Ludwig Marcuse – ein liberaler Denker des 20. Jahrhunderts

Als Ludwig Marcuse am 2. August 1971 in Bad Wiessee starb, hatte Deutschland einen seiner unabhängigsten Denker verloren; einen Philosophen, der zeitlebens immer wieder von Geistesströmungen der verschiedensten Couleur hingerissen war, sich aber niemals dazu hinreißen ließ, einer bestimmten Strömung – einer Ideologie – gänzlich zu verfallen.

Liest man die vielen Bücher von Ludwig Marcuse, so findet man wenige Stellen darin, die sich direkt auf aktuelle Tagespolitik beziehen, viele aber, die von den vielfältigen politischen Verhältnissen, denen Marcuse im Laufe seines den Lebens ausgesetzt war, geprägt sind. Nicht nur, daß er als ein deutscher Jude von den Henkern der Nazizeit ins Ausland flüchten mußte, auch daß er als der Nationalist den Weltkrieg I aktiv bis zur Ernüchterung miterlebte, hat die Ansichten des Ludwig Marcuse entscheidend beeinflußt.

In seinem Buch „Sigmund Freud – Sein Bild vom Menschen“ vergleicht er Freud und Marx miteinander und kommt dabei zu folgendem Resümee: „Freud hatte mit Marx gemein: Die liberalen Ideen der Französischen Revolution. Ihn trennte von Marx: Seine illiberale Praxis.“ Und an einer anderen Stelle: „Marx wollte nicht sehen, daß der Mensch mehr als ein Arbeiter ist, als ein Bearbeiter – weil er ihn nur so weit interessierte, als er zu ändern ist.“

Aus diesen beiden Zitaten wird das humanistische Selbstverständnis des Ludwig Marcuse, das aus all seinen Büchern spricht, deutlich. Marcuse spricht Marx nicht den guten Willen ab, der Menschheit das Glück zu bescheren, er entlarvt nur die empfohlenen Mittel als das, was sie sind, nämlich: in der Gefahr, für eine „Fantasie Hekatomben von Menschen zu opfern“. Das Individuum jedoch, der einzelne Mensch, ist für Ludwig Marcuse der Mittelpunkt aller Oberlegungen.

Und zwar das Individuum in seiner Komplexität und Unbegreifbarkeit. Überspitzt könnte man eine zusammenfassende Interpretation all seiner Bücher folgendermaßen formulieren: Bei allem noch so angestrengten Bemühen wird es der Menschheit niemals gelingen, den einzelnen unter die Gesetze der Vernunft zu bringen.

Deshalb müssen auch alle kollektivistischen Bemühungen an der Beschaffenheit des Menschen selbst scheitern: „Daß immer schon Menschen gegessen, getrunken, Liebe gepflogen, sich gespreizt und einander totgeschlagen haben, verdeckt allzusehr, daß wir sie noch nicht verstehen, wenn wir sie vom Gemeinsamen her verstehen.“

Für Ludwig Marcuse, den Humanisten, ist der Mensch also nicht unter ein allgemeines Gesetz der Vernunft zu zwingen. Von daher ist ihm auch der autoritäre Staat – sei er kommunistischer oder faschistischer Prägung – mit seinem Anspruch, für Recht und Ordnung zu sorgen, aufs höchste suspekt. Man spürt geradezu die persönliche Identifikation Marcuses mit einem Satz von Sigmund Freud, den er folgendermaßen zitiert: „Doch kann er (Freud) schon damals zu dem harten Resultat: daß ‚der Staat dem Einzelnen den Gebrauch des Unrechts untersagt hat, nicht weil er es abschaffen, sondern weil er es monopolisieren will wie Salz und Tabak‘.

