Leseprobe – Schmierentheater

Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, so heißt es. Und doch konnte man den Eindruck haben, als ginge es um  Leben und Tod beim metallisLeseprobe – Schmierentheaterch tosenden Krähenkampf auf dem verrußten Kaminhut. Gerhard Neuberg lauschte den beinahe täglich wiederkehrenden Scharmützeln der schwarz gefiederten Kombattanten von seinem Lesesessel aus, nahe beim Kamin. Der enge, konisch nach unten sich weitende Schlot verstärkte das hallende Getöse noch. Neuberg wartete gespannt darauf, dass einer der beiden Vögel, oder manchmal waren es anscheinend sogar drei, des Krächzens, Hackens und Flügelschlagens müde wurde und das Feld räumte. Das selbstgefällig zufriedene, fast taubenartige Meckern und Gurren des Siegers, wenn er seine Bastion behauptet hatte, fand seinen Widerhall beim Lauscher am Kamin stets in einem zufriedenen Grunzen, das in ein Gemurmel und Geflüster überging, dem bei günstiger Artikulation ein paar Worte zu entnehmen waren, die meist mit der Selbstanrede ,,kannste mal sehn, Drobinski“ endeten.

Wenn Neuberg Selbstgesprache führte, redete er sich häufig mit dem Namen ,Drobinski‘ an, den er früher einmal getragen hatte. Früher, bevor er sein Studium abgeschlossen und eine langwierige Spezialausbildung fur den Geheimdienst absolviert hatte. Jetzt, in seinem zweiten Leben, rückte alles Vergangene in eine fast unerreichbare Ferne. Allenfalls wenn er die paar aus früheren Jahren übrig gebliebenen Geheimdienst-Kumpel kontaktierte, nannte man ihn manchmal noch Drobinski. Sonst gönnte er sich diesen Namen nur in einsamen Selbstgesprächen, wenn eigentlich niemand ihn hören konnte. Wobei er sich schon darüber im Klaren war, dass sein Häuschen am Rande der Hauptstadt vielleicht verwanzt wäre. Obwohl er nichts gefunden hatte, als er nach dem Einzug dies penibel absuchte. Den kleinen, mäßig riskanten Luxus, mit seiner Identität zu spielen, leistete er sich jedenfalls.

Heute war er etwas früher aufgestanden. Sonst wurde es in letzter Zeit meist Mittag, bis er sich bequemte. Er hatte vor knapp zwei Monaten sein Praktikum in der Verwaltung einer politischen Denkfabrik, eines modernen, international orientierten Thinktanks beendet und ein protziges Zertifikat erhalten. Damit und mit anderen, meist getürkten Dokumenten sollte er sich demnächst um einen Referenten-Job bei den Freisinnigen Volksdemokraten bewerben. Zuverlässige Gewahrsleute aus dem abgründig verschlungenen Spinnennetz von Abschöpfung und Infiltration sollten dabei helfen, dass man ihn für die Stelle auswählte und dass er seine konspirative Tätigkeit beginnen konnte. Was hinter den Kulissen sonst alles ablief, davon wusste Neuberg nur wenig, mehr durfte er auch nicht wissen, wollte er auch gar nicht. Nur über seinen zukünftigen, eng begrenzten Ausforschungsbereich war er bestens informiert. In der Zwischenzeit genoß er es, morgens ausschlafen zu können, in den Tag hinein zu trudeln und die Stunden achtlos verstreichen zu lassen. Den Kleinkrieg auf der Schornsteinabdeckung empfand er wie ein skurriles, aber unterhaltsames Radioprogramm. Überhaupt war der Kamin die Spitzenattraktion in dem ansonsten eher unauffälligen, abseits gelegenen Häuschen, das man ihm zugeschanzt hatte. Die Miete war günstig. Mit seiner ehemaligen Praktikumsvergütung nebst Sonderzahlungen und jetzt mit dem aufgestockten, regelmäßigen Agentensalar konnte er seinen gebobenen Lebensstil locker bestreiten.

Das Teewasser kochte. Neuberg zog das Band seines Morgenmantels stramm und erhob sich aus dem Sessel. Die Krähen spektakelten noch immer. Er schlurfte in die Küche, schlampte beim Aufguß, heißes Wasser tropfte an der Spüle runter.

