Liberalismus und Lebenschancen – Von Kant zu Popper und Dahrendorf

Wenn von Liberalismus die Rede ist, geht es immer um die individuelle Freiheit. Wenn es um die Freiheit geht, sprechen wir von einem durchaus schwierigen Begriff. Zwar ist die Herkunft aus dem Lateinischen klar, Liberalismus ist von „libertas“, die Freiheit, abgeleitet. Wenn wir die Freiheit aber auf die Fähigkeit des Menschen beziehen, seine Entscheidungen aus freiem Willen treffen zu können, bewegen wir uns auf unsicherem Terrain. Wir wissen nämlich keineswegs, ob der Mensch diese Fähigkeit wirklich besitzt. Willensfreiheit läßt sich nicht beweisen. Ebensogut könnten die Entscheidungen des Menschen determiniert sein durch äußere Einflüsse, durch genetische Veranlagung oder durch kausale Vorgänge, durch den Prozeß von Ursache und Wirkung im Gehirn. Wenn wir aber auf Freiheit bestehen wollen, weil wir zum Beispiel meinen, daß die Autonomie und die Würde des Menschen davon abhängen oder daß frei entscheiden zu können die Voraussetzung ist für verantwortliches Handeln, dann müssen wir uns dogmatisch für die Freiheit entscheiden. Im Sinne Immanuel Kants müssen wir kraft unserer Vernunft dem Menschen den freien Willen zuerkennen. Daß wir vernunftbegabt sind, ist die höchste Auszeichnung, die die Natur dem Menschen und keinem anderen Lebewesen auf der Erde verliehen hat. Dadurch ist er befähigt, selbst zu entscheiden, was richtig und was falsch ist, und auch, sich für die Freiheit zu entscheiden. Wenn wir sie aber dem einen Menschen attestieren, dann muß dies für alle anderen gleichermaßen gelten. Das Glaubensbekenntnis des Liberalismus, von dem all seine politischen Vorstellungen ausgehen, lautet demnach: „Alle Menschen sind auf gleiche Weise frei.“ Unter diesen Voraussetzungen nehmen wir unsere Freiheit in der Praxis wahr, indem wir selbstbestimmt entscheiden und selbstbestimmt handeln.

Aus Freiheit entsteht Vielfalt, denn die Menschen, wenn sie sich frei entscheiden können, handeln je nach ihren unterschiedlichen Prioritäten und Wertvorstellungen. In der Gemeinschaft mit anderen und weil allen die Freiheit in gleicher Weise zusteht, bedeutet dies aber, daß das Handeln des Menschen die Freiheit der Mitmenschen nicht behindern darf. Um nach diesen Prinzip leben zu können, bedürfen wir in Freiheit getroffener Übereinkünfte oder Verträge, an die alle zu halten sich verpflichten. Und wir verpflichten uns zugleich der Toleranz, die den anderen die gleiche Freiheit zugesteht wie uns selbst. Wenn aber von Toleranz die Rede ist, geht es wieder um einen schwierigen Begriff. Toleranz ‚ vor allem im politischen Verständnis, ist kein Freibrief für Beliebigkeit, denn Toleranz hat ihre Grenzen einerseits in den Vorschriften der Gesetze und andererseits im Verhalten der Menschen untereinander. Toleranz ist ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Wenn ich Toleranz üben soll, habe ich den Anspruch, daß die anderen auch mir gegenüber Toleranz üben. Intolerantes Verhalten muß ich nicht dulden, im Gegenteil: Um nicht als „nützlicher Idiot“ zu gelten, muß ich ihm mit aller Deutlichkeit die Stirn bieten. Der Stuttgarter Philosoph Franz Josef Wetz hat dieses Prinzip in den anschaulichen Satz gekleidet: „Toleranz schließt so wenig Toleranz gegen Intoleranz ein, wie Freiheit nicht zur Abschaffung von Freiheit mißbraucht werden darf.“ Die individuelle Freiheit ist in diesem Sinne der Grundwert des Liberalismus, der anderen Werten gegenüber eine Leitfunktion besitzt. Um der Freiheit willen fordern die Liberalen zum Beispiel den Rechtsstaat und die Demokratie. Nicht weil sie den gleichen Wert wie die Freiheit hätten, sondern weil mit ihrer Hilfe gemäß unserer bisherigen Erfahrung die Freiheit des Einzelnen am ehesten und am besten realisiert werden kann.

