Leseprobe – Liberale Kulturpolitik

Einleitung 

Im Jahre 1918 spottete Thomas Mann, sein Bruder Heinrich sei nur ein „Zivilisationsliterat”.1  Mit dieser Sottise spielte er unter anderem auf die politisch motivierten Romane des älteren der beiden Brüder an, auf „Professor Unrat” und „Der Untertan”2 zum Beispiel. Thomas Mann (1875–1955) stand damit und mit seinem bis heute stark beachteten Buch „Betrachtungen eines Unpolitischen”3 aus demselben Jahr in jener geistigen Tradition des 18. und 19. Jahrhunderts, die der kulturellen Identität der Deutschen einer politischen gegenüber den Vorzug gab. Bis 1918 war es nicht gelungen, ein einiges Deutschland zu schaffen, das die Kleinstaaterei überwunden und ein breites politisches Nationalbewusstsein hätte bewirken können. Auch die Reichsgründung von 1871 leistete dies nur oberflächlich; bei aller formalen „Demokratisierung” (zum Beispiel durch das in der Reichsverfassung festgeschriebene allgemeine gleiche und geheime Wahlrecht) sicherte sie vor allem den Fortbestand des Feudalismus und die Vorherrschaft des mancherorts verhassten Preußen. Deshalb leiteten insbesondere die Intellektuellen die deutsche Identität aus dem reichen kulturellen Leben ab, das vor allem in der Zeit der deutschen Klassik, der Romantik und des Idealismus eine Fülle an bis heute auch international bewunderten Leistungen hervorbrachte. 

Das Politische wurde mit dem Zivilisationsbegriff gleichgesetzt, den Thomas Mann, Stefan George, Rainer Maria Rilke, Richard Strauss und viele andere Vertreter der deutschen Hochkultur noch in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts pejorativ verwendeten, während die deutsche Kultur das Qualitäts-Siegel von höchster Intelligenz, Phantasie und von „Tiefe” trug. Wolf Lepenies, der Soziologe und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, schreibt dazu in seinem Buch „ Kultur und Politik – Deutsche Geschichten”: „Deutsche Tiefe gegen westlichen Rationalismus auszuspielen – das hieß, den alten Gegensatz von Kultur und Zivilisation aufzufrischen.”4 Und in einem späteren Kapitel, in dem er sich mit den Büchern des Anthropologen Helmuth Plessner (1892 – 1985) befasst (vor allem mit dem 1935 im holländischen Exil geschriebenen „Das Schicksal des deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche”, das 1959 unter dem Titel „Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes” Berühmtheit erlangte)5, kennzeichnet er die Abneigung des deutschen Bürgertums gegen alles Politische mit folgenden Worten: „Die Gefahr des sentimental überhöhten Kulturbegriffs lag darin, dass er politisches Handeln zu einer Aktivität niederen Ranges herabstufte.“6 Der Kulturpolitiker Carlo Schmid (1896 – 1979), einer der Väter unseres Grundgesetzes, bestätigt diesen Befund und schreibt dazu: „Man entwickelte eine regelrechte Metaphysik der ,Tiefe’, man war stolz darauf, dass wir Deutschen besonders tief seien, im Gegensatz zu den Menschen der schönen Oberfläche, und mancher vergaß dabei ein bitteres Wort Nietzsches aus dem ,Zarathustra’, der von diesen Ideologen der Tiefe sagt, sie trübten oft ihr seichtes Wasser, damit es tief erscheine.”7 