„Paß doch auf Drobinski“, schimpfte er leise. Der Tee musste ein paar Minuten ziehen Neuberg grinste. Wenn er verwanzt wäre, dann vermutlich von seinen eigenen Leuten. Die andere Seite wusste bei aller Qualität ihres Staatsschutzes wohl noch nichts davon, dass er sich auf seinen Einsatz vorbereitete. Wenn seine Leute ihn mal maßregeln sollten, weil er noch immer nicht von seinem alten Namen lieB, dann hatte er sie ertappt. Aber so blöde waren die nicht. Neuberg zuckte die Achseln. Louis und die anderen, die ließen sich nicht so leicht ertappen.

Sonst war Neuberg durchtrainiert und sportlich. Sich körperlich und geistig fit zu halten, war Teil seiner Pflichten. In der Nähe seines Häuschens, am Rande eines Wohngebietes, gab es einen Sportplatz. Er gehörte zu einer Schule, durfte aber auch von Freizeitsportlern benutzt werden. Dort drehte Neuberg gelegentlich seine Runden. Anfangs hatte er fast jeden Tag auf dem Sportplatz trainiert. Mit einem der Lehrer, Norbert Astrum, hatte sich ein loser Kontakt ergeben. Als Astrum sich enger an ihn ranschmeißen wollte, war Neuberg auf Distanz gegangen. Hatte die Lauferei eingeschränkt und war lieber ins entferntere Schwimmbad ausgewichen. Seit Jahren war er leidenschaftlicher Taucher. Wenn er mal Urlaub machte, dann nur in anspruchsvollen Tauchrevieren. Damit verglichen waren die Voraussetzungen im Schwimmbad natürlich nicht gerade ideal. Immerhin durften die Erwachsenen in den See hinausschwimmen, dessen abgetrennter Teil das Schwimmbad war. Vorerst keine engeren persönlichen Kontakte, mit niemand, das hatte Neuberg als Weisung von Louis, seinem Führungsoffizier, mitbekommen. Als Astrum neugierig fragte, wieso er nicht mehr so oft käme, hatte Neuberg nur die Achseln gezuckt und rumgebrummt.

„Wie so’n stumpfsinniger Brauereigaul immer nur im Kreis trotten‘ – hatte er entgegnet, „das bringt’s auf die Dauer nicht.“ Astrum war achselzuckend abgedreht, hatte sich aber nicht ganz abschütteln lassen. Erst einige Monate später hatte Neuberg Verdacht geschöpft, eher instinktiv. Astrums Interesse an ihm kam vielleicht nicht von ungefähr. Als er darüber seinen Kontaktleuten berichtete, wußten die längst Bescheid.

„Keine Sorge, haben wir im Visier“, hieß es kurz und knapp. 

Neuberg sprach etliche Sprachen. War im Osten aufgewachsen, dann mit der Familie auf diplomatischer Mission reichlich zehn Jahre im Westen gewesen. Drei slawische und drei westliche Sprachen beherrschte er perfekt, mündlich und schriftlich. Auch die kyrillische Schrift. Ein paar andere, wie Finnisch, Griechisch und Türkisch, verstand und sprach er einigermaßen. Wegen seiner Sprachkenntnisse und weil man ihm eine überdurchschnittlich hohe Intelligenz attestiert hatte, war er ausgewählt worden. Die Spezial-Ausbildung hatte er vor gut zweieinhalb Jahren als Gruppenbester abgeschlossen. Vorher Studium der Anglistik, Politik und Geschichte in Moskau, Prag und Paris. Damals war diese ungewöhnliche geografische Kombination für eine Weile möglich gewesen. Inzwischen, unter dem Eindruck der neuen Eiszeit, ging das nur noch unter Schwierigkeiten.

Den tropfenden Teebeutel warf Neuberg in den Ausguß. Den heißen Topf Tee in der Hand, kehrte er zum Lesesessel zurück. Das Krahengetöse war beendet.