Freiheit ist freilich nicht der einzige Wert, dem die Geschichte der demokratischen Entwicklung grundsätzliche Bedeutung beigemessen wird. Bis heute rankt sich diese Grundwertdiskussion um die Trias aus der Französischen Revolution von 1789: liberte, égalite, fraternité, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. In Deutschland haben sich die Begriffe im Laufe der politischen Entwicklung verändert. Häufig wird von den Grundwerten „Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität“ gesprochen. In der Regel wird die dabei dem individuellen Bereich zugeordnet, als Freiheit des Einzelnen, die Gleichheit oder Gerechtigkeit hat der Staat gewährleisten, und die Brüderlichkeit oder die Solidarität sind Attribute der Gesellschaft aus der sich im klassischen Verständnis der Staat fernhalten soll; dieses Verständnis finden wir heute noch im Gedanken der Subsidiarität. Allerdings ist anzumerken, daß in einem modernen Sozialstaat, wie er vom Grundgesetz gefordert wird, solidarische Leistungen inzwischen er Verantwortung des Staates liegen. Zum Beispiel in der Rentenversicherung im Bereich der sozialen Grundsicherung. Hier handelt es sich in der Sprache des liberalen Soziologen Ralf Dahrendorf um soziale Anrechte, für deren der Staat zu sorgen hat. Ob und wie solidarisches Zusammenleben ohne Zutun des Staates in der Gemeinschaft organisiert werden kann und sollte, ist eine Frage, die in den letzten Jahrzehnten intensiv vom Kommunitarismus diskutiert wird.

Häufig ist vor allem in den 1970er Jahren in Deutschland die Frage gestellt worden, in welchem Verhältnis die drei klassischen zueinander stehen. Während zum Beispiel sozialdemokratische Vorstellungen von einer Gleichrangigkeit, gelegentlich auch von einem Vorrang der (sozialen) Gerechtigkeit, ausgehen, bestehen Liberale auf dem Vorrang der Freiheit des Einzelnen. Ralf Dahrendorf hat in der Tradition seines Lehrers Karl Popper stets darauf bestanden, daß die politische Entwicklung und ihre lnstitutionen vom Standpunkt der Freiheit aus bewertet werden müßten. Insofern ergibt sich in der kontroversen politischen Diskussion ein Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit und Freiheit. Freiheit führt zur Ungleichheit. Ungleichheit aber kann zu ungerechten Verhältnissen führen, wenn der Staat nicht regulierend eingreift. Solche Eingriffe sind indessen stets der Zankapfel zwischen Liberalen und Sozialdemokraten oder der christlichen Soziallehre. Während die Liberalen staatliche Regulierung so weit als möglich eindämmen wollen, damit die Menschen nicht von Staats wegen gegängelt und ihrer Freiheit in zu hohem Maße beraubt werden, befürworten auf mehr Gleichheit zielende Vorstellungen stärkere staatliche Eingriffe um der sozialen Gerechtigkeit willen.