Die deutsche Wertehierarchie führte „von den Höhen der Kultur zu den Niederungen der Politik” und war mehr als ein Jahrhundert lang prägend für die Trennung zwischen Denken und Handeln, Geist und Macht. Dazu wiederum Carlo Schmid: „Die deutsche Geschichte ist charakteristisiert durch einen verhängnisvollen Absentismus der Bildungsschichten von der Politik, wobei Politik bedeutet ( … ) die Gestaltung der Inhalte und Formen der Lebensordnungen der Nation.”8 Diesen „Absentismus” hat zu Beginn des letzten Jahrhunderts der liberale Theologe, Schriftsteller und Politiker Friedrich Naumann (1860 – 1919) in seinen Reden und Schriften immer wieder angeprangert; er sah darin ein für die deutsche Nation lange Zeit schicksalhaftes Versagen des Bürgertums. Paul Gert von Beckerath schreibt dazu: „Naumanns Vorwürfe richten sich vor allem gegen die Schicht der Gebildeten, denen das politische Kleinhandwerk in Ausschüssen und politischen Ortsvereinigungen inferior erscheint. Sie betrachten Politik als ,schmutzig’ und beschwören die Gefahr herauf, dass durch ihr Fernbleiben vom Alltag der Politik diese zu einem ungebildeten Tun wird. Damit kann die ,Kluft zwischen Staatsbürgertum und Bildungsideal so breit werden, dass man schließlich von einem Menschen, der sich den öffentlichen Dingen widmet, glaubt, extra versichern zu müssen, dass er trotzdem nicht ungebildet sei’.”9 

Kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe war es, der die Unvereinbarkeit von Politik und Kultur besonders in seinen späten Jahren immer wieder betont hatte; auf ihn beriefen sich deutsche Intellektuelle, wenn sie dem Diktum Thomas Manns, Politik sei ein schmutziges Geschäft und verderbe den Charakter, Nachdruck verleihen wollten. Der Historiker Gordon A. Craig (1913 – 2005) schreibt: „Und von Frederic Soret erfahren wir, dass der Gedanke an den Tod ihm [Goethe] weniger Sorgen bereitete als ,die Wichtigkeit, die man jetzt politischen Fragen auf Kosten der Literatur und der Wissenschaft beilegt’. Die Intensität seiner Empfindungen in diesem Punkt trug zweifellos dazu bei, dem antipolitischen Ressentiment, zu dem sich im 19. Jahrhundert so viele Deutsche bekannten, Legitimität zu verschaffen.”10 Wolf Lepenies hat ausführlich dargelegt, dass dieses Ressentiment in weiten Kreisen der deutschen Intelligenz bis tief in die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg erhalten blieb. 

Mit dem Ende der Fünfziger und dem Beginn der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts wandelte sich das Verhältnis der Westdeutschen zur Politik. Das liberale Grundgesetz, die Demokratie und vor allem die Erfolge der sozialen Marktwirtschaft erfuhren bei der Mehrheit des Volkes Anerkennung; es entwickelte sich eine politische Normalität, die durchaus mit der in anderen westlichen Staaten vergleichbar wurde. Die Kultur als positiver Gegenpol zur Politik büßte allmählich ihre Leitfunktion und ihren überragenden Nimbus ein; sie war nun nicht mehr mit Vorrang für ein nationales Selbstbewusstsein des deutschen Bürgertums maßgeblich. Politik und Demokratie verloren mehr und mehr ihr negatives Image, wozu das Ansehen integrer und respektabler Politikerpersönlichkeiten wie Theodor Heuss, Konrad Adenauer und Kurt Schumacher ganz wesentlich beitrug. 

Diese Situation veränderte sich zunächst auch in den Jahren nach der Wiedervereinigung von 1989 nicht. Erst um die Jahrtausendwende kam vor allem im Osten Deutschlands eine demokratie-skeptische Stimmung auf, die mit einer rückwärtsgewandten, irrationalen Nostalgie verbunden ist und eine spießbürgerlich-sozialistische Kultur zu einer Art verlorenem Paradies stilisiert. Indessen kennzeichnet diese Stimmung auch eine Trotzreaktion auf enttäuschte Erwartungen, die mit dem kapitalistischen Westen Deutschlands das Schlaraffenland verbunden und die „blühenden Landschaften” als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung missverstanden hatten. Die Akzeptanz einer demokratischen Kultur mag darunter für eine Übergangszeit leiden, auf Dauer dürfte sie sich aber in gleicher Weise stabilisieren, wie dies in den sechziger und siebziger Jahren in der alten Bundesrepublik der Fall war. 

Der hier vorliegende Text will das Verhältnis von Kultur und Politik vor allem in Deutschland, wie es sich im Bezug auf einschlägige Begriffe und Zusammenhänge darstellt, untersuchen. Besonderes Interesse finden dabei dem politischen Liberalismus und seiner Geschichte verpflichtete Befunde und Fragestellungen. Es werden sowohl die historische Entwicklung der Kulturpolitik bzw. des Verhältnisses von Kultur und Politik als auch damit verbundene inhaltliche Aspekte des Begriffspaares ins Auge gefaßt. Auf eine fortlaufende Argumentation und eine entsprechende stringente Systematik wird verzichtet, damit die einzelnen Kapitel jeweils auch für sich stehen können. Diese Vorgehensweise soll gleichzeitig dazu dienen, aus den unterschiedlichen Aspekten der Kulturpolitik je spezifische Veranstaltungen bzw. Bausteine für Veranstaltungen abzuleiten, mit deren Hilfe das komplexe Thema in der politischen Bildung vermittelt werden kann. Aus der Fülle an Literatur, die sich zu dem hier Behandelten auffinden läßt, wurden neben allgemein anerkannten Informationen Texte herangezogen, die nach Ansicht des Verfassers besonders prägnante und/oder originelle Aussagen zum Thema enthalten. Autoren sowie Begriffe und ihre Definitionen, die insbesondere einer liberalen und demokratischen Politikauffassung verpflichtet sind, wurden vor allem berücksichtigt. 

Die Zitate stammen sämtlich aus der im Anhang verzeichneten Literatur. Über Bücher und Schriften hinaus, die im Text zitiert werden, enthält das Verzeichnis nur allgemein hilfreiche Literatur zum Thema „Kulturpolitik” und zu den einzelnen Kapiteln dieser Arbeit. Es wird bewusst darauf verzichtet, Vollständigkeit anzustreben. Für Informationen, Anschriften und Links von Verbänden und Institutionen im Bereich der Kultur sei verwiesen auf das von Schneider/ Götzky im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebene „pocket kultur”11. Über aktuelle Entwicklungen und Diskussionen im Bereich der Kulturpolitik informiert die alle zwei Monate erscheinende Zeitung des Deutschen Kulturrates „kultur und politik”; sie kann im Internet über die Adresse www.kulturrat.de bestellt oder heruntergeladen werden. Außerdem gibt der Kulturrat einen nahezu täglich erscheinenden Newsletter heraus, der kostenlos abonniert werden kann. Ebenfalls kostenlos erhältlich ist der Newsletter des Kulturstaatsministers über die Adresse webmaster@kulturportaldeutschland.de. Im Internet präsentieren sich die nationale und die internationale Kulturszene auf zahlreichen Plattformen, zum Beispiel auf www.kultiversum.de. 


1 Vgl. dazu: Wolf Lepenies: Kultur und Politik – Deutsche Geschichten. München und Wien 2006. S. 15 ff., S. 33. 

2 Heinrich Mann: Professor Unrat. 1904. Reinbek 1994. Ders.: Der Untertan. 1914. Frankfurt am Main 2008. 

3 Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen. 1918. Frankfurt am Main 1956. 

4 Lepenies a.a.O. S. 292. 

5 Helmuth Plessner: Die verspätete Nation – Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes. 1935. Stuttgart 1959. 

6 Lepenies a.a.O. S. 407. 

7 Carlo Schmid: Politik und Geist. Hannover 1964. S. 45. 

8 Schmid a.a.O. S. 43. 

9 Paul Gert von Beckerath / Annerose Gröppler: Der Begriff der sozialen Verantwortung bei Friedrich Naumann. Bonn 1962. S. 39. 

10 Gordon A. Craig: Die Politik der Unpolitischen – Deutsche Schriftsteller und die Macht 1770- 1871. München 1993. S. 16. 