Die Skepsis, die bei Freud nicht selten in Bitterkeit umschlägt, zeigt sich hier als neben dem Humanismus durchgängiger roter Faden durch die Werke des Ludwig Marcuse. Ja, man muß sogar sagen, daß Humanismus und Skepsis einander hier bedingen; der wahre Humanist zeichnet sich dadurch aus, daß er den Menschen und seine Fähigkeiten nicht verklärt und überhöht, d. h. er betrachtet die menschliche Geschichte mit Skepsis.

In seinem Buch „Argumente und Rezepte – ein Wörterbuch für Zeitgenossen“ steht unter dem Stichwort „Humanitas I“ folgendes: „Du sollst die Stärke aufbringen, Dich in voller Skepsis dem wahrscheinlich unerreichbaren Ziel zu nähern: als Skeptiker weiterzudenken; als Zweifler die Gesellschaft der Gerechtigkeit anzustreben. Alle starken Geister des 19. Jahrhunderts haben Nihilismus und Aktivismus vereint.

Es hallte wider von den Klagen derer, die den Himmel verloren hatten. Hölderlin, Kleist, Georg Büchner, Shelley, Flaubert, Nietzsche, Dostojewski, Strindberg … haben sie reich instrumentiert. Vor allem das größte nachchristliche religiöse Genie ist ein Denkmal des Menschen ohne Horizont: Sören Kierkegaard. Dies tragische Jahrhundert trennt uns vom Mittelalter, soweit es gläubig war, unüberbrückbarer als das 18. Jahrhundert mit seinem Vernunfthimmel; denn alle Himmel ähneln einander.

Aber was die in ihren Himmel vergafften und die gottverlassenen Jahrhunderte eint, das ist der durch keinen Unglauben geschwächte Wille zum Aufbau der Humanitas: Der Wille zum menschlichen Menschen.“

Und unter der Vokabel ‚Skepsis‘ finden wir folgende Sätze:

Skepsis 2: Mit den großen befreienden Skeptikern kann sich niemand befreunden, sie stürzen jeden in zuviel Freiheit.

Skepsis 3: Wer dieses Jahrhundert durchlebt hat auch nur mit einem Mindestmaß von Gedächtnis – und ist kein Skeptiker geworden, dem ist nicht zu helfen.“

Und in letztes Zitat aus dem angegebenen Buche soll zeigen, daß Mar trotz seiner skeptischen Grundeinstellung nicht übersieht, daß es um der Entwicklung der Menschheit willen – sei sie nun positiv oder negativ – anderer Charaktere bedarf:

Skeptiker: Die Enthusiasten haben nie recht, die Skeptiker immer. Dafür schaffen nicht sie sondern jene das Neue.“

Es gibt zwei Bücher von Ludwig Marcuse, die sowohl seine humanistische als auch seine skeptische Grundeinstellung besonders verdeutlichen. Man kann sie getrost als die Kernstücke seines Werkes bezeichnen, wenngleich dadurch nicht ein anderes seiner Bücher abgewertet werden kann. Ich meine die „Philosophie des Glücks“ aus dem Jahre 1949 einerseits und das Buch „Pessimismus – ein Stadium der Reife“ aus dem Jahre 1953, das der Verlag demnächst unter dem Titel „Philosophie des Un-Glücks“ neu herausbringen will, andererseits. Dieses zweite Buch war zwischendurch – nämlich im Jahre 1965 schon einmal unter einem anderen Titel erschienen: „Unverlorene Illusionen“. Eine Anspielung auf Balzac, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden soll.