Allerdings gibt es Formen der Gleichheit, die auch von den Liberalen als „Bedingung für die Verfassung der Freiheit“ (Dahrendorf) angesehen werden. Im wesentlichen kann man sie auf dreierlei eingrenzen: Um der Freiheit willen sind nötig: 1. die politische Gleichheit, 2. die rechtliche Gleichheit und 3. die soziale Gleichheit. Die politische Gleichheit bezieht sich auf das Wahlrecht, das Recht der freien Meinungsäußerung, das Versammlungsrecht etc. Die rechtliche Gleichheit fordert die Gleichheit aller vor dem Gesetz. Die soziale Gleichheit meint die Chancengleichheit, gelegentlich auch die Chancengerechtigkeit. Während die ersten beiden Formen der Gleichheit auch bei den Liberalen im großen und ganzen unstrittig sind, gibt es dort über die dritte immer wieder lebhafte Diskussionen. Was zum Beispiel muß und darf der Staat tun, um Chancengleichheit herzustellen? Wo liegt die Grenze zwischen legitimer staatlicher Hilfestellung und freiheitswidrigem staatlichem Zwang? Ist zum Beispiel der zur Teilnahme an staatlicher oder vom Staat kontrollierter Bildung um der Chancengleichheit willen legitim oder nicht?“ Sind materielle Zuwendungen ohne Gegenleistung der Empfänger vertretbar oder nicht? Gerade an der bedingungslosen Grundsicherung scheiden sich in unseren Tagen wieder die liberalen Geister. Während die meisten sie ablehnen, weil sie zu Schmarotzertum und Lähmung der individuellen Initiative führe, war Ralf Dahrendorf der Meinung, daß „ein garantiertes Mindesteinkommen“ für alle ein soziales Anrecht sei, genauso wie die Bildung als Bürgerrecht verstanden werden müsse; in einer vom Ideal der Freiheit geprägten Gesellschaft verbiete es sich, Menschen unwürdigen materiellen Bedingungen und entwürdigenden staatlichen Kontrollen auszuliefern: „Das garantierte Mindesteinkommen ist so notwendig wie die übrigen Bürgerrechte, also die Gleichheit vor dem Gesetz oder das allgemeine, gleiche Wahlrecht.“

In der Praxis haben die deutschen Liberalen indes häufig sozialen Anrechten zugestimmt, die zur Überforderung des Sozialstaates geführt haben. Gegen die wohlfahrtsstaatlichen Konzepte der großen Volksparteien haben sie sich nur selten durchsetzen können. Spätestens seit der großen Finanzkrise von 2008/09 hat sich gezeigt, daß überbordende Staatsverschuldung auf Dauer kein Konzept sein kann, das eine freiheitliche Entwicklung befördert. Im Gegenteil: Nicht nur in den südeuropäischen Ländern führen die Reparaturmaßnahmen am hochverschuldeten Staatsapparat zu gravierenden Freiheitseinschränkungen vor allem der am wenigsten belastbaren Bevölkerungsschichten. Obgleich vor allem in ökonomisch schwierigen Zeiten Einschränkungen der sozialen Gleichheitsrechte nach demokratischer Maßgabe nur schwer zu vermeiden sind, darf die staatsbürgerliche Gleichheit vom Grundsatz her nicht in Frage gestellt werden. Und Einschränkungen müssen von allen gleichermaßen gefordert werden. Es ist nicht akzeptabel, daß einerseits Renten und Gehälter gekürzt werden, andererseits aber der Kapitalflucht ins Ausland nicht Einhalt geboten wird. Die Anrechte der Menschen, ihre vom Staat zu gewährleistenden Bürgerrechte, auf denen das Zusammenleben fußt, sind in von Recht und Gesetz beherrschten Staaten in einem Vertragswerk geregelt, das gemeinhin Verfassung genannt wird. In Deutschland nennen wir unsere Verfassung das Grundgesetz, weil eine Verfassung der Zustimmung des gesamten deutschen Volkes vorbehalten sein sollte. Insofern gibt es hier, nach der Wiedervereinigung, eine offene Rechnung, die allerdings kaum jemand begleichen zu wollen scheint. Den in Verfassungen postulierten Grund-und Bürgerrechten, die in der Geschichte des Libemllsmus um der Freiheit willen gefordert und durchgesetzt wurden, hat einer der amerikanischen Verfassungsväter, Thomas Paine, 1790 den schönen Namen „Grammatik der Freiheit“ gegeben. Er schreibt dazu: „Was die Grammatik für die Sprache ist, sind die amerikanischen Verfassungen für die Freiheit.“ Die Regeln nämlich, nach denen das Zusammenleben freier Menschen strukturiert wird.