11 Wolfgang Schneider/ Doreen Götzky: pocket kultur – Kunst und Gesellschaft von A bis Z. Bonn 2008. 


Der Begriff „Kultur“ 

Im Laufe der Jahrhunderte sind mit dem Begriff „Kultur” recht vielfältige Bedeutungen verbunden worden. In der Antike (Cicero: cultura animi als Pendant zur cultura agri) wird darunter die Pflege der geistigen Beziehungen zwischen den Menschen verstanden; parallel zur Pflege und Veredelung der Äcker – heute noch im Begriff „Agrikultur” aufgehoben-, die dem Menschen sein physisches Auskommen sichern. Der römische Philosoph Lucius Annaeus Seneca (1 – 65) hat dies wie folgt ausgedrückt: „Wie auch ein Acker, mag er noch so fruchtbar sein, ohne Pflege keine Früchte hervorbringen kann, so ist es auch mit dem Geist ohne Kultur bestellt.”  Der Pflege und Verfeinerung kulturellen Lebens widmeten sich die Römer in ihrer klassischen Zeit meist im Rahmen des otium, der tätigen Muße, der sie in feinsinnigem sprachlichen Duktus das negotium, die Pflicht entgegenstellten. Dieses Verständnis und Verhalten findet sich bis heute vor allem in bürgerlichen Gesellschaften, die Kultur häufig mit künstlerischer Kreativität und mit Rezeption von Kunst gleichsetzen. 

Daß „Kultur” freilich nur schwer zu definieren ist und dass sie zwischen mancherlei Zuschreibungen und Bedeutungen oszilliert, hat der Journalist und Literat Gert Heidenreich in einem Aufsatz mit dem Titel „Zur Lage der Kultur im vereinten Deutschland” sehr prägnant deutlich gemacht: „Wer von Kultur zu sprechen unternimmt, der muß und darf sich auf Unordnung einlassen – in vielfachem Sinn: auf jene individuelle, die aller Kreativität zugrunde liegt und aus der sich die innere Ordnung eines Kunstwerks entwickelt; auf jene begriffliche, die sich dadurch auszeichnet, dass der eine unter Kultur die Gesamtheit der Lebensäußerungen versteht, der andere nur die vereinbarten Sitten, der eine die Werke der Künstler, der andere die allgemein anerkannten Werte und Widersprüche einer Nation. Das Wort ist längst ins Beliebige geweitet, von der Fahrkultur bis zur Streitkultur reichen die Versprechungen und Wünsche stets ins Ungewisse. Die Beschwörung politischer Kultur hilft ihr nicht zur Erscheinung, und nur der Biologe vermag, was selbst absolutistischer Herrschaft verwehrt bleibt: eine Kultur ansetzen.” Worauf immer sich also die geistigen Beziehungen zwischen den Menschen richten, schnell ist das Wort „Kultur” zur Hand, um ihnen einen wenn auch häufig unscharfen Namen zu geben. Viele andere als die von Heidenreich angeführten, mit Kultur zusammengesetzten Substantive ließen sich dafür anführen – Esskultur, Wohnkultur, Diskussionskultur, Unternehmenskultur und Spielkultur sind nur einige weitere. Bleiben wir also bei der Gesamtheit der geistigen Beziehungen zwischen den Menschen als Sammelbegriff für alles, was mit Kultur gemeint sein kann. 

Von Epoche zu Epoche haben sich die Grundlagen und die sozialen Bedingungen, die für die „kultivierte” Pflege der geistigen Beziehungen wichtig sind, verändert und immer weiter ausdifferenziert. Dies zeigt sich besonders in der Entwicklung des Bildungsbegriffes; eine möglichst umfassende Bildung des Menschen wird im Zuge der Aufklärung im 18. und 19. Jahrhundert, etwa bei Wilhelm von Humboldt und John Stuart Mill, zur entscheidenden Voraussetzung für Freiheit und Fortschritt; sie wird Bedingung der Möglichkeit einer menschenwürdigen Kultur schlechthin, conditio sine qua non, welche ihrerseits zur Formung einer eigenverantwortlichen moralischen Persönlichkeit unverzichtbar ist. 