In diesen beiden Büchern stellt Ludwig Marcuse an Personen – sowohl fiktiven als auch tatsächlichen – die unterschiedlichen Versuche, das Glück zu finden bzw. die unterschiedlichen Formen des Unglücks dar. Will man eine Synthese aus beiden Büchern ableiten und damit gleichzeitig die Position Marcuses bestimmen, so könnte sie folgendermaßen aussehen: Das Glück als solches, sich erstreckend auf eine ganze Epoche oder auf die gesamte Kontinuität eines individuellen Lebens gibt es nicht. Es gibt lediglich „Glückseligkeitsmomente“. Diese Momente jedoch sind absolut subjektiv und in aller Regel sinnlicher Art. Alles andere ist „graue Theorie“ oder „Utopie“. Wobei auch an dieser Stelle wiederum darauf hingewiesen werden muß, daß es Ludwig Marcuse sehr wohl bewußt ist, wie sehr man der grauen Theoretiker und auch der Utopisten bedarf, will die Menschheit nicht stagnieren. Nur mit ihrer Hilfe kann man das erreichen, was Marcuse als Philosophieprofessor seine Studenten lehrte: „Ich lehre vor allem dies: Es gibt nichts Göttlicheres als das Rätsel. Philosophie kann es nicht lösen – aber immer heller machen in seiner Rätselhaftigkeit.“

Diese Rätselhaftigkeit, die Marcuse in allen Dingen des Lebens, nicht nur im Menschen entdeckt, birgt Gefahr und Glücksverheißung zugleich. Glück und Unglück sind korrespondierende Begriffe. Das eine wird erst durch das andere deutlich. Albert Camus, den Marcuse nach eigener Aussage nicht sehr gut gekannt hat, scheint, liest man solche Texte, sein Verwandter zu sein: „Die zärtliche Gleichgültigkeit der Natur“, der „Mythos von Sisyphus“, der bei Camus darauf hinausläuft, daß der antike Königssohn ob seiner schweren, stets vergeblichen Arbeit eigentlich ein glücklicher Mensch sei.

Jedoch Camus klingt hier nur an. Marcuse ist kein Existenzphilosoph. Seine Philosophie ist politischer. Sie bejaht bei aller Unmöglichkeit, das Rätsel zu lösen, die gestalterische Tätigkeit des Menschen nach humanistischen Maßgaben und ist weit von jedem vermeintlichen Fatalismus entfernt. Und ein

Zweites bejaht sie mit voller Oberzeugung: Das Streben des Mensch nach Glück. Glück aber nicht im Sinne von ideologischen Vorstellungen oder im Sinne von Endzeitprojektionen. Glück, vor allem verstanden als individuelles Glück, das auch durch staatliche Maßnahmen ermöglicht werden muß.

Ludwig Marcuse hat etwas gegen die Schwärmerei, er hat etwas gegen die ideologisch Verbohrten; er möchte „daß nicht jede Generation für die kommende geopfert werden soll, weil es dann vor lauter Zukunft nie eine Gegenwart gibt

Die Philosophie des Ludwig Marcuse ist die des radikalen Liberalismus. In seinem Buch „Amerikanisches Philosophieren – Pragmatisten, Polytheisten, Tragiker“handelt der Teil V von diesem Thema. Konkret geht es um denamerikanischen Philosophen John Dewey, den „denkenden Menschenfreund“.Obwohl Marcuse die Vernunftbezogenheit der Dewey’schen Zukunftvorstellungen nicht teilen kann, bemerkt man doch deutlich, daß hier bei allem Zweifel am amerikanischen Fortschritt am Sympathien liegen. Der Dewey’sche Humanismus „behält seine Nerven; seine Auffassung des Lebens ist nüchtern, nicht tragisch und dem Lachen weit mehr geneigt als den Tränen.“Wie sollte Ludwig Marcuse dem widersprechen?

Aus all seinen Büchern spricht die Tatsache, daß er selbst bei aller Skepsis das Fröhliche, das Lachen niemals, auch nicht in den bitteren Jahren der Emigration, verlernt hat.

Was aber bedeutet im Sinne des Ludwig Marcuse radikaler Liberalismus? Ich wies bereits darauf hin, daß Marcuse sich über die aktuellen politischen Tagesereignisse recht selten geäußert hat. Sein Feld war das der Philosophie und der Kultur. Sein skeptischer Humanismus jedoch ist eine durchaus politische Lebenshaltung; eine ideologiekritische, nicht eine ideologische Haltung. Marcuse hinterfragt und kritisiert, er setzt keine Dogmen in die Welt, er stellt die Welt vielmehr in Frage. Insofern ist sein Denken radikal.