„Schade“, murmelte Neuberg. Er hatte das Finale verpasst. Während der Tee abkühlte, widmete er sich wieder seiner Lektüre. Dossiers und aus dem Internet runtergeladene Dokumente über die Freisinnige Volksdemokratie und über strategische Konzepte westlicher Militär- und Rüstungspolitik. Auch vertrauliche Informationen über Personal und Finanzen der Freisinnigen. Man ließ ihm zwei bis drei Monate Zeit zum Einarbeiten. Dann stand die Bewerbungsprozedur an. Es könne eigentlich nichts schief gehen, hatte man ihn wissen lassen. Trotzdem: er müsse auf den Punkt topfit sein. Im Moment war alles easy, Routine.

Er schlürfte seinen Tee, schüttete noch ein bisschen Zucker nach. Der Computer stand in Reichweite, Neuberg schaltete ihn ein und tippte das Passwort. Während die Software hochfuhr, sah er sich draußen ein bisschen um. Keine elektronische Kommunikation mit seinen Leuten, niemals, hatte Louis ihm eingeschärft. Es sei denn man fordere ihn ausdrücklich dazu auf. Und dann immer nur auf die lediglich Eingeweihten bekannte, verschlüsselte Art und Weise.  

Draußen war alles sauber. Sein Häuschen lag abseits der Straße, die vorderen Zuwege waren gut einsehbar. Das Briefkastensignal stand senkrecht. Neuberg drückte es in die Waagerechte. Dann zurück ins Haus und zum hinteren Fenster des Wohnzimmers. Er tastete außen unter das Fensterbrett und fand im Versteck eine Visitenkarten-CD, die er in die Tasche seines Morgenmantels stopfte. Das Lesegerät und ein paar wichtige Daten-Sticks waren hinter der Kamin-Verkleidung versteckt. Auch das Fluchtpaket: Die Kassette mit den gefälschten Pässen und dem Fluchtgeld. Und mit einer handlichen Beretta nebst hundert Schuß Munition. Neuberg blickte auf seine Armbanduhr. Erst nach Ablauf von mindestens zwölf Stunden durfte er den Datenträger in das Lesegerät stecken. Was tun bis dahin? Er beschloß, nach dem Frühstück ein paar Runden zu laufen. Auch auf die Gefahr hin, um diese Zeit Astrum zu begegnen. Neuberg trank von seinem Tee. Auf dem Computer ginger die Online-Nachrichten durch. Keine besonderen Vorkommnisse, die üblichen Sticheleien zwischen Ost und West. Also raus aus den Schlafklamotten und rein in den Trainingsanzug. Dann hockte er sich noch einmal in den Sessel, um ein paar Kekse zu knabbern und den Tee zuende zu trinken.

,,Bloß keine kapitalistische Hast, Drobinski“, murmelte er. Irgendwo hatte er kürzlich einen Spruch gelesen, der ihm im Gedächtnis haftete: Wer ackert wie ein Pferd, fleißig ist wie eine Biene, geschäftig wie eine Ameise und abends müde wie ein Hund, der sollte mal zum Tierarzt gehen: vielleicht ist er ein Esel. Der Spruch hatte ihm gut gefallen, den merkte er sich.

Es gebe neue Börsenwerte, die alles bisher Dagewesene übertrafen, meldete das Nachrichten-Portal des WELTBLICK. Neuberg grinste. Die würden sich noch wundern. Das ganze marode System aus verantwortungsloser Spekulation und profitgieriger Schacherei würde eines nicht mehr fernen Tages zusammenbrechen. Und dann schlug die Stunde der Underdogs, des Proletariats. Und er, Neuberg, würde seinen Anteil daran haben. An Motivation, die Volksdemokraten abzuschöpfen und wenn möglich einige Wackelkandidaten für seine Sache zu gewinnen, fehlte es ihm nicht. Man hatte ihm zwei zukünftige Kollegen, Männlein und Weiblein, genannt, die vielleicht für seine Sicht der Dinge empfänglich waren. Martin Nordstede, offenbar vom Vorstand der Freisinnigen Jugend, und Pamela Gronewald, Sachbearbeiterin in der Parteizentrale.

Der Trainingsanzug müffelte ein bisschen.

„Könnte mal wieder gewaschen werden“ brummte Neuberg. Dann trabte er ab. Gut anderthalb Kilometer bis zum Sportplatz.