Leseprobe Texte

Monster

Ich habe mich eingerichtet. Mein Tagesablauf hat etwas von einer kantischen Regelmäßigkeit. Ein kleines Häuschen am Stadtrand nenne ich mein eigen. Dreimal in der Woche kommt die Haushälterin. Eine unauffällige und gründliche Frau. Ich habe sie in der Hand. Sie benötigt das Geld, um ihren kranken Sohn pflegen zu können. Allerdings sind meine Bedigungen nicht unerfüllbar. Außer des Grußes keine Unterhaltung. Über die Notwendigkeit gelegentlicher Anschaffungen für den Haushalt, z.B. Besen oder Waschmittel, erfahre ich durch Zettel, die Anna – so nenne ich sie – mir auf den Schreibtisch legt. Ich nehme dann die Zettel fort und an ihre Stelle lege ich das erforderliche Geld. Den Weg zur Bibliothek, an der ich als Bibliothekar beamtet bin, lege ich in meinem Auto zurück – einem Typ der gehobenen Mittelklasse. Meine Untergebenen schätzen mich nicht, aber ich bin ihnen auch nicht verhaßt. Ich lasse sie merken, daß ich auf Distanz bleiben möchte. Sie respektieren das. Meinen anderen Kollegen und Vorgesetzten gegenüber verhalte ich mich gleichgültig, aber korrekt. Ich halte auf Ordnung. In meinem Büro hat sich seit Jahren nichts verändert. Wenn eine der drei Topfblumen am Fenster unansehnlich wird, lasse ich sie durch eine gleiche ersetzen. Meine Gewohnheiten während der Arbeitszeit sind längst allen, die mit mir zu tun haben, bekannt. Man weiß, wann ich zu sprechen bin und wann ich ungestört sein möchte. Auch meine Vorgesetzten halten sich daran. Ich verspüre keinerlei Ehrgeiz mehr. Dieses Gefühl legte ich ab, als ich meine jetzige Position erreicht hatte. Auch davon wissen meine Kollegen, deshalb bin ich kein Unsicherheitsfaktor in ihren Karriere-Kalkulationen. Ich ziehe also niemandes besondere Aufmerksamkeit auf mich. In meiner Freizeit beschäftigte ich mich mit mythologischen oder metaphysischen Wurmfortsätzen rationalen Denkens. Dabei lege ich mir eine Kartei ironischer Bemerkungen an, die ich in fünfeinhalb Jahren zu ordnen und als Aphorismen-Sammlung zu veröffentlichen gedenke. Zwei derartige Publikationen von mir liegen bereits vor. Sie verschafften mir ein leidliches Ansehen in der philosophischen Fachwelt. Lediglich an den Sonntagnachmittagen, wenn das Wetter nicht zu unerträglich ist, pflege ich einer anderen Beschäftigung nachzugehen. Ich leihe mir Annas Dackel aus und gehe mit ihm eineinhalb Stunden im Schloßpark spazieren. Inzwischen habe ich ihm angewöhnt, daß er sich nicht weiter als zehn Meter von mir entfernt, wenn ich ihn frei laufen lasse, und dabei die Handleine im Maul trägt. Ungern denke ich an die Zeiten zurück als ich mein Haus bauen und einrichten ließ. Zwar nahm ich damals meinen Urlaub und fuhr, wie jedes Jahr zu gleichen Zeit, in die Eifel aber dennoch ließ sich eine gewisse Hektik, die sich auf über ein halbes Jahr erstreckte, nicht vermeiden. Schließlich pendelte sich alles ein. Fast gleichzeitig mit dem Fertigwerden des Hauses starb meine Tante, bei der ich aufgewachsen bin. Danach gab es keine Unregelmäßigkeiten mehr, die meinen Lebensrhythmus unterbrachen. Ich werde mich in den nächsten Tagen nach einem neuen Schneider umsehen müssen. Der alte wird sich bald zur Ruhe setzen. Dergleichen Ungelegenheiten hat man hin und wieder auf sich zu nehmen.

Nach drei Tagen öffnete man die Kellertür

lm Kopfkissen waren die Federn zu hart. Man fand ihn also an einer Schlinge im Keller von der Decke hängend. Ein feucht-modriger Geruch hatte es sich schon in seinen Kleidern bequem gemacht. Erstickt war er an einer Wäscheleine. Nun wartete er darauf, zu trocknen. Spielende Kinder, die am Fenstergitter entlang liefen, verwirrten hin und wieder die romantische Kellerbeleuchtung. Über sein Gesicht huschende Schatten gaukelten den entsetzten Findern ein Spiel vor, das dem Tote, den Anschein gab, als verfolgte er das Spiel der Kinder. In Wirklichkeit war das für ihn unwichtig, auch wenn er nicht tot gewesen wäre. Wichtig wären vielleicht noch die schlecht gewordenen Bananen in der Fruchtschale auf dem Küchentisch oder die vertrockneten Blumen auf dem Fenstersims gewesen. Vielleicht auch die Tatsache, daß die Sonne sich die ganzen Tage nicht richtig sehen ließ, nur heute. Aber das konnte er nicht bedenken. Daß die Bananen schlecht wurden und die Blumen vertrockneten jedoch hätte er verhindern können. Aber es hatte schon zu lange gedauert, die harten Federn plagten ihn zu sehr. Er hatte an nichts mehr gedacht. Vielleicht war es auch das elektrische Licht gewesen, das seit Wochen flackerte und nicht repariert werden konnte. Eigentlich lag schon etwas in der Luft, seit er Polanskis „Ekel“  gesehen hatte, den Ausschlag aber hatten doch die harten Federn gegeben, dabei waren es erstklassige Daunen.

Tiger Rag

Den Tiger Rag in den Ohren sitze ich wieder auf einem mit blau-schwarz kariertem Tuch bezogenen Stuhl. Ehemals diente er höheren Zwecken: als Wohnzimmermöbel bot er sich besonders lieben Besuchern dar. Dann kam er in einen winzigen Raum, fast mit einem ausgedienten Erbstück zu verwechseln. Der winzige Raum war mein Arbeitszimmer. Jedermann fiel sofort die eindeutige Ähnlichkeit mit einer gemütlichen Rumpelkammer auf, darum fühlte man sich dort allgemein wohl. Was allerdings auch am Weißen Bordeaux lag, den ich stets in Greifweite hielt, ebenso wie an der akustischen Kulisse des Tiger Rag. Ich kam mir verborgen vor wie ein Trinker in einem Winkel des nächtlichen Parks. Hinter dem Fenster wußte ich die weite schweigende Landschaft, deren Pulsschlag sich auf meinen Körper übertrug. Der Tiger Rag war zu einem notwendigen Element geworden in der Rumpelkammer-Atmosphäre, wie das Blau in Picasso’s Blauem Raum. In den kurzen Sommernächten gab es nichts, das einer Erklärung oder Rechtfertigung bedurft hätte; jedes Detail, jedes Wort, jedes Lied, jedes Taumeln der Trunkenheit, selbst der sich in das weit offene Fenster stehlende Morgen und die im Osten verbrennende Dunkelheit, alles fügte sich organisch zu einer mit feuchter Wärme angenehm ausgeschlagenen Nacht. Meine Sinne ließen sich vom Duft der ins Zimmer rankenden Natur einhüllen; meine Glieder räkelten sich auf dem altmodischen Sitz, dessen Holz sich schon nach meinem Körper zu biegen schien. Meine Blicke glaubten das verblichene Muster der Tapeten im Takte des Tiger Rag wippen zu sehen. Meine Gedanken schlichen um die Sehnsucht nach Vereinigung mit der Natur aus Brentanos frühen Gedichten, sie tasteten scheu in den Gärten des Pallas umher und lugten nach der gigantischen Tat des Lesabendio. Über den Abgrund legten sich die Harmonien des Tiger Rag, sie trugen mich mit Händen aus Musik und ließen mich in den Traum ausbluten.