Der Freiheitsbegriff ist weltweit positiv konnotiert. Er wird sowohl in kulturellen als auch politischen Zusammenhängen von ganz unterschiedlichen Institutionen und Personen in Anspruch genommen und dient ganz unterschiedlichen, zum Teil gar gegensätzlichen Interessen. Häufig wird seine Bedeutung gar nicht oder nur ganz verschwommen klar, etwa wenn in populären Schlagertexten von der Freiheit die ist. „Über den Wolken muß die Freiheit Wohl grenzenlos sein.“) In der Politik verwenden alle Parteien von Links (Sarah Wagenknechts Buch: Freiheit statt Kapitalismus) bis Rechts (Wochenzeitung Die junge Freiheit). Wenn die Freiheit von extrem linker oder rechter Ideologie in Anspruch genommen wird, soll sie dort nur unter bestimmten apodiktischen Bedingungen realisierbar sein, etwa wenn sozialistische oder nationalistische Voraussetzungen gegeben sind. Sie ist also von vornherein Einschränkungen ausgeliefert, die den liberalen Freiheitsgedanken ad absurdum führen.

Um der verwirrenden Unschärfe des Freiheitsgebrauches im Alltag zu entgehen, ist es hilfreich, philosophische Aspekte des Begriffes zu betrachten. Auf Immanuel Kant wurde bereits hingewiesen. Er zählt die Willensfreiheit zu den „Antinomien“, den Begriffen, die nicht rational beweisbar sind, wie etwa auch die Existenz Gottes oder ein Leben der Menschen nach dem Tod. Freiheit existiert für Kant nur als „Postulat der Vernunft“, also kraft der Entscheidung des autonomen Menschen für seine Freiheit und die daraus resultierende Verantwortung. Aus der Verantwortung wiederum nicht nur für sich, sondern letztlich für alles Handeln in der Welt resultiert der Kategorische lmperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie zu einem allgemeinen Gesetz werde.“ Umstrittene Leugnung des Dualismus von Geist und Materie Im Gegensatz oder auch in Ergänzung zu diesem rein vernunftbezogenen Freiheitsverständnis haben andere Denker und vor allem viele Künstler den Existenznachweis der Freiheit auch mit Hilfe ihres gefühlten Wertes geführt. In diesem Sinne hat sich schon Friedrich Schiller kritisch zu Kant geäußert, und ein moderner Kantianer, der Philosoph und Herausgeber der Kant-Ausgabe im Suhrkamp-Verlag, Wilhelm Weischedel, schreibt dazu in seinem wunderbaren Buch Skeptische Ethik: „Der Mensch lebt in dem Gefühl, umso mehr Mensch zu sein, je weiter der Spielraum seiner Freiheit reicht.“ Nicht verschwiegen werden soll allerdings, daß es in der modernen Hirnforschung viele seriöse Wissenschaftler gibt, unter ihnen der Frankfurter Neurobiologe Wolf Singer, die dessen Aussage zustimmen: „Freiheit ist nur eine Illusion.“ Für sie determiniert unser Gehirn, ohne daß es in unser Bewußtsein dringt, unsere Entscheidungen und spiegelt uns die Freiheit nur auf eine „perfide“ Art und Weise vor. Es gibt eine Reihe wissenschaftlicher Experimente, die eine solche Sichtweise nahelegen oder gar beweisen sollen, ausgehend von den Experimenten des amerikanischen Psychiaters Benjamin Libet aus den achtziger Jahren, die freilich ihrerseits viel Kritik erfahren haben.

Die wissenschaftliche Leugnung des Dualismus von Materie und Geist ist durchaus umstritten. Karl Popper etwa, der Autor des für den Liberalismus wegweisenden Werkes „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, weist darauf hin daß es nirgendwo den „totalen Reduktionismus“ gibt, also nirgends, auch und gerade im Gehirn nicht eine vollständige Analyse von wissenschaftlich darstellbaren Prozessen nach dem kausalen Prinzip von Ursache und Wirkung möglich ist (,,Emergenz-Theorie“). Insofern befinden wir uns sowohl bei den Verfechtern des Dualismus als auch in der Neurobiologie von Wolf Singer und anderen Forschern zu einem Gutteil im Reich der Spekulation. Wenn wir die Freiheit wollen, kommen wir um die Entscheidung gegen die Notwendigkeit im Sinne von Immanuel Kant nicht herum.

