Leseprobe – Schattenmann

Es scheint, als fänden meine Schritte ganz von allein ihren Weg durch die Stadt. Zuletzt schräg über den Parkplatz für das niedere Justizpersonal und an der Einfahrt zur Tiefgarage für Richter und Anwälte vorbei, in der man sich unterstellen kann, wenn es regnet oder schneit, dann bin ich am Ziel. Vor mir das klotzige Gerichtsgebäude. Eine breite Treppe mit einem Dutzend granitener Stufen führt hinauf zu vier ionischen Säulen, zwei rechts, zwei links. Dazwischen der breite Durchgang zur zweiflüglig massiven, von einem Pförtner bewachten Tür aus getäfeltem, dunkel gebeiztem Eichenholz. Auf dem Fries, der die Säulen verbindet, ruht der mächtige Portikusgiebel mit der in Stein gemeißelten Inschrift ,Iustitia regnorum fundamentum’. Klassizistischer Architektur nachempfunden, dominiert der gewaltige Bau die umliegenden Bürgerhäuser aus der Gründerzeit. Ein Solitär inmitten seiner sich um ihn scharenden Vasallen. Die Verzierungen am Portikus und die blütenförmigen Kapitelle ein verspielter Nachhall der Romantik. Gleichwohl drängt das Frontgeviert des Justizpalastes wie ein drohendes Fanal auf mich ein. Vergitterte Fenster im Tiefparterre lassen an Hundezwinger denken, an Kettenhunde, vor denen man besser auf der Hut ist. 

Auf der anderen Seite, jenseits der großzügigen Zufahrt zum Palast, hat man einen kleinen, von Bäumen und Bänken gesäumten Park angelegt. Es ist April. Narzissen und Gänseblümchen recken ihre Blüten der mild wärmenden Sonne entgegen. Ich setze mich und starre zum Gerichtsgebäude hinüber. Ein paar Gedichtzeilen fallen mir ein: „April ist der grausamste Monat, er treibt / Flieder aus toter Erde, er mischt / Erinnern und Begehren er weckt / Dumpfe Wurzeln mit Lenzregen.“ – Neben mir hat sich ein junger Mann mit seinem Zeichenblock niedergelassen. Erste Striche markieren den Umriß des steinernen Kolosses. Im neunzehnten Jahrhundert, so habe ich es vor Zeiten irgendwo gelesen, begannen die Bürger im neu erwachten Bewusstsein ihrer ökonomischen Bedeutung Gebäude zu errichten, die den monumentalen Sakralbauten der christlichen Jahrhunderte in nichts nachstehen sollten. Rathäuser, Museen und Justizpaläste vor allem. Sie gaben Zeugnis von der schwindenden Macht der Kirchen und dem allmählichen Sieg aufgeklärten, säkularen Denkens. Das Bürgerliche Gesetzbuch stellte sich der Bibel an die Seite, ja, begann ihre Gebote zu verdrängen. In Brüssel, so hieß es beispielhaft, habe man ein majestätisches Palais de Justice errichtet, das den römischen Petersdom übertrumpft. 

Es ist nun schon Jahrzehnte her, dass ich zum letzten Mal im Innern des Gebäudes zu tun hatte. Zu tun – das ist eigentlich ein Euphemismus. Ich war angeklagt zweier Delikte wegen. In einem Fall wurde ich mangels ausreichender Beweise frei gesprochen, im andern aber aufgrund eindeutiger Indizien zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Fragen Sie mich bitte jetzt nicht nach den Einzelheiten meiner strafbaren Verfehlungen. Auch zu meiner Zeit im Gefängnis, zu den Erinnerungen an meine Haft, die ich bald nach der Verurteilung anzutreten hatte, bitte ich mich heute ausschweigen zu dürfen. Vielleicht komme ich später noch darauf zurück. Für den Moment aber möchte ich anderes in die Waagschale legen. 