Wie er aber alle Geistesströmungen gleichermaßen in Frage stellt, so setzt er sich gleichzeitig mit allen ernsthaft auseinander. Ob er nun über Ignatius von Loyola oder über Karl Marx schreibt, er würdigt die Leistung der verschiedenen Denker in gleicher Weise.

Freilich kommt er zu unterschiedlichen Wertungen und Urteilen. Seine Vorurteilsfreiheit und seine Toleranz jedoch kennzeichnen ihn als einen liberalen Denker. Nur in einem Punkte ist er intolerant: Wo es um das menschliche Leben geht. Die Judenmorde der Nazizeit machen ihn sprachlos und verbittert; nicht nur, weil auch seine eigene Familie davon betroffen war. Genau so wie für Jean Améry, so gibt es auch für Ludwig Marcuse für die namenlosen Verbrechen der Nazizeit keine Möglichkeit der Wiedergutmachung.

Toleranz endet für Ludwig Marcuse dort, wo sie auf Intoleranz stößt. Deshalb entlarvt er die Ideologien und ihre dogmatischen Setzungen. Er entlarvt sie mit spitzer Feder, mit Ironie und bissigem Spott, und dennoch gerät er bei keiner Zeile in die Gefahr, lediglich Pamphlete zu verfassen.

Ludwig Marcuse war bereits als junger Theaterkritiker in Frankfurt ein Mann, der vor großen Namen keine sonderliche Achtung hatte. Mit Bertolt Brecht legte er sich an, als dieser seine von ihm selbst gepredigte Moral in einer Auseinandersetzung mit einer Filmgesellschaft lieber nicht anwandte, dies hätte ihn nämlich Geld gekostet. Marcuse stellte das in der Presse so dar und wurde daraufhin prompt von Brecht verklagt.

Wer Moral predigt, muß auf Moral hin untersucht werden.“ So sieht es Ludwig Marcuse; und aus dem Kapitel „Der arme Bertolt Brecht und der weniger arme“ aus seinem Buch „Mein 20. Jahrhundert“ kann man unschwer herauslesen, daß Ludwig Marcuse es mit den Moralaposteln nicht gerade hat. Noch deutlicher kommt das zum Ausdruck in seinem köstlichen Buch „Obszön – Geschichte einer Entrüstung«. Die doppelte Moral der Gesellschaft, und zwar der Gesellschaft in all ihren Spielarten, wird hier auf eine Art und Weise entlarvt, die jeden Leser miteinbezieht. Die Süddeutsche Zeitung schrieb in einer Besprechung, Marcuse schreibe „in einer erfrischenden Sprache dem deutschen Miefelheimer auf die Hinterfront“. Dies jedoch trifft nur dann zu, wenn alle Deutschen „Miefelheimer“ sind.

Und dennoch ist Ludwig Marcuse ein moralischer Mensch. Moralität, im kantischen Sinne, ist für ihn Grundlage des verantwortlichen Handelns. Nicht allein die allgemeingültigen Gesetze binden den einzelnen, vielmehr auch seine ganz persönliche moralische Verpflichtung. Ich wies bereits darauf hin, daß für Marcuse der einzelne nicht unter ein allgemeines Gesetz der Vernunft zu zwingen ist. Er mißt den Menschen aber daran, wie sehr er seiner moralischen Verpflichtung in seinen Entscheidungen nachgekommen ist. Marcuse hat die modische Strömung, vor allem in der Soziologie, die so vieles – vielleicht zu vieles – auf „Umwelteinflüsse“, externe Determinaten usw. zurückführt, nie mitgemacht. Er gehört nicht zu den „Hexenmeistern der Soziologie“, wie Andreski sich ausdrückt. Die Eigenverantwortlichkeit des einzelnen hat für ihn einen hohen Stellenwert, auch dann, wenn es gilt, gegen politische Strukturen Widerstand zu leisten: „Man schiebt gern seine Abhängigkeiten auf die Struktur der Gesellschaft und verhüllt so, soziologisch wichtigtuerisch, den Mangel an Widerstand, der allerdings selten nur pure Moral ist.