Träume

Es gibt Momente, die dazu angetan sind, sich in lange nachdenkliche Stunden auszudehnen. So ist es zum Beispiel, wenn man an seine Träume denkt. Es gibt Träume, an die man sich erinnert, weil man sie tatsächlich tief oder weniger tief schlafend geträumt hat. Es gibt aber auch solche, die in mancher Beziehung als Träume auszuweisen sind, obwohl sie nie im Schlafe erlebt wurden. Man nennt sie Wachträume, in die nach dem großen Sigmund Freud der Mensch seine Wünsche projiziert. Aber, und das ist das Besondere an dieser Art von Träumen, nach einer gewissen Zeit lassen sie sich nicht mehr von richtigen Träumen unterscheiden, manchmal vermischen sie sich auch mit ihnen. Man denkt dann lange nach, wie es mit einem Traum sei, ob er als Wachtraum oder als Schlaftraum entstand Endes doch nicht mehr identifizieren. Auf diese Weise ist sicherlich manches schöne Gedicht, manche phantastische Erzählung und manches herrliche Bild entstanden, das den Leser oder Betrachter zur Nachdenklichkeit zwingt, in der er wohl mehr unbewußt ein klein wenig von den Traumerlebnissen spürt, die den Künstler veranlaßten, sein Werk zu schaffen.

Traumdeutung ist gewiß nicht meine Sache, und ausdrücklich distanziere ich mich von den Träumen des grausamen Quevedo. Seine Art, die Wirklichkeit mit angeblichen Träumen zu vermischen, mag einmalig und bewundernswert sein, sein Engagement ist unmenschlich. Ich will auch keine Zwecke verfolgen mit dem Wenigen, das ich noch anzufügen mir vorgenommen habe. Wenn nur Eines ein wenig durchschimmert: die Vermischung der Traumphantasien mit meinen Sehnsüchten und die daraus entstehende Unsicherheit, die als Fragezeichen über dem Leben eines jeden Menschen steht, selbst über dem des eingeschworensten Kantianers; wenn das also zu ahnen ist, dann ist die Geduld, die ich an diese Zeilen verwende, belohnt.

Manchmal denke ich an einen im Zwinger geborenen Schäferhund. Man richtete ihn ab und machte ihn zu einem klugen Tier, das aus seinem Gefängnis genommen werden konnte, ohne daß man befürchten mußte, es würde Schaden anrichten. Jedoch trotz aller Bemühungen gelang es nicht, ihm eine sonderbare Wildheit, die von Geburt an hin und wieder durchbrach, abzugewöhnen. Manchmal machte der Hund sich für einen Tag davon, und niemand wußte, was er trieb. Ausgehungert und reumütig kehrte er aber stets wieder zurück. Für Tage war dann nichts mit ihm anzufangen. Er lag interesselos da, die Augen nur halb geöffnet und kuschte unterwürfig vor jedem. Langsam nahm er in der nächsten Zeit wieder am gewöhnlichen Leben teil, und er schien daran eine solche Freude zu haben, daß jeder glaubte, sein letzter Ausbruch sei nun wohl auch die letzte Ungereimtheit in seinem Leben gewesen. Plötzlich aber war er wieder verschwunden, und genau wie früher kehrte er nach ein oder zwei Tagen wieder zurück. So ging es eine Zeitlang, in der der Hund nach jeder Abwesenheit unzugänglicher wurde. Nach jedem Ausflug zog er sich mehr von der Welt zurück. Er verkroch sich in seine Hütte und kam tagelang daraus nicht hervor. Nur ganz selten noch konnte man erkennen, daß er in vorbildlicher Art und Weise abgerichtet war. Aber trotz allem war man mit ihm zufrieden. Er schadete niemandem und war als Wachhund, der durch seine bloße Erscheinung etwaige Störenfriede abschreckte, einigermaßen zu gebrauchen. Eines Tages aber war der Hund wieder wieder einmal verschwunden, man wartete einen Tag, zwei Tage, vier, fünf Tage, eine Woche, er kehrte nicht zurück.

Während ich daran denke, tritt mir der Angstschweiß auf die Stirn. Ich weiß, daß er sterben wird, wenn er zurückkehrt, er wird in Lethargie versinken, eine Krankheit zum Tode. Wenn er nicht zurückkehrt, wird er durchhalten können? Wird er so stark sein wie Zarathustra?