Dieses dialektische Verständnis von Bildung verändert sich im laufe der industriellen und technischen Entwicklung signifikant; im Informations-Zeitalter unserer Gegenwart findet es seine Bestätigung eher im umgekehrten Sinne: Je stärker sich eine „Wissensgesellschaft’’ etabliert, desto wichtiger wird Bildung für die erfolgreiche Gestaltung des Lebens – freilich nicht mehr im Sinne des humanistischen Bildungsideals, sondern eher in einem technischen Sinn: die Bildung des Individuums dient nicht mehr in erster Linie einer humanistischen Kultur der Gesellschaft, sie wandelt sich vielmehr zur Berufsausbildung und zielt vor allem auf die Aneignung von Fähigkeiten zur Bewältigung immer umfangreicher und komplizierter werdender berufsbezogener Anforderungen. Je anspruchsvoller eine solche Ausbildung wird, desto weniger Menschen sind allerdings in der Lage, sie erfolgreich abzuschließen, zumal unser Bildungssystem mit der rasanten Entwicklung der modernen „High-Tec-Community” kaum mithält. Und je mehr Menschen „durch das Raster fallen”, das notwendige Niveau also nicht erreichen, desto schwieriger wird es, die wachsende Anzahl von weniger und schlecht Gebildeten in die Gesellschaft zu integrieren, zumal die einfache Arbeit mehr und mehr durch rationelle technische Verfahren und Automatisierung ersetzt wird. Es entstehen sogenannte Randgruppen, die mit der modernen Entwicklung nicht mithalten können oder wollen und eine eigene „Subkultur” generieren. Soweit die dieser Subkultur Zugehörigen sich aus den Gruppen der Zukurzgekommenen oder Zurückgebliebenen rekrutieren, werden sie auch als „Modernitäts-Verlierer” bezeichnet. Verschärft wird die Integrations-Problematik inzwischen durch eine neue Randgruppe, die man „Globalisierungs-Verlierer” nennt. Sie ist einerseits globalen ökonomischen Prozessen, die neue berufliche Qualifikationen und vielseitige Flexibilität erfordern, nicht gewachsen, entsteht aber andererseits auch durch Migration und den „Kampf der Kulturen”, der Ghettoisierungen und gar gewalttätige Auseinandersetzungen zeitigt, wenn interkulturelle Integration nicht gelingt. Häufig sind die betroffenen Gruppen vom mit der Globalisierung verbundenen interkulturellen Wandel überfordert und versuchen dieser Überforderung durch Aggressivität und Fundamentalismus zu begegnen. Zu einem Teil erklärt sich daraus sowohl das gewalttätige Aufbegehren rechtsnationalistischer Gruppierungen als auch der intolerante Extremismus religiös motivierter Fanatiker. 

Einzelne Segmente aus dem Reservoir der Modernitäts- und Globalisierungsverlierer haben aufgrund ihrer als aussichtslos empfundenen Situation oder aufgrund von meist diffusen Protestmotiven die latente Neigung, kriminelle und/oder extremistische Milieus auszubilden, die eine friedliche und tolerante gesellschaftliche Kultur attackieren. Diese Neigung kann leicht manifest werden und sich in immer bedrohlicherem Maße etablieren, wenn Desintegration bildungsferner und ausgegrenzter Schichten chronisch wird, weil Staat und Gesellschaft keine wirksamen Strategien und Instrumente dagegen zur Hand haben. Die Marxsche Diagnose vom „Lumpenproletariat”, das mangels politischen Bewusstseins für die reflektierte politische Praxis ungeeignet sei, scheint sich einerseits zu bestätigen, andererseits können solche Milieus für die Ziele extremistischer Parteien und Konzepte leicht instrumentalisiert werden. Walter Erbe (1909 – 1967), der schwäbische Kulturpolitiker und erste Vorstandsvorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung, hat schon 1953 über die Opfer von mangelhafter Bildung und Ausbildung geschrieben: ,,Sie können lesen, aber schon an der nächsten Straßenecke werden sie (…) eine leichte Beute jeder Propaganda, eines jeden ,Gehirnfusels’, um ein drastisches Wort von Balzac zu gebrauchen.” Eine freiheitliche und friedliche Kultur ist dadurch ernsthaft gefährdet; die Aufmärsche von Neonazis und sogenannter autonomer Protest-Gruppen, aber auch die Auswüchse von scheinbar religiös motiviertem Fundamentalismus sind vor allem angesichts ihrer Gewaltbereitschaft ein bedrohliches Zeichen. Der liberale Soziologe Ralf Dahrendorf (1929 – 2009) schrieb in diesem Zusammenhang schon 1987: „Die Frage ist, wie man diejenigen, die zurückgeblieben oder vom fahrenden Schiff gefallen sind, an Bord bringt.” 

