Leseprobe – Zodiak

Aries

Kolchis, 21. März – Wie die internationale Medienagentur IMA meldet, ist gestern Abend am Ostufer des Großen Flusses ein zweimotoriges Sportflugzeug abgestürzt. Von den drei Passagieren überlebte nur ein junger Mann. Eine junge Frau und ein etwa fünfzigjähriger Mann, vermutlich der Pilot des Flugzeugs, kamen bei dem Absturz ums Leben. Die etwa zwanzigjährige junge Frau musste aus dem Fluß geborgen werden. Sie hatte sich wohl vor dem Aufprall ins Wasser retten wollen, überlebte den Absprung aus dem Flugzeug aber nicht. Der etwa gleichaltrige junge Mann wurde nach Auskunft der Polizei aus der brennenden Maschine an das Ufer des Großen Flusses geschleudert und konnte schwer verletzt ins Bezirkskrankenhaus gebracht werden. Es bestehe, wie es heißt, keine Lebensgefahr. Der Pilot indessen konnte nur noch tot geborgen werden. Über die Identität der Passagiere und über die Absturzursache ist derzeit noch nichts bekannt.
Orchomenos, 23. März – Phrixos, der neunzehnjährige Sohn und Erbe des Großindustriellen Athamas, ist am 20. März bei einem Flugzeugabsturz am Ostufer des Großen Flusses in Kolchis schwer verletzt worden. Lebensgefahr besteht aber nach Auskunft der behandelnden Ärzte nicht. Bei dem Absturz kamen Helle, die achtzehnjährige Schwester des Phrixos, sowie ein zweiundfünfzigjähriger Mann namens Aries ums Leben. Aries war wohl auch der Pilot des Unglücks-Flugzeuges. Soweit bislang bekannt ist, waren außer den drei geborgenen Passagieren keine weiteren Personen an Bord. Warum die beiden Industriellen Kinder und der Zweiundfünfzigjährige mit einem Privat-Jet nach Kolchis geflogen sind, ist derzeit nicht bekannt. Von Athamas und seiner Frau Ino gibt es bisher keine Stellungnahme zu dem Unglück. Auch die von Athamas geschiedene Mutter der Kinder, Nephele, wollte sich nicht äußern. Spekulationen in einigen Medien, wonach es Zusammenhänge zwischen dem Flug nach Kolchis und den in jüngster Zeit publik gewordenen Mutmaßungen über Streitigkeiten um die Nachfolge des Athamas als Konzernchef gibt, wollte ein Sprecher des Vorstands nicht kommentieren.
Kolchis, 20. April – Der am 20. März bei einem Flugzeugabsturz am Ostufer des Großen Flusses schwer verletzt geborgene Phrixos aus Orchomenos, Sohn des Großindustriellen Athamas, ist gestern aus dem hiesigen Bezirkskrankenhaus entlassen worden. Obwohl der Heilungsprozeß noch andauert, hat seine Mutter Nephele ihn in eine Klinik an einem unbekannten Ort verlegen lassen. Die Schwester des Verletzten, die achtzehnjährige Helle, war bei dem Unglück ums Leben gekommen. Sie wurde nach Abschluß der pathologischen Untersuchungen nach Orchomenos überführt und dort beigesetzt. Auch Aries, der Pilot der Unglücksmaschine, wurde in seiner Heimat beerdigt. Nach Auskunft der Polizei konnten bisher keine Hinweise auf Fremdeinwirkung beim Absturz der zweimotorigen Cessna festgestellt werden. Offenbar hat es technische Probleme mit der Treibstoffzufuhr und der Motorkühlung gegeben, die Ursache einer Explosion und des Absturzes sein dürften. Einen detaillierten Bericht über den Zustand des Flugzeuges und die Einzelheiten der technischen Defekte werden die Behörden voraussichtlich im Herbst des Jahres vorlegen. Warum Phrixos an einen unbekannten Ort gebracht wurde, an dem er seine schweren Verletzungen endgültig auskurieren soll, ist nicht mitgeteilt worden. Seine Mutter Nephele war sofort nach Bekanntwerden des Unglücks nach Kolchis gereist und hatte sich um ihren Sohn sowie um die Überführung der Tochter gekümmert. Nephele ist die erste Ehefrau des Athamas, mit dem sie die Kinder Phrixos und Helle hat. Vor fünf Jahren wurde sie von