Eine ähnliche Sache ist es mit der Mondscheinsonate: Wenn ein Mann in einem Mantel gehüllt im Park sitzt, auf einer Bank, den Hut tief in die Stirn gezogen, die Augen geschlossen; wenn er dort. sitzt und sein Kopf erfüllt ist von der Musik des ersten Satzes – wird es ihm gelingen, aufzustehn und zurückzukehren? –

Über den Gehalt, über die mögliche Allegorik der Träume, wird man immer nachgrübeln müssen. Einmal scheint ein Traum des Nachdenkens wert zu sein ein andermal lächelt man darüber; ein Ereignis von besonderer Bedeutung erhellt oder verdüstert das Leben, man setzt sich damit auseinander und erinnert sich unwillkürlich an einen Traum. Die Zuversicht der alten Frau, die nach zwanzig Jahren noch immer daran glaubte, daß ihr Mann aus der Kriegsgefangenschaft zu ihr zurückkehren würde, weil sie es geträumt hatte, scheint einem plötzlich berechtigt.

Unbekannte Gesichter peinigen mich oder sind irgendwie in ein Traumgeschehen verwickelt. Plötzlich, wenn der Traum in eine entscheidende Phase tritt, sind es die Gesichter meiner Bekannten, meiner Angehörigen, ja, in unendlicher Vielfalt mein eigenes Gesicht. Wenn ich mich daran erinnere, kann ich ein innerliches Erschauern nicht vermeiden.

Die Tatsache, daß ich diese Zeilen niederschreibe, hat ihre Parallele darin, daß ich dazu neige, Orte, die in meinen Träumen vorkommen, in der Wirklichkeit aufzusuchen. Einmal stürzte ich im Traum von einem hohen Turm. Nachdem ich oft darüber nachgedacht hatte, erkannte ich ihn in der Wirklichkeit wieder. Er stand in einem Waldstück, nahe am Haus meiner Eltern. Obwohl ich mir lange vernünftelnd klarzumachen versuchte, wie sinnlos es sei, Träume mit der Wirklichkeit zu vergleichen, trieb es mich zu dem Turm. Am selben Tag noch stieg ich hinauf und träumte meinen Traum in der Wirklichkeit nach, nur daß ich mich nicht tatsächlich hinunterstürzte. Aber ich stand oben und sah hinunter. Ich mußte an Merimee’s „Graf Michael Szemioth“ denken, an den Dualismus in den menschlichen Empfindungen. Liebe und Haß, Todes- und Lebensdrang liegen wie gute Nachbarn nebeneinander. Ich schloß die Augen und ließ den Traumsturz noch einmal aufleben. Mich schwindelte, ich stieg hinab mit einem Gefühl, wie es ein besessener Schachspieler hat, der weiß, daß es ihm nie gelingen wirs, um alle Möglichkeiten des herrlichen Spieles zu wissen; die Herrlichkeit ist für ihn gleichzeitig die Ursache lebenslanger Unzufriedenheit und Unsicherheit. –

Der Dualismus im Menschen, die beste Nahrung für Selbstmörder, eigentlich der Grund aller Aktivität. Bei Kleot heißt es: „Ausreißen ist ein froh Geschäft, geschieht’s, um etwas Besseres zu pflanzen.“ Eine klassische Entschuldigung des Menschen für seinen Zerstörungsdrang. Ausreißen, um wieder neu zu pflanzen, Kriege führen, um von vorn zu beginnen, sich von einem Turm stürzen, um dem Leben die letzten Geheimnisse abzuzwingen. Zerstörungs- und Erhaltungstrieb, die beiden Schalen einer Waage, die bestimmt ist, nie ausgeglichen stillzustehn. Träume beflügeln das Leben – das Leben veranlaßt die Träume. Leben und Traum, Tod und Gewißheit sind verbunden durch die geheimnisvollen Linien ihrer ineinander verschränkten Magnetfelder. Ich sagte schon, daß ich mich zum Traumdeuter nicht eigne, so wenig wie jeder andere.