Ein anspruchsvoller Begriff von „Kultur” – sei es im Sinne Wilhelm von Humboldts oder der Implikationen einer modernen Wissensgesellschaft – hat also seine Kehrseite: Er neigt stets dazu, diejenigen auszugrenzen, denen es nicht gelingt, die hochgesteckten Ziele zu erreichen und im inzwischen weltweit beschleunigten Wandel der Verhältnisse zu bestehen. Es ist deshalb zum Zwecke einer Integration möglichst aller gesellschaftlichen Milieus geeignete Vorsorge zu treffen, damit keine allzu tiefe und gefährliche Kluft zwischen „denen da oben und denen da unten” entsteht. Derzeit scheint diese Vorsorge angesichts immer wieder aufflackernder Gewalt von ausgegrenzten Gruppen und einer sich zuspitzenden Armutsproblematik nur sehr unvollkommen zu gelingen. 

Häufig werden die beiden Begriffe „Kultur” und „Natur” in analytischen Untersuchungen und Erörterungen einander gegenübergestellt; der Mensch greife handelnd in die Natur ein und mache sich „die Erde untertan” – insofern bediene er sich der Natur gewissermaßen als Materialfundus und gestalte nach seinen Maßgaben eine humane Umwelt und Kultur. Paul Luchtenberg (1890 – 1973), der ehemalige Kultusminister von Nordrhein-Westfalen und Vorstandsvorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung von 1961 bis 1970, drückt es wie folgt aus: „Denn indem der Mensch die ihm verliehene geistig-sittliche Wesensart in Freiheit entfaltet, erobert er die Welt der Natur, um aus ihr und über ihr eine Welt der Kultur – eine geistig-sittliche Wirklichkeit in Wirtschaft und Gesellschaft. Sitte und Recht, Wissenschaft und Kunst, Philosophie und Religion – zu schaffen und so als enthüllender Fortsetzer des göttlichen Schöpfungswerks auf Grund der ihm gegebenen wesensgesetzlichen Möglichkeiten in Freiheit seine Würde selbst zu begründen.” 

Eine solche aus christlichem und aufgeklärtem Selbstverständnis resultierende Sicht menschlicher Autonomie und Moral sollte allerdings nicht verkennen, dass die Natur nicht nur Material für menschliches Handeln liefert, sondern diesem Handeln auch enge Grenzen setzt, die der Mensch nicht überschreiten kann oder darf, wenn er seine eigenen Lebensbedingungen nicht gefährden will. Insofern bedeutet Kultur stets pflegliches Handeln im Einklang mit den natürlichen Möglichkeiten. Wo im Einzelfall indessen die Grenzen dieser Möglichkeiten liegen – etwa in der Diskussion um die Biotechnik wird diese Frage besonders sinnfällig -, ist durchaus umstritten und hängt neben dem technisch Machbaren und ökologisch Zulässigen nicht zuletzt auch von den moralischen Maßgaben und Übereinkünften der Menschen ab. Dorothee Bauerle-Willert spricht in einem Beitrag für „liberal”, die Vierteljahreshefte für Politik und Kultur, aus dem Mai 2009 mit dem Titel „Die Kultur und die Freiheit” zurecht vom „vertrackten Verhältnis” zwischen Natur und Kultur. Diesem vertrackten Verhältnis zu entkommen, ist ein schwieriges Unterfangen. Es ist am ehesten realisierbar, wenn Kultur und Natur wenigstens analytisch voneinander geschieden werden. Der Verfassungshistoriker Ernst Rudolf Huber (1903 – 1990) legt ganz im Sinne von Paul Luchtenberg seiner Verfassungsinterpretation einen Kulturbegriff zugrunde, der die Gegenüberstellung von Natur und Kultur beibehält: „Von Kultur im substantiellen Sinne kann nur die Rede sein, wo der Mensch sich zu einem über die animalisch-biologische Existenz erhobenen humanen Dasein entfaltet hat, wo die menschlichen Daseinsformen nicht als bloße Mittel der Daseinssicherung und Daseinsregulierung dienen, wo sich vielmehr in Staat und Recht, in Wissenschaft und Kunst, in Sittlichkeit und Glauben ein über das vitale Dasein und seine Vergänglichkeit hinausweisender, in seinem Wesensgrund dauernder geistiger Wert manifestiert.”