Ich fahre nicht mehr so oft in die Hauptstadt wie früher. Je älter ich werde, desto häufiger erspare ich mir die Mühe, von meiner abgelegenen Wohnung in den Bergen den weiten Weg hierher auf mich zu nehmen. Wenn es aber einmal unumgänglich ist oder wenn mich doch noch die Reiselust in den städtischen Trubel führt, finden meine Schritte, als wären sie fremd gesteuert, stets unversehens den Weg in Richtung Justizgebäude. Auch Besorgungen, die ich an anderer Stelle in der Stadt zu verrichten habe, können mich davon nicht abhalten. So wie heute sitze ich dann meist hier auf der Bank, dem Moloch gegenüber, und hänge meinen Gedanken nach. Gedanken, die ich mich sonst abzuschütteln bemühe. Nein, nicht nur den Erinnerungen an meine kriminelle Vergangenheit. Vor allem den Fragen, wie und warum alles kam wie es gekommen ist und wie es sich jetzt darbietet. Wo vielleicht die Ursachen liegen, die Vorgaben und Muster meiner Existenz, meiner Lebensführung. Es heißt, die in seiner frühen Kindheit entwickelten Anlagen werde der Mensch sein Leben lang nicht mehr los. Sein Erbgut so wenig wie die unbewußt erfahrene Sozialisation. Auch wenn es gar nicht danach aussehe. – Bilder scheinen plötzlich in meinen Gedanken auf, die aus meiner Jugend, meiner Kindheit stammen, die aber auch den Anschein von Schablonen meiner derzeit prekären Verhältnisse haben. Und ich weiß, daß einige von ihnen Auskunft geben können über die Genesis meiner aktuellen Lebensansicht. Über einen Lebensweg abseits materieller Not zwar, aber unter der Bürde kopflastiger Bedrängnis und täglich im Zaum zu haltender Fragen nach Schuld und nach Verantwortung für Tod und Elend. 

Der Strafprozeß damals, die Tage, an denen vor Gericht verhandelt wurde, sind so etwas wie meine Achsenzeit. Jedenfalls empfinde ich es heute so. Heute und schon seit einigen Jahren. Seit ich meine, dass mir einiges über mein Leben klarer geworden ist. Ohne freilich sicher zu wissen, dass ich diese Klarheit wirklich gewonnen habe. Nicht ausgeschlossen, dass ich mir manches nur willkürlich zusammenreime. Jedenfalls scheint mir, dass die Zeit vor der Verhandlung sich von der Zeit danach deutlich unterscheidet. Als wäre eine verschwommene Unschärfe ausgeblendet worden. Nein, nein, ich spreche nicht von einer läuternden Wirkung, die vom Richterspruch ausgegangen wäre, auch nicht von Reue, die ich vielleicht plötzlich empfunden hätte. Der Grund für das nunmehr womöglich transparentere Lebensbild liegt wohl vor allem in einem gegenseitigen Gewahrwerden, das bei der Verhandlung gar nicht zur Sprache kam und nur mich und mein Opfer betraf, wohl nur auch für Angeklagten und Kläger wirklich wahrnehmbar war. Wie ein Blitz, dem der Donner geistiger Verwirrung, ja, lähmender Hilflosigkeit folgte. Nach dem Gewitter aber entpuppte sich ein glasklares Lebensbild, vielleicht auch nur seine Illusion. Das Wiedererkennen, zugleich das Innewerden lange verdrängter Schuld fuhr mir, und vermutlich auch meinem Gegenüber, schlagartig in Hirn und Glieder. So jedenfalls empfinde ich es von Jahr zu Jahr eindringlicher. Und dieses Empfinden bildet den Nährboden für jene Bilder in meinem Kopf, für das schmerzlich grell aufscheinende Geschichten-Patchwork, das Geflecht von Kausalitäten, zu dem mir die Metaphysik meines Lebens seither geraten ist. 

Ich weiß, das alles klingt allzu kryptisch, auch kann man meine Worte leicht als Ausgeburten einer allzu lebhaften, überdrehten Phantasie interpretieren, einer neurotischen Veranlagung vielleicht sogar. Aber ich hoffe ihre Bedeutung aufklären zu können, wenn ich mit meinen Geschichten über abgründige Umstände und schuldhafte Situationen, auch über die Verwurzelung meines Lebens im mentalen Nährboden meiner Familie zu berichten versuche. Über Umstände und Prägungen, deren Einfluß auf mein Denken und mein Verhalten mir erst nach der besagten Achsenzeit vollends bewußt wurde. Ohne dass ich diesen Einfluß allerdings systematisch feststellen und erläutern könnte; Widersprüche, tatsächliche und vermeintliche, kann ich wohl auch nicht vermeiden. Und doch bin ich mir sicher, dass ich die Herkunft meiner Ansichten und Absichten nachzeichnen kann und dass die wenigen Stunden im Angesicht meines Opfer-Gegenübers wie ein Initial gewirkt haben. Übrigens, das scheint mir wichtig zu sein, sind die Begriffe von Gut und Böse, von Richtig und Falsch, Rechtschaffen und Niederträchtig auf meine Erinnerungen und Geschichten nicht anwendbar. Auch wissenschaftlich erforschte Erkenntnisse über die Tiefenstruktur unseres Bewußtseins tragen nur wenig zur Entschlüsselung meiner Lebensbilder bei. Wohl aber präsentieren sie sich nun, diesseits der Achsenzeit, bedrückend aufdringlich. Wie unter einem Mikroskop in eine überlebensgroße Dimension gerückt. 

