie ein Fisch nach Luft schnappte, spielte mit den Besen. Auf dem Parkett wußte man nicht so richtig, ob die Musik zum Schmusen oder zum Auseinandertanzen war. Da muß mehr Schwung rein, ich muß irgendwie sehen, daß ich ’ne flotte Posaune besorge, dachte Gino. Eine Posaune, die ein bißchen Pep in die allzu artige Musik brächte.
Gino röhrte mit seinem Sax, was das Zeug hielt. Er war selbst verwundert, woher er soviel Luft hatte. Anton beschränkte sich darauf, sparsam zu akzentuieren. Kluncki war angenehm überrascht; er strahlte wie eine Geburtstagstorte und nickte Gino vom Klavier aus aufmunternd zu. Heino trat ans Mikro, um zusammen mit Mecki, dem dicklichen Bassisten, die Background-Voices zu machen. Gino spielte sich in Begeisterung. Er spürte, wie die anderen, sogar Jan, langsam wach wurden und mitmachten. Die Musik wurde flotter, er trieb sie mit seinem Sax nach vorn.
Auf der Tanzfläche hatte sich die Mehrzahl für Auseinander entschieden. Die Männer an der Theke horchten auf und blickten erstaunt nach der Kapelle. Gino war in Form. Er hängte noch ein Solo dran. Die tiefen, sonoren Töne pulsierten durch den ganzen Raum und nisteten sich im Zwerchfell der Zuhörer ein. Der Barmixer mit dem länglichen Pferdegesicht und den geölten Koteletten vergaß, sich um seine Gäste zu kümmern. Er stützte die Ellbogen auf die Theke, zündete sich eine Zigarette an und starrte mit ungläubigen Glotzaugen in das Glitzerlicht der Bühne. Der stürmische Beifall holte das alte Riverboat raus aus den trägen, sumpfigen Niederungen der Apathie, an deren Ufer es seit Jahren vertäut war. Einige pfiffen begeistert auf den Fingern. Die Damen schienen um mindestens zehn Jahre verjüngt. Das Dämmerlicht über dem Parkett leuchtete viel freundlicher als sonst.
Kluncki zwinkerte Gino lebhaft zu; er wollte unbedingt auch noch den Gigolo bringen. Heino konnte ihn nur mühsam davon abhalten. »Denk’ an deine Stimme«, sagte er, »erhol’ dich erstmal. Dann können wir ihn vielleicht zum Schluß noch machen.« Kluncki hängte sich also wieder das Akkordeon um und gab den Ton an für Marina.
Es ging alles ganz leicht. Die Heiterkeit der Musik verleitete Jan zu kleinen Albernheiten. Er drehte die Stöcke um und hämmerte keuchend ein Tom-tom-Solo zum Abschluß von Ice-Cream runter, mit dem keiner gerechnet hatte. Die Pärchen auf der Tanzfläche stellten das Tanzen ein und brachten standing ovations. Das Riverboat erlebte einen schwerelosen Abend und schwebte wie ein Raumschiff durch die graubraunen Sirup-Nebel über der schlierigen Wasseroberfläche. » Der Umsatz an Bier und Schampus ist anständig gestiegen, so kann’s bleiben.« Das waren die Worte des Geschäftsführers, der kurz den Kopf in ihr Kabuff steckte. »Junge, Junge«, sagte Kluncki, »Junge, Junge!«
Gino war kein bißchen müde. Er schlenderte durch die Sommernacht und hörte den Heimchen zu, die in den Ufergehölzen des Flusses zirpten. Sollte er nach Hause gehen? Zur Mutter? Wieder dieselben Ausreden? Allmählich legte sich so etwas wie angenehme Schlappheit über die Bewegungen seines Körpers. Er ruhte auf einer Bank aus. Warum nicht, dachte er, warum sollte er nicht nach Hause gehen. Er hatte ihr versprochen, sich Arbeit zu suchen, und das hatte er getan. Sie wollte nicht, daß er Musiker wurde, nicht wie der Vater. Er sollte einen anständigen, bürgerlichen Beruf haben und kein Rumtreiber werden. Das war ihr größter Wunsch. Gino holte tief Luft, dann erhob er sich und schlug den Weg nach Hause ein. Er pfiff Buena Sera Signorina. Die Combo gefiel ihm. Sicher: alles keine Genies, wie sein Vater eines war. Aber solide und routiniert. Er würde viel lernen können. Und Kluncki schien ihn machen zu lassen. Kluncki gefiel ihm, und er schien Kluncki zu gefallen.