Es ist allerdings wichtig, darauf hinzuweisen, daß beim Gebrauch des Freiheitsbegriffes stets zwischen Willensfreiheit und Handlungsfreiheit zu unterscheiden ist. Die Frage nach der Willensfreiheit zielt auf ein grundsätzliches Vermögen des Menschen, während seine Handlungsfreiheit von mancherlei materiellen und intellektuellen Hindernissen eingeschränkt ist. Nicht nur unsere Körperlichkeit und unsere Endlichkeit begrenzen unsere Handlungsfreiheit, auch psychische Dispositionen, die zum Beispiel auf Erziehung, Erfahrung und Zweckmäßigkeit zurückzuführen sein mögen, schränken sie bis auf ein sehr limitiertes Maß ein. Anschaulich ausgedruckt ist dies in dem Gemeinplatz „Niemand kann über seinen Schatten springen”, der sowohl auf Materielles wie auf Geistiges zielt.

Eine wichtige Rolle in den Überlegungen philosophischer und politikwissenschaftslicher Autoren spielt die Frage, unter welchen Bedingungen wir von Freiheit sprechen können. Wenn von „negativer Freiheit„ die Rede ist, so ist die „Abwesenheit von (willkürlichem) Zwang“ ihre notwendige Bedingung. Die liberalen Theoretiker Friedrich August von Hayek und lsaiah Berlin zum Beispiel plädieren dafür, daß diese Abwesenheit schon eine hinreichende Bedingung von Freiheit sei. Andere (Immanuel Kant. Karl Popper, Ralf Dahrendorf, Wilhelm Weischedel) halten die Abwesenheit von Zwang zwar auch für eine notwendige, nicht aber für die hinreichende Bedingung für die Existenz von Freiheit. Für Ralf Dahrendorf wird sie erst zusammen mit konkreten „Lebenschancen“ hinreichend. Der „Freiheit wovon?“ müsse sich also die „Freiheit wozu?“ hinzugesellen. In diesem erweiterten Sinn seien auch diee Grundrechte unserer Verfassung zu verstehen, die beide Bedingungen abbilden. Zunächst als „Schutzrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat“ vom 17. Jahrhundert an konzipiert, seien sie inzwischen durch Anrechte ergänzt worden, aus denen konkrete Lebenschancen resultieren. Insofern repräsentieren vor allem die ersten 19 Artikel unseres Grundgesetzes einen dreifachen Anspruch, den der „Freiheit vom Staat“, der „Freiheit im Staat“ (Partizipation) und der „Freiheit durch den Staat“ (soziale Anrechte).

Wie ist nun der Begriff ,,Lebenschancen“ zu verstehen? Ralf Dahrendorf kommt in seinem Werk immer wieder darauf zu sprechen. Ursprünglich hat er ihn dem berühmten Soziologen Max Weber entlehnt, der ihn freilich in einem sehr eingeschränkten, vor allem materiell verstandenen Sinn benutzte. Insbesondere in seinem Buch Lebenschancen aus dem Jahr 1979 erweitert Dahrendorf diesen Begriff und versteht ihn nun als eine Ansammlung von Chancen der Wahl zwischen möglichst vielen Angeboten. Wobei wichtig ist, daß solche Angebote nicht nur wie ein vielfältiges Warenangebot zum Konsum einladen, sondern auch und vor allem die Chance bedeuten, eigene Initiative zu entfalten und damit zu reüssieren oder auch zu scheitern.

Allerdings sind Lebenschancen nicht nur „Optionen“, die eine freiheitliche Gesellschaft ihren Bürgern und Bürgerinnen bietet. Ein zweites Element ist ebenso wichtig und begründet erst die Wertevielfalt, die der unterschiedlichen Wahl zwischen den Optionen zugrunde liegt. Dahrendorf nennt dieses Element „Ligaturen“, Bindungen also, die zwischen Menschen entstehen, weil sie sich den gleichen oder ähnlichen Wertvorstellungen verpflichtet fühlen. Solche Bindungen existieren häufig als ,,ungefragte“, die durch Geburt, Erziehung, Sozialisation etc. zustande kommen. Den mündigen, emanzipierten Menschen zeichnen sie aber erst aus, wenn sie zu bewußten Wertentscheidungen werden. In diesem Sinne begründen Ligaturen eine pluralistische Gesellschaft, in der unterschiedliche moralische Konzepte, aber auch pragmatische Assoziationen miteinander konkurrieren oder nebeneinander bestehen.