ihrem Mann geschieden. Seitdem lebten die Kinder bei ihrem Vater, der inzwischen in zweiter Ehe mit Ino, einer ehemaligen Schönheitskönigin, verheiratet ist. Nephele, eine international angesehene Pianistin, hält aber nach Recherchen der Agentur IMA immer noch Anteile in beträchtlicher Höhe an dem Konzern ihres ehemaligen Ehemannes. Vor etwa einem Jahr wurde in einigen Medien darüber spekuliert, daß Athamas seine Nachfolge als Konzernchef vorzeitig neu regeln wollte und daß es deswegen zu streitigen Auseinandersetzungen in der Familie gekommen sei. Näheres dazu wurde indessen nicht bekannt. Gleichwohl hielten sich die Gerüchte hartnäckig. – Inzwischen scheint nach Auskunft der Polizei sicher zu sein, daß Aries, ein Bruder von Nephele, der Pilot des Unglücksflugzeuges war. Warum er die Maschine steuerte, ist allerdings noch unklar. Auch über weitere Einzelheiten der tragischen Ereignisse sowie über Grund und Ziel des Fluges sind bisher nur Mutmaßungen möglich. Weder Athamas noch Nephele oder Ino wollten sich zu den Vorfällen äußern. Phrixos wurde zwar im Krankenhaus zu dem Unglück befragt, konnte aber nur berichten, daß die Flugzeugmotoren über dem Fluß zu stottern angefangen hätten, es dann plötzlich eine heftige Explosion gegeben und er das Bewusstsein verloren habe. Er sei erst im Krankenhaus wieder aufgewacht. Zwei Zeugen, die sich zum Zeitpunkt der Katastrophe in der Nähe des Absturzortes aufhielten, gaben an, einen lauten Explosionsknall gehört und den rasenden Absturz des brennenden Flugzeuges auf das Ufer des Großen Flusses beobachtet zu haben. Sie verständigten sofort die Polizei. Schon nach wenigen Minuten war ein Einsatzwagen des Roten Halbmonds vor Ort, so daß Phrixos gerettet werden konnte. Für die beiden anderen Passagiere kam jede Hilfe zu spät.
Ithaka, im September – Fast ein halbes Jahr ist es jetzt her, daß ein Arkadier aus Orchomenos bei einem Flugzeugabsturz am Ufer des Großen Flusses von Kolchis schwer verletzt wurde. Es handelt sich um Phrixos, den Sohn des Athamas und der Nephele, erstgeborener Sproß eines mächtigen Konzernchefs und einer bekannten Künstlerin, der seither von der öffentlichen Bildfläche verschwunden ist. Mutmaßungen und Gerüchte sind in beträchtlichem Umfang ins Kraut geschossen. Es scheint, als ranke sich eine geheimnisvolle Geschichte aus teils kriminellen Intrigen und üblen Machenschaften um das Unglück, weil es vielleicht gar kein Unglück war. Jedenfalls scheint es im Umfeld von Athamas Personen zu geben, die einen Anschlag auf die drei Passagiere für wahrscheinlicher halten. Vor einigen Wochen erreichte die Redaktion unserer Zeitung ein anonymes, umfangreiches Dossier über Rivalitäten im Konzern des Athamas und in seiner Familie. Angeblich haben sie mit dem Absturz des Flugzeuges ursächlich zu tun. Das Dossier wartet mit Behauptungen auf, denen Glauben zu schenken uns zunächst schwer fiel. Es enthält aber eine solche Fülle an plausiblen und offenbar seriös recherchierten, belastbaren Informationen, daß die Redaktion sich entschieden hat, den Angaben nachzugehen. Natürlich haben wir auch versucht, die Identität des Verfassers aufzudecken. Leider ist uns das nicht gelungen. Anscheinend handelt es sich aber um einen „Insider”, dem viele Interna sowohl aus dem Konzern des Athamas als auch aus dem Privatleben der Familie des Phrixos bekannt sein müssen. So weit es uns möglich war, haben wir die Darstellungen des Dossiers überprüft und berichten im Folgenden über erste Ergebnisse. Unser Autor hat dazu die journalistische Form eines Features gewählt. Wir drucken seine einzelnen Teile in den nächsten Wochen jeweils in der Wochenendausgabe.