Ich habe ganz vergessen, mich vorzustellen: Franz Ottokar Niembsch ist mein Name, Kurzform Otto Niembsch. Damals, bei der Verhandlung, war ich Anfang Vierzig, geschieden, frei schaffender Journalist und Sport-Berater. Man hatte mich wegen eines Raubüberfalls angeklagt. Wegen eines nächtlichen Überfalls auf einen Mann mittleren Alters, dem Papiere, Geld und Wertsachen geraubt worden waren. Eine durchaus zutreffende Anklage, die ich jedoch hartnäckig bestritt. Eigentlich besaß ich aus mehr oder weniger legalen Geschäften noch Geld genug. Es wäre nicht nötig gewesen, des Broterwerbs wegen eine Straftat zu begehen. Ein Zufall also, der mich an jenem späten Abend zum Räuber machte. Nicht zum ersten Mal, ich war als vorbestrafter Wiederholungstäter bei Gericht aktenkundig. 

Ich hatte mir zuhause einen Kriminalfilm und die Fernsehnachrichten angesehen. Müde war ich noch nicht, also ging ich hinaus. Ziellos, vielleicht um irgendwo noch eine Kleinigkeit zu essen und zu trinken. Unter die Pergola am Rande einer Fußgängermeile um den Dom reichte das Licht der Stadtbeleuchtung nicht. Ich ließ mich von der Dunkelheit einhüllen und blickte auf die wenigen Menschen, die drüben, unter den Lichtern des Vorplatzes noch unterwegs waren. Meist hasteten sie voran, nur einzelne schienen den flanierenden Gang zu bevorzugen. Einer von ihnen, jener Mann mittleren Alters, näherte sich meinem Beobachtungsposten. Er ging bedächtig, schien nichts Bestimmtes im Sinn zu haben. Ein nächtlicher Mußiggänger. Daß er gut und teuer gekleidet war, fiel meinem geübten Auge sofort auf. Ganz offenbar kein mittelloser Stadtstreicher. Ein dunkler Tuchmantel gegen das kühle Wetter Ende April, auf schlanke Taille geschnitten. Ohne Schal indessen, so dass der offene Kragen des weißen Oberhemdes einen hellen Fixpunkt bildete. Ich wog meine Chance, blickte umher. Niemand sonst war momentan in der Nähe. Eine gute Gelegenheit also. Ich zog den Schlagring über meine rechte Faust. Der Mann näherte sich. Als er an mir vorüber wollte, schlug ich zu. Ohne dass ich mich bewusst für den Überfall entschieden hätte. Einfach weil die Gelegenheit günstig war. Ich hatte vor Zeiten im Gefängnis gelernt, wie man jemanden fast völlig geräuschlos k.o. schlägt. Der Mann sackte sofort bewusstlos zusammen. Ich tastete nach seinen Wertsachen. Brieftasche, Portemonnaie und Armbanduhr waren schnell entwendet. Ehe er wieder zu sich kam, war ich längst verschwunden. 