Dem Appell der bewußten wertorientierten Bindung liegt wiederum die Philosophie Immanuel Kants zugrunde, vor allem seine Definition der Aufklärung: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Daß aber Ligaturen und Optionen erst gemeinsam zu Lebenschancen werden, die nicht nur auf Materielles, sondern auf Werte und auf Lebenssinn gerichtet sind, drückt Dahrendorf in einem knappen Satz aus: „Wenn alles gleich gültig ist, ist alles gleichgültig.“ Das Gleichgültige verschwindet erst, wenn den Optionen unterschiedlicher Wert beigemessen wird, wenn sie zu unterschiedlichen Ligaturen führen und eben nicht für jedermann gleich gültig sind. Auf Immanuel Kants Verbindung von Denken und Anschauung (,,Anschauung ohne Begriffe ist blind, Begriffe ohne Anschauung sind leer“) nimmt Dahrendorf unausgesprochen Bezug, wenn er die Symbiose der beiden Elemente der Lebenschancen auf andere Weise veranschaulicht: ,,Ligaturen ohne Optionen bedeuten Unterdrückung, während Optionen ohne Bindungen sinnlos sind.“ Objektive Wahrheit kann der Mensch nicht erkennen.

Wo immer von Freiheit die Rede ist, muß auch von ihren Grenzen die Rede sein. Karl Popper spricht vom „Paradox der Freiheit“ und meint damit, daß wir sie begrenzen müssen, um sie im Zusammenleben der Menschen zu realisieren. Der Umfang und die Absichten der Begrenzung sind freilich höchst unterschiedlich und führen in vielen Fällen zu einer Relativierung der Freiheit oder gar zur Unfreiheit. In vielen Ideologien und Religionen, im Absolutismus und Totalitarismus existiert Freiheit nur in den Grenzen von postulierten Wahrheiten, die nicht in Frage gestellt werden dürfen. Martin Luthers Freiheit eines Christenmenschen setzt die ungefragte Gültigkeit der biblischen Offenbarung voraus. Karl Marx hat seinem Modell historischer Entwicklung den dialektischen Dreischritt von der Herrschaft der Bourgeoisie über die Diktatur des Proletariats zur Klassenlosen Gesellschaft und zum „Reich der Freiheit“ als nicht zu hinterfragendes Prinzip unterlegt. Friedrich Engels sprach in diesem Zusammenhang im Rückgriff auf die Dialektik Hegels davon daß Freiheit „die Einsicht in die Notwendigkeit sei und führte den Freiheitsbegriff vollends ad absurdum.

Der liberale, säkulare Freiheitsbegriff zeichnet sich demgegenüber durch Übereinkünfte zwischen den Menschen aus, die demokratisch zustande gekommen sind und die demokratisch geändert werden können. Auch unser Grundgesetz kann mit einer Zweidrittelmehrheit des Bundestages geändert werden, wenn sich ändernde Zeiten und Umstände dies verlangen. Allerdings es Ausnahmen, die als „Ewigkeitsrechte“ festgeschrieben sind (Art. 79 mit Verweis auf Art. 1 und 20), desgleichen steht der „Wesensgehalt“ der Grundrechte (Art. 1–19) nicht zur Disposition einer Mehrheitsentscheidung. Sollte es Zweifel daran geben, ob in einzelnen Gesetzen dieser Wesensgehalt verletzt wurde oder nicht, hat das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden. Zum Wesensgehalt zählt auch die Freiheit des Einzelnen, die In Art. 2 garantiert ist: ,,Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“ Im Unterschied zu dogmatischen Festlegungen der Grenzen der Freiheit durch Religionen oder Ideologien und ihre Apologeten handelt es sich im liberalen und säkularen Verständnis von unveränderlichen Begrenzungen um einen demokratisch vereinbarten Rahmen dem ein allgemeiner Konsens zugrunde liegt, nicht jedoch um eine nicht hinterfragbare Wahrheit.