Die vornehme weiße Villa mit dem karminroten Dach und den mannshohen, blaßblau gerahmten Sprossenfenstern, dem halben Dutzend phallisch aufragender Schornsteine, dem klassizistischen Portikus und der mächtigen Granit-Treppe zum Eingang erinnert schon von weitem an den Herrensitz eines Aristokraten aus dem vorletzten Jahrhundert. Wenn man näher kommt, wirkt die Pracht des Hauses und des vorgelagerten Gartens mit seinen Brunnen und Wasserspielen freilich ein wenig aufgesetzt – vor allem wohl, weil die Bäume, Büsche und Hecken allzu akkurat ausgerichtet, geformt und beschnitten wurden. Die Villa liegt auf einer leichten Anhöhe, zu der, von Wimbledon-Rasenpolstern gesäumt, ein sorgfältig gepflegter Kiesweg empor führt. Quecken und anderes Unkraut dürften hier keine Chance haben. – Es ist früher Nachmittag im sonnigenJuli. Das strahlend helle Licht läßt alle Farben aufdringlicher erscheinen als sie tatsächlich sind. Vielleicht empfand der Hausherr meine Bitte um ein Interview ebenfalls als allzu aufdringlich. Jedenfalls bedurfte es tagelang beharrlicher und devoter Bemühungen, um auf einen halbstündigen Termin vorgelassen zu werden. Ein livrierter Hausdiener nimmt mich in Emfpang, nun also sitze ich dem mächtigen Konzernchef Athamas gegenüber. Im Nebenzimmer hat sich unauffällig ein muskulöser Leibwächter positioniert. „Ersparen wir uns die einleitenden Floskeln und sagen Sie mir gerade heraus, was Sie wissen möchten“, so beginnt der asketisch wirkende Patriarch mit den auffallend blauen Augen unser Gespräch. Er hat sich lässig in einem Fauteuil seines Jagdzimmers niedergelassen, trägt legere Freizeitkleidung und trinkt einen Schluck des bereitgestellten Mineralwassers. „Bitte, nehmen Sie sich“, fordert er mich auf. Von den Wänden dringen rundum Jagdtrophäen aller Art auf mich ein. In ihrer massiven animalischen Präsenz wirken sie fast bedrohlich. Die ausgeprägte Jagd-Leidenschaft des Besitzers bedarf keiner weiteren Erörterung. Seit vielen Jahren kennt ihn die Öffentlichkeit als großen Liebhaber des edlen Waidwerks, dem er in seinen diversen Latifundien regelmäßig nachzugehen pflegt. Einundsiebzig Jahre ist Athamas alt, allerdings wirkt er trotz des schlohweißen Haares um etliche Jahre jünger. Er schlägt das Bein über und blickt mich auffordernd an. Ich frage ihn zuerst nach dem Umständen des Unglücks: ob er mir sagen könne, warum seine Kinder mit ihrem Onkel nach Kolchis geflogen seien und ob man schon Näheres über die Absturzursache wisse. Er zuckt mit den Schultern. Mehr als in der Öffentlichkeit ohnehin bekannt sei, könne er dazu nicht sagen. Nephele, sie könne mir möglicherweise weiterhelfen. – Auch intensives Nachbohren hilft nicht, zu diesen Fragen erhalte ich keinerlei nähere Auskunft. Dann spreche ich ihn auf die Gerüchte um seine Nachfolge als Konzernchef an. „Entsprechen die Gerüchte der Wahrheit?“, erkundige ich mich. „Gerüchte? Das müssen Sie mir erklären“, Athamas gibt sich erstaunt, „um was für Gerüchte geht es denn? Ich kenne keine.“ „Nun ja“, lasse ich mich auf sein Versteckspiel ein, „wie so oft, erfahren die unmittelbar Betroffenen als Letzte davon. Jedenfalls hört man immer wieder, daß es in jüngerer Zeit Auseinandersetzungen und sogar Streit unter den Familienmitgliedern gibt; und zwar aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen über die zukünftige Leitung des Konzerns.