Für jeden, der sich aus der Verantwortung für sein Handeln stehlen will, ist Ludwig Marcuse ein unbequemer Autor. Wie Bertrand Russen, der englische Nobelpreisträger, so nimmt auch Ludwig Marcuse den einzelnen voll in die Pflicht. Russell veröffentlichte 1951 in der New York Times „Die zehn Gebote eines Liberalen« unter dem Titel »Die beste Antwort auf Fanatiker: Liberalismus.“

Diese zehn Gebote könnten die Richtschnur für die Bücher des Ludwig Marcuse gewesen sein, wären sie nicht erst so spät erschienen.

Deshalb sollen sie hier vollständig zitiert werden:

1. Fühle Dich keiner Sache völlig gewiß.

2. Trachte nicht danach, Fakten zu verheimlichen, denn eines Tages kommen die Fakten bestimmt ans Licht.

3. Versuche niemals, jemanden am selbständigen Denken zu hindern, denn würde Dir gewiß gelingen.

4. Wenn Dir jemand widerspricht, und sei es Dein Ehegatte oder Dein Kind, bemühe Dich, ihm mit Argumenten zu begegnen und nicht mit Autorität, denn ein Sieg, der von Autorität abhängt, ist unrealistisch und illusionär

5. Habe keinen Respekt vor der Autorität anderer, denn es gibt in jedem Falle auch Autoritäten, die gegenteiliger Ansicht sind.

6. Unterdrücke nie mit Gewalt die Überzeugungen, die Du für verderblich hält sonst unterdrücken diese Überzeugungen Dich.

7. Fürchte Dich nicht davor, exzentrische Meinungen zu vertreten; jede heute gängige Meinung war mal exzentrisch.

8. Freue Dich mehr über intelligenten Widerspruch als über passive Zustimmung, denn wenn Dir Intelligenz so viel wert ist, wie sie Dir wert sein sollte, dann liegt im erstgenannten eine tiefere Zustimmung als im erstgenannten.

9. Befleißige Dich peinlich der Wahrheit, selbst dann, wenn sie nicht ins Konzept paßt; denn es paßt noch viel weniger ins Konzept, wenn Du versuchst, sie zu verbergen.

10. Beneide nicht das Glück derer, die in einem Narrenparadies leben, denn nur ein Narr kann das für Glück halten.“

Bertrand Russell wird von Ludwig Marcuse des öfteren zitiert. Man kann getrost sagen, daß zwischen beiden eine enge geistige Verwandtschaft bestand. Was in den „Zehn Geboten“ von Russell zum Ausdruck kommt, wird in gleichem Maße deutlich durch die Bücher des Ludwig Marcuse. Und dennoch sind seine Bücher eigentlich viel mehr ein einziger Nachweis dafür; daß es dem Menschen bisher nicht gelungen ist; sich an die zehn Gebote von Bertrand Russell zu halten. So vernünftig diese Gebote klingen, der Vernunft wird es niemals gelingen, des Menschen Herr zu werden.