Das Ziel liberaler Politik richtet sich unter diesen Voraussetzungen immer auf mehr Freiheit. Das heißt auch: mehr Lebenschancen für mehr Menschen. Alle Maßnahmen, die Freiheit begrenzen, sind deshalb peinlich genau auf ihre Notwendigkeit hin zu untersuchen. Sollte auch nur der geringste Zweifel bestehen, daß solche Maßnahmen zum Beispiel für die Sicherheit von Leib und Leben der Menschen unbedingt nötig sind, so entscheidet sich der Liberale dagegen. „Im Zweifel für die Freiheit“, so hat es der liberale Rechtsphilosoph Werner Maihofer knapp und schlüssig formuliert. In der Praxis heißt das: soviel Regeln wie nötig, soviel Freiheit wie möglich.

In diesem Sinne bedeuten die Erweiterung individueller Freiheit und der Gewinn an Lebenschancen Fortschritt. Fortschritt aber nicht als harmonischer Zusammenklang gleichgerichteter Interessen, sondern als Ergebnis von Konflikt und Wettbewerb. Auch hier bezieht sich der Liberalismus, und speziell wieder Karl Popper und Ralf Dahrendorf, auf die kantische Philosophie. Für Karl Popper ist die „Falsifikation“ der Schlüssel zum Fortschritt. Sie bedeutet den permanenten friedlichen Konflikt zwischen einem erreichten Kenntnisstand und seiner Überwindung. Nach dem Prinzip:,,Das Bessere ist der Feind des Guten.“ Da der Mensch objektive Wa1hrheit nicht erkennen kann, muß er seine Erkenntnis immer wieder auf den Prüfstand stellen, um sich dem Irrtum nicht auszuliefern. Von Ralf Dahrendorf stammt dazu der Satz: „Da die Wahrheit uns verschlossen ist, brauchen wir die Institutionen der Auseinandersetzung, die die Dogmatisierung des Irrtums verbieten.“ Ausdrücklich bezieht sich Dahrendorf mit seiner Konflikt-Theorie wieder auf Immanuel Kant. In seinem Buch Auf der Suche nach einer neuen Ordnung aus dem Jahr 2003 überschreibt er das letzte Kapitel mit einem Kant-Zitat: „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“. Zum Konflikt als Motor des Fortschritts zitiert er aus der gleichnamigen kleinen Schrift des Königsberger Philosophen: „Es ist der Konflikt, der ,Antagonism‘ menschlicher Anlagen in der Gesellschaft, ja, die ,ungesellige Geselligkeit‘ des Menschen, die die Quelle des Fortschritts bilden. ( … ) ,Der Mensch will Eintracht, aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht.“‘ Es liegt an uns Menschen, auf dem Weg in die Zukunft der offenen Gesellschaft die Freiheit oder die Unfreiheit zu wählen, an keiner spirituellen oder metaphysischen Instanz. In seinem Buch Gesellschaft und Demokratie in Deutschland aus dem Jahr 1965 nennt Dahrendorf einige Instrumente, die uns bei der Befestigung einer „Verfassung der Freiheit“ helfen können: die bürgerliche Gleichheit; Rationalität in der Regelung (nicht der Lösung!) von Konflikten; eine (offene) liberale Elite die Vorherrschaft der öffentlichen Tugenden (Offenheit, Toleranz, Wahrhaftigkeit etc.). Wenn wir uns dieser Instrumente bedienen, handeln wir im Sinne dessen, was Karl Popper „eine liberale Religion“ nennt: ,,Meine Religion ist die Lehre von den Herrlichkeiten der Welt; von der Freiheit und der Schöpferkraft wunderbarer Menschen. Von dem Schrecken, dem Leiden, von den Verzweifelnden, denen wir beistehen können. Von dem vielen Guten und Bösen, das in der Geschichte der Menschheit geschehen ist und das immer wieder und immer noch geschieht … Im übrigen weiß ich nichts; und obwohl die wissenschaftliche Wahrheitssuche ein Teil meiner Religion ist, sind die großartigen wissenschaftlichen Hypothesen keine Religion. Sie dürfen es nicht sein.“