Das Raubesgut und den Schlagring versteckte ich an sicherer Stelle. Statt nun rasch in meine Wohnung zu eilen, verweilte ich in einer stark frequentierten Kneipe, nicht mehr als reichlich hundert Meter vom Dom entfernt. Es machte mir Vergnügen, den weiteren Gang der Dinge von nahe gelegener Warte aus zu beobachten. Einige Zeit verstrich, bis Martinshörner erschallten. Draußen rauschten endlich ein Krankenwagen und ein Polizei-Auto vorbei, Blaulicht huschte über die Kneipenfenster. Ich bestellte ein neues Glas Bier. Wieder verging eine lange Weile, bis zwei Polizisten die Kneipe betraten. Ob jemand etwas gesehen habe, fragten sie, ob uns vielleicht jemand aufgefallen wäre, der sich auffällig benommen habe. Die Befragten zuckten die Achseln. Ein paar Neugierige erkundigten sich, was denn eigentlich geschehen sei. Die Polizisten gaben keine Antwort, blickten sich unter den Leuten um, ließen ihre Blicke hier und dort kurz verweilen, gingen schließlich wieder hinaus, offenbar ohne weitere Erkenntnisse. Mich in meiner Nische an der Theke hatten sie nur oberflächlich gemustert. Vorsichtshalber hatte ich vor Betreten der Kneipe meine Brille aufgesetzt, ein veritables Nasenfahrrad, das mein Aussehen beträchtlich veränderte. Ein Zeuge, den ich eventuell übersehen hätte, hätte mich wohl nicht erkannt. Das fast euphorische, prickelnde Gefühl, wieder entkommen zu sein, breitete sich in meinen Nerven aus, als sich die Tür hinter den Polizisten schloß. 

Erst Tage später holte ich mein Raubesgut aus dem Versteck und brachte es in meine Wohnung. Zwischenzeitlich hatte ich nichts mehr über die Ermittlungen wegen des Überfalls gehört oder gelesen1 außer dass es in der Lokalzeitung einen kurzen Bericht gegeben hatte. Danach war nichts mehr zu erfahren. Der Überfall hatte sich kaum gelohnt. Einige hundert Mark an Bargeld, eine schöne zwar, aber gewöhnliche Uhr ohne besonderen Wert und eine Kreditkarte, die nur mit PIN benutzt werden konnte, mehr hatte ich nicht erbeutet. Bei meinem Opfer handelte es sich um Dr. Anton Friedes, Geschäftsführer eines Nobel-Kaufhauses am Rande der City. In seiner Brieftasche und im Portemonnaie fand ich ein paar Fotos von einer blonden Frau, Visitenkarten, Personalausweis und Führerschein, sonst nur unwichtige Papiere. Ich behielt nur die Kreditkarte und das Geld, den Rest stopfte ich in eine Plastiktüte und entsorgte ihn in einem abgelegenen Abfallcontainer. Natürlich ohne Spuren zu hinterlassen. 

Es wäre besser gewesen, wenn ich die Kreditkarte auch weggeworfen hätte, denn als man mich einige Wochen später nach einem Überfall auf eine Vereinskasse erwischte, weil eine Zeugin mich wiedererkannt hatte, fand die Polizei die Karte in meiner Wohnung. Ich behauptete steif und fest, nichts mit dem Überfall zu tun zu haben, offenbar habe man mir die Karte absichtsvoll untergeschoben. Weil die Polizei sonst keine Indizien vorweisen konnte, wurde ich zwar vom Staatsanwalt angeklagt, der Richter musste mich aber nach dem Rechtsgrundsatz „in dubio pro reo” frei sprechen. 

Bei der Verhandlung war Friedes anwesend. Er wurde als Zeuge und als Nebenkläger vernommen. Ich hatte mich anfangs bemüht, ihm kaum Beachtung zu schenken, ihn nur flüchtig angesehen, als er aufgerufen wurde. Er hingegen schien mich intensiver zu mustern. Dabei wurde ich ein plötzlich sich einstellendes, seltsam flaues Gefühl nicht wieder los. Als erinnere mich der alarmiert wirkende Mann an etwas Unangenehmes aus der Vergangenheit, etwas mühsam Verdrängtes. Dann stand er im Zeugenstand und unsere Blicke trafen sich. Bisher hatte ich lediglich die Kopffotos im Ausweis und im Führerschein vor Augen gehabt, von Angesicht war ich Friedes nur in der Dunkelheit begegnet. In der Zeitung hatte lediglich die Meldung vom Überfall gestanden, ohne Bild. In den Akten meines Verteidigers war ich ebenfalls nicht fündig geworden. Die kleinen Ausweisfotos waren mir zwar irgendwie bekannt vorgekommen, die Stationen seiner Vita indes hatten mich nicht aufmerken lassen. Schule, zwei Jahre Bundeswehr, Studium an der Uni und nach dem Examen ein Praktikum bei einer Großhandelskette. Dann die Promotion und zugleich Beschäftigung als Vorstandsassistent bei einer Holding von großen Einkaufsmalls im In- und Ausland. Von da an Schritt für Schritt einer zielstrebigen Karriere im internationalen Einzelhandel. Bis zum Geschäftsführer des größten Nobel-Kaufhauses in unserer Stadt. Auch sein Name sagte mir nichts; bei Durchsicht der Gerichtsakten erfuhr ich, dass er ihn aufgrund einer inzwischen wieder geschiedenen Ehe von seiner Frau übernommen hatte. – Ein einigermaßen beeindruckender Lebenslauf, an dem mir aber nichts Besonderes oder gar Beunruhigendes aufgefallen war. Eher war ich erleichtert, dass es keinen Loser getroffen hatte. 