Die Häuserklötze hoben sich bedrohlich duster gegen den Sternenhimmel ab. Er ging einen kleinen Umweg, weil er wissen wollte, ob die Lila Eule noch geöffnet hatte. Dort hatte der Vater gespielt. Bis er plötzlich weg war, ohne eine Nachricht. Und unter mysteriösen Umständen. Gino trug seitdem seine Kleider auf. Sie waren ihm etwas zu weit, aber langsam wuchs er rein. Das orangefarbene Licht schimmerte hinter den kleinen Butzenscheiben. Sie waren mit dicken schmiedeeisernen Gittern gesichert. Er blieb einen Moment vor der Tür mit dem Guckloch stehen. »Bitte klingeln« stand über dem Messingknopf. Der Vater hatte seiner Frau immer streng verboten, sich hier blicken zu lassen.
Vorsichtig schloß Gino die Tür zu dem großen, hellhörigen Mietshaus auf. Das Licht hatte er nicht angemacht. Er schlich die Treppen hinauf. »Gino?« Eine Mädchenstimme. Seine Schritte stockten. »Was willst du, Ursel? Warum schläfst du nicht?« »Hat es geklappt mit der Arbeit?« »Ja, ja, ich hab’ was gefunden.« »Und was? Was Ordentliches?« Ein Mädchen in Jeans und Pullover trat aus dem Dunkel und umarmte ihn. Sie stand auf den Zehenspitzen mit ihren weißen Turnschuhen, preßte ihren Körper dicht an den seinen und drückte ihm eilige Küsse auf den Mund. »Komm’ mit, du mußt mir alles erz.ählen. Was ist es für eine Arbeit?« »Ich bin so müde, Ursel.« Gino versuchte ihre Arme und ihren Mund, ihren geschmeidigen Körper abzuwehren. »Komm’, wir gehen runter.« Sie faßte ihn an der Hand und wollte ihn die Treppe hinunterziehen. »Wieder in den Keller? Es ist so muffig dort.« »Aber wieso denn? Es ist doch gemütlich. Komm, erzähl’ mir alles. Ich hab’ auch gelüftet und die Decken frisch bezogen.«
»Sag’, was für eine Arbeit ist es? Ein Bürojob?« »Nein, nein, sowas nicht.« »Ja, was denn? Was Handwerkliches? Auf dem Bau oder so? Kannst du denn sowas?« »Nein, sowas kann ich nicht. Ich bin Musiker. Das weißt du doch.« »Musiker? Aber deine Mutter … Hast du etwa trotzdem …?« »Ja, ich hin bei einer Combo eingestiegen. « »Was?!« Ursel strahlte und löste ihr langes schwarzes Haar. Sie schlüpfte aus Jeans und Pullover, um Gino mit unter die Decke zu ziehen. »Toll, du bist Musiker. Ich will dich hören. Und sehen. Wo spielst du denn?« »Ach nein, Ursel, das ist nichts für dich. Da gehen nur Ältere hin.« »Trotzdem.« Er hielt ihren schönen Körper in seinen Armen, alle Müdigkeit verschwand. Er wühlte den Kopf zwischen ihre Brüste, seine Hände suchten ihre Schenkel. Sie preßte sich an ihn und löschte das Licht. »Ich wußte immer, daß die Musik dein Beruf wird«, flüsterte sie zärtlich in sein Haar.
»Nein, Mutter, ich habe wieder nichts gefunden.« Gino starrte mit glanzlosen Augen in den Kaffee. »Warum treibst du dich nur die ganze Nacht herum? Ich habe mir Sorgen gemacht.« »Ich hatte Angst, nach Hause zu kommen. Ich habe auf einer Bank am Fluß gesessen und bin eingeschlafen.« »Das stimmt doch nicht.« Die Mutter blickte ihn traurig an. »Warum hörst du denn nicht auf mich und meldest dich bei Franzinger? Der Junior hat mir versprochen, daß sie es mit dir versuchen. Sie brauchen dringend jemand, der sich um die Konzerttermine kümmert. Das wäre doch was für dich.« Gino bestrich lustlos eine Scheibe Brot. »Ich mag keine Konzerte organisieren, Mutter«, sagte er kleinlaut, »und ich mag Franzinger nicht.« »Du würdest es dort gut haben«, sagte die besorgte Frau, durch deren üppiges braunes Haar sich graue Strähnen zogen. Ihr Sohn saugte die Luft tief ein, seufzte und blickte zu seiner Mutter empor. Er versuchte ein kleines Lächeln. »Mach’ dir doch keine Sorgen, Mutter. Ich finde schon was. Ich probier’s heute nochmal. Und wenn ich wieder nichts finde, dann gehe ich zu Franzinger.« »Versprichst du mir das?« »Ja, ich versprech’ s.«