Die Vernunft jedoch kann nach Ludwig Marcuse dazu beitragen, das Leben menschlicher zu gestalten. Sie kann dazu beitragen. Bislang allerdings kann Ludwig Marcuse dafür nicht sehr viele Anzeichen finden. In dieser Frage teilt er den Freud‘schen Kulturpessimismus, der vor allem in seinem Buch „Das Unbehagen in der Kultur“ zum Ausdruck kommt. So ist es auch nicht verwunderlich, daß Marcuse als eines seiner Lieblingsbücher eben dieses nennt. Die „Dialektik der Aufklärung“, die den Menschen letztlich seinen eigenen Erfindungen untertan macht, wird von Ludwig Marcuse sehr deutlich gesehen. Und deshalb, so meint er, tut Philosophieren not. Je mehr sich die Menschheit in die Abhängigkeit von immer komplizierter und komplexer werdenden technischen Instrumenten begibt, desto notwendiger ist es, darüber intensiv nachzudenken. Eine Art naturwissenschaftliche Erkenntniskritik, die die Menschheit vor den verderblichen Folgen eines vermeintlichen Fortschritts bewahren kann, ist lediglich die Philosophie zu liefern imstande.

Man könnte dies alles sehr viel einfacher sagen: Ludwig Marcuse stellt eine Art Gewissen des Fortschritts dar. Und ganz gleich, wo sich der Fortschritt ausbreitet, es ist geboten, ihm mit Skepsis zu begegnen. „Die Sonne der Kultur hat schon viel Lebendiges verbrannt.“ Statt Kultur braucht man hier nur das Wort Fortschritt einzusetzen, und man kann Marcuses Meinung zu Technik und Wissenschaft auf einen einfachen Nenner bringen.

Es wird deutlich – gerade heute –, welche zutiefst politische Dimension das Werk des Ludwig Marcuse hat. Eine Dimension, die um des Menschen willen in Frage stellt; damit es ihm nicht ergeht wie Goethes ‚Zauberlehrling‘: „Die Geister, die ich rief …“

Was Ludwig Marcuse erreichen möchte, ist ein alter unerfüllbarer und dennoch immer wiederkehrender Wunsch des echten Humanisten: daß „weder Kriege noch Konflikte zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen, noch eine Versklavung des Einzelnen“ mehr vorkommen. In seinem Buch „Plato und Dionys – Geschichte einer Demokratie und einer Diktatur“ vergleicht Marcuse im Vorwort die vorchristlichen griechischen Staatsformen – z.B. das totalitäre Syrakus – mit seiner eigenen Zeit, mit der Weimarer Republik und dem „Dritten Reich“. Er stellt fest, daß man in vielen Dingen Parallelen finden kann und muß daraus das Resümee ziehen, daß sich über die Jahrtausende so sehr viel hin auf das oben zitierte Ziel nicht getan hat. Marcuse schließt sein Buch mit folgenden Worten: „Das Traurige an unserer Zeit ist aber nicht, was sie nicht erreicht, sondern was sie nicht versucht. Im Versuchen aber liegt der echte Idealismus.“ Worte, die uns auch heute aus der Lethargie, in die die Politik immer wieder verfällt, herausreißen sollten.

Es lag mir daran darzustellen, daß Ludwig Marcuse ein hochpolitischer Denker ist. Des öfteren ist es ja so, daß vordergründig unpolitisch Scheinendes tatsächlich von höchster politischer Brisanz ist. Ich erinnere nur an die Werke des Franz Kafka und an die dort dargestellte verwaltete und verwaltende Gesellschaft – ein Zerrbild mancher modernen Bürokratie. Ähnlich ergeht es einem beim Lesen der Bücher des Ludwig Marcuse. Während man rein vordergründig betrachtet meist nur Gedanken über Philosophie und Kultur im allgemeinen findet, entdeckt man bei genauerem Hinsehen die radikal-liberale Grundhaltung des Philosophen. Eine konsequente Haltung, deren überzeugender Argumentation man sich nicht entziehen kann. Angewandt auf Ludwig Marcuse bleibt Liberalismus kein leeres Wort, es wird vielmehr plastisch und macht eindeutig klar, worum es liberalem Denken vor allem gehen muß: um die Menschlichkeit.