Als er mir nun aber leibhaftig schräg gegenüber stand, ein schlanker, teuer und geschmackvoll gekleideter Mann Mitte Vierzig, das dunkelblonde Haar schon etwas schütter, traf mich sein Blick aus blauen Augen wie ein Schrapnell. Ich erstarrte, konnte nur mühsam die Fassung bewahren. Auch mein Gegenüber schien hochgradig erregt, schien Halt zu suchen an der Lehne des Stuhles im Zeugenstand. Der Richter stutzte, offenbar war ihm unser gegenseitiges Gewahrwerden nicht entgangen; ohne dass er freilich Genaueres hätte wissen können. “Stimmt etwas nicht, Herr Zeuge?” fragte er und blickte gleichzeitig zu mir hinüber. Friedes führte die Hand zu den Augen, schüttelte nur kurz den Kopfi dann hatte er sich offenbar wieder einigermaßen in der Gewalt. Mich indessen schwindelte. Hätte ich nicht gesessen, wäre ich vermutlich kollabiert. So aber konnte ich mich einigermaßen aufrecht halten. Ich war wohl totenblaß geworden, jedenfalls fasste mich mein Verteidiger am Unterarm und fragte, ob mir übel sei. Ich schüttelte den Kopf, barg meine Stirn in meiner rechten Hand, bat mit leiser Stimme um ein Glas Wasser. 

Später schob ich meinen vorübergehenden Schwindel auf eine Diabetis, an der ich seit Jahren litte. Friedes fand seine Fassung bald vollständig zurück. Als er seine Aussage machte, vermied ich es möglichst, ihn noch einmal anzusehen. Er berichtete zuerst stockend, dann aber immer flüssiger über den fraglichen Abend und den Überfall. Exakt so, wie es sich zugetragen hatte. Als der Richter ihn fragte, ob er in mir den Räuber erkenne, schüttelte er den Kopf, nachdem er mit ernster Miene lange zu mir hin gesehen hatte, während ich den Blick senkte, sonst seiner Musterung aber standhielt. ,,Es war zu dunkel“, flüsterte er. – Auf die Frage, ob ich zu den Äußerungen des Klägers Stellung nehmen wolle, schwieg ich. Mein Verteidiger antwortete an meiner Stelle: Da ich nicht der Täter gewesen sei, könne ich auch nichts dazu sagen. 

Während der restlichen Verhandlung vermieden wir beide, uns noch einmal in die Augen zu sehen. Später brachte mich ein Taxi zu meiner Wohnung. Der Gerichtstermin wegen des Überfalls auf die Vereinskasse war für die nächste Woche anberaumt. Bis dahin kam ich auf freien Fuß. In meinem Kopf drehte sich ein Karussell mit Figuren und Bildern, die ich seit Jahren mehr oder weniger erfolgreich verdrängt hatte. Ein Panoptikum von aufdringlichen Sequenzen katapultierte meine Gedanken in eine Welt, die ich bisher halbwegs mit Erfolg in das Reich des Unterbewußten, des nicht mehr Präsenten hatte verbannen können. Nun aber brach plötzlich alles auf. Mit einer Wucht, die mich niederdrückte. Tagelang, bis es nicht mehr anders ging, verließ ich meine Wohnung nicht. Damit Friedes mich nicht finden möge oder wir uns nicht zufällig träfen, erwog ich, die Stadt zu verlassen und in eine weit entfernte Gegend umzuziehen. Dann aber wurde ich verurteilt und mußte ins Gefängnis. Ich lernte, mit meinen Obsessionen zu leben. Erst Jahre später traf ich Friedes wieder.