“ „Ich weiß nichts von Auseinandersetzungen und Streit“, so lautet seine abweisende Antwort, „ich weiß von alledem nichts. Und ich fühle mich durchaus noch in der Lage, meine Unternehmen einige weitere Jahre selbst zu führen.“ – Auch hier erfahre ich also nichts Nennenswertes. Ob denn, komme ich zu meinem nächsten Punkt, ob denn der beim Unglück umgekommene Aries, der bisher in der Öffentlichkeit kaum in Erscheinung getreten sei, im Geflecht der Teilhaber am Konzern eine Rolle spiele oder gespielt habe. Man spekuliere darüber, daß er, wie auch seine Schwester Nephele, nicht unerhebliche Anteile hielten. „Sehen Sie, der verblichene Aries war ein Geistlicher, ein Mönch“, so belehrt mich Athamas mit gerunzelter Stirn, „wir haben ihm vor vielen Jahren einige Anteile an unseren Unternehmen übertragen. Aus Gründen der Fairness und um sein mildtätiges Engagement zu unterstützen. Wohl wissend indes, daß ihm seine religiöse Berufung weit wichtiger war als materielle Dinge. Allerdings spielen seine Anteile für den Bestand des Konzerns nur eine sehr untergeordnete Rolle.“ Ob er dazu vielleicht etwas konkreter werden könne, frage ich nach, zum Beispiel: „Wie viel Prozent der Aktien hat Aries gehalten?“ Mein Gegenüber zuckt wieder die Achseln, das sei leider alles, mehr könne er mir dazu nicht mitteilen, sagt er knapp. – Man höre davon, versuche ich es weiter, daß Aries seine Anteile am Konzern testamentarisch dem Neffen Phrixos vererbt habe. „Ist das richtig?“ „Ich habe auch davon gehört“, antwortet Athamas, „aber ich habe mit meinem Sohn darüber noch nicht gesprochen. Und das Testament meines Ex-Schwagers kenne ich leider nicht. Sie müssen dazu schon Phrixos selbst befragen.“ „Aber leider weiß ja niemand, wo sich Ihr Sohn seit seinem Weggang aus Kolchis aufhält“, nehme ich das Stichwort auf, „können Sie mir sagen, wo ich ihn finde?“’ Seine Mutter habe sich um ihre Kinder nach dem Unglück gekümmert, erwidert der Alte mit leicht abwesender, vielleicht auch von nachwirkender Trauer gezeichneter Stimme, sie habe die Sorge um das Begräbnis von Helle und auch um die sowohl medizinische als auch psychologische Betreuung des Phrixos übernommen. Ich müsse bei ihr nachfragen. – Bevor ich weitere Punkte ansprechen kann, blickt Athamas auf seine Armbanduhr. „Eine Frage haben Sie noch“, sagt er, wieder mit der selbstsicheren Stimme, die man von ihm kennt, „dann ist unsere Zeit um.“ Also hole ich meinen letzten Pfeil aus dem Köcher und lasse die anderen, die ich eigentlich ebenfalls noch hatte abschießen wollen, ungenutzt. „Ist es richtig, daß Ihr neunzehnjähriger Sohn Phrixos Ihr Nachfolger als Konzernchef werden soll?“ frage ich. Athamas blickt amüsiert auf. „Phrixos ist inzwischen zwanzig“, antwortet er nicht ohne ironisches Timbre in der Stimme, „das nur zu Ihrer Kenntnis. Und über einen Nachfolger mache ich mir zur Zeit keine Gedanken.“ – Mehr ist ihm nicht zu entlocken. Als ich gehe, begleitet mich der Alte noch an die Tür. Seine schlanke Gestalt ist leicht gebeugt, sein Händedruck aber ist sehr fest, schmerzhaft fast. Vor allem wegen der auffallend blauen Augen wirkt er wohl jünger als er ist, denke ich. Er tritt auf den Perron und blickt einige Sekunden lang hin über den ausladenden Vorgarten seiner Villa. „Meinen Sie nicht, daß mein Gärtner die Anlage ein bisschen mehr verwildern lassen sollte?’“, fragt er nachdenklich. Es ist eine rhetorische Frage. Ich zucke die Achseln. Als ich mich dem Kiesweg zuwende, nickt Athamas mir abwesend hinterher. Dann geht er im Schatten seines Leibwächters hinein.