Ludwig Marcuse: Skeptischer Humanist, Liebhaber des Glücks und streitbarer Individualist

Ludwig Marcuse (1894-1971) ist heute fast vergessen. Dabei ist er ein ausgesprochen zeitgemäßer Denker, dessen illusionslose, ideologiekritische Position dem Wissenschaftsbegriff der Moderne weitgehend entspricht. Statt sich auf metaphysische Annahmen zu verlassen, denen vielleicht sogar absolute Wahrheit zuerkannt werden soll, vertraut er eher dem Prozeß von Versuch und Irrtum, der eine Hypothese nur solange gelten läßt, als sie nicht widerlegt ist und durch eine geeignetere ersetzt. werden muß. Obwohl indes Marcuse seinen Büchern und Aufsätzen diese Position immer wieder zugrundelegt, ist er doch kein Denker, dem es darum gegangen wäre, ein wohlgegliedertes System dafür zu entwickeln und sich wissenschaftlich zu profilieren. Er läßt sich vielmehr vom systemlosen, vielgestaltigen Leben faszinieren, ohne daß er es einer von Menschen erdachten Theorie unterwerfen wollte; es geht ihm vor allem um den Anspruch des Individuums auf eine humane, glückliche Zeit im Hier und Jetzt. Alle Gesellschaftssysteme, Verfassungen und Staatsorganisationen haben nur diesem einen Ziel zu dienen, indem sie vor allem Gerechtigkeit gewährleisten und dadurch den geeigneten Rahmen bilden für Humanität und individuelles Glück. Daran mißt er die Realitäten. Er schließt keinerlei faule Kompromisse, weist vielmehr stets auf die Schwachstellen hin, die er entdeckt, und schert sich dabei in keiner Weise um den Zeitgeist.

Mit solchem Denken und Schreiben macht man sich allenfalls wenige Freunde, mit dem Etikett einer prägenden, markanten Richtung ist es schon gar nicht zu kennzeichnen. Nur dem humanistischen Menschenbild, dem individuellen Anspruch auf Glück verpflichtet zu sein und nicht transzendental durchstrukturierten Aprioris und im Vernunftgrund verankerten moralischen Imperativen, ist dem deutschen Philosophen und Wissenschaftler eher verdächtig als genehm.1 Und Politikern ist ein solcher Anspruch besonders suspekt, könnte er doch den gesellschaftlichen Konsens gefährden, den man vielleicht soeben unter Mühen hergestellt hat, und einer anarchischen Vielfalt den Vorrang einräumen vor der einfältigen Ordnung von Regeln und Gewohnheiten.

Angesichts der neuen postvisionären Übersichtlichkeit in Deutschland und Europa gilt es, Ludwig Marcuse und seine Aktualität wiederzuentdecken. Denn nach wie vor ist die schwache Position des Individuums politisch festgezurrt. Allerorten überwölben es Kollektive, Systeme, Strukturen und Theorien, auch wenn der real existierende Sozialismus dem individuellen Eigensinn nicht beikommen konnte, wenigstens nicht in unserer süd-östlichen Nachbarschaft und schon gar nicht im eigenen Beritt, sprich: im preußischen Teutonien (das wäre ja auch noch schöner!). Marcuse zu lesen bedeutet, ein Gegengift gegen Unterdrückung, Vermassung, Nivellierung und Ausgrenzung zu entdecken. Dieser Aufsatz soll das Gegengift propagieren.

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Ludwig Marcuse, geboren am 8. Februar 1894 in Berlin, wächst in einem von Nationalismus und Humanismus geprägten, großbürgerlichen Elternhaus auf. Der humanistische Einfluß ist verbunden mit Namen wie Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, dessen Liebe zum klassischen Altertum und zur griechischen Sprache dem jungen Marcuse in gleichem Maße imponiert wie sein pathetischer Patriotismus; er wird vertieft, wenn auch nicht gänzlich verinnerlicht, durch den Besuch des humanistischen Friedrich Werderschen Gymnasiums. 1913 beginnt er sein Philosophie-Studium in Berlin; zunächst nehmen ihn Psychologie (die er für ein Unterfach der Philosophie hält) und Logik in Anspruch, er studiert bei Carl Stumpf und Benno Erdmann; bevor er feststellt, daß hier nicht seine eigentlichen Interessen liegen: „Ich lud mir auf, was nicht zu tragen war, und fühlte mich wie ein Ertrinkender; und brachte alle diese Opfer nicht für ein Examen, nicht für eine Stellung, sondern um einer nebelhaften ‚Pflicht’ willen.“2

Bald aber entdeckt Marcuse philosophische Ideen, die ihn wirklich faszinieren, vor allem in der individualistischen Lebensphilosophie des Georg Simmel (1858-1918), dessen Vorlesungen er in Berlin noch hört. Zum dritten Semester wechselt er nach Freiburg, wo er bei Heinrich Rickert vorübergehend zum Neukantianer wird.3 Der Erste Weltkrieg unterbricht seine Studien, er meldet sich freiwillig zum Kriegsdienst, bringt es aber lediglich zum Schreibstubenhocker und zu niederen logistischen Ehren.

1917 promoviert er bei Ernst Troeltsch in Berlin, dem späteren Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei. Sein Thema: „Die Individualität als Wert und die Philosophie Friedrich Nietzsches“.4 Danach wird er Assistent bei Troeltsch, bricht seine akademische Karriere jedoch nach dessen Tod im Jahre 1923 vorläufig ab.

Die Einflüsse des philosophischen Studiums, vor allem die Beschäftigung mit der griechischen Philosophie, mit Kant, Nietzsche und Simmel, sind gewiß prägend für die geistige Entwicklung Marcuses; nicht weniger wichtig jedoch ist die Begeisterung für die schöne Literatur und für das Theater, die ihn schon in seiner Zeit auf dem Gymnasium in Anspruch nimmt. Hier sind es vor allem die tragischen Schriftsteller des 18./19. Jahrhunderts und die Expressionisten des 20., denen er sich eng verbunden fühlt. Die Publikation früher Bücher über Georg Büchner, August Strindberg und Gerhart Hauptmann sind die Folge. Auch sein beruflicher Weg in die journalistisch-literarische Arbeit, unter anderem als Theater-Kritiker des „Frankfurter General-Anzeiger“ und als Herausgeber von belletristischen Anthologien, ist logische Konsequenz dieser Interessen.

Forscht man nach der Grundstimmung und dem erkenntnisleitenden Interesse seiner Bücher, so identifiziert man unschwer das von seinem tragischen Menschenbild geprägte humanistische Engagement einerseits und andererseits die skeptische, illusionslose Suche nach irdischen Glücksmöglichkeiten, die bis in seine letzten Publikatonen erhalten bleiben. Die Anteilnahme an allem Menschlichen führt ihn weg von den großen, jene „winzige Minderheit“, über das verletzliche, schutzlose Individuum, für dessen Wohlergehen einzig sich Engagement lohne. Und zwar nicht um eines großen ideologischen Zieles, sondern um des bescheidenen, kreatürlichen Mitempfindens, um der Verwirklichung von Humanität willen.

Was er im einzelnen darunter versteht, führt er in der Pulle vielfältig interessierten, kenntnisreichen Bücher und Schriften immer wieder nach der gleichen Grundmelodie aus. Zum Beispiel über seinen Freund, den sozialistischen Politiker und Dramatiker Ernst Toller, der sich 1939 aus Verzweiflung an seiner Zeit das Leben nahm: „Seine Größe lag auch darin, daß er sich nicht auf die Weltgeschichte hinausredete. –Er war ein tragischer Held. Er ging unter an der Unlösbarkeit dessen, was gelöst werden muß. Große Dichtung ist ‚die Ahnung vom tragischen Grund’. Mir scheint, daß seine ,Ahnung’ am besten in diesem einen Satz durchscheint: ,Keiner weiß, wie die Armut abzuschaffen ist, keiner, wie die Widersprüche des Völkerlebens friedlich gelöst werden sollen, nur daß es geschehen muß, wissen wir alle.’“5

Aus diesem Zitat läßt sich ablesen, was bei Marcuse mit dem Begriff des „skeptischen Humanismus“ gekennzeichnet werden kann: Einerseits ist das Engagement für die Belange der Menschen, für ihr leibliches Wohlergehen und ihr friedliches Zusammenleben, eine evidente Notwendigkeit, die sich aus dem „Mit-Leiden“ und der „Mit-Freude“, dem menschlichen Mitgefühl ergibt; andererseits ist es nötig, der Möglichkeit der Verwirklichung dieses Zustandes gegenüber skeptisch zu bleiben, denn bei aller Einsicht in ihre Notwendigkeit sind die Bedingungen oft unerfüllbar; und selbst wenn das Wohlergehen der Menschen für einen kurzen Zeitraum realisiert ist, so bleibt es doch stets bedroht durch sich verändernde Bedingungen und durch die Natur des Menschen selbst, durch das „factum brutum“, das dem „factum humanum“ entgegensteht.

Geht man von dieser Definition des skeptischen Humanismus aus, so versteht man leicht, warum Marcuse es auch später, als Philosophie-Professor im amerikanischen Exil, möglichst vermeidet sich wissenschaftlichem Habitus und akademischem Gebaren zu fügen. Er führt die Philosophie zurück auf das, was sie dem Menschen, dem Individuum, seiner Meinung nach bedeuten und geben sollte: Orientierungen nämlich für eine seiner Natur angemessene, humane Lebenspraxis und Einsicht in die tragischen Bedingungen seiner Existenz. Er lehnt es ab, Philosophie lediglich als ein gelehrtes System zu verstehen, das seinen Wert am Ende nur noch in sich selbst hätte oder, schlimmer, nur mehr als Rechtfertigung zu politischer oder religiöser Machtausübung diente: „Nur Menschen, nicht Ideen haben mich beeinflußt; oder nur Ideen, die sehr individuelle Züge zeigten. Philosophie war mir immer Menschen-, nicht Ideen-Geschichte.“6

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In seinem Exil, das den atheistischen Juden Marcuse 1933 zunächst nach Südfrankreich, von 1939 bis 1962 dann nach Kalifornien verschlägt, führt ihn die Beschäftigung sowohl mit historischen Themen als auch mit aktuell zeitkritischen Reflexionen zum Kern seiner philosophischen Absicht: zum immer neuen Versuch, „das Rätselhafte der Welt immer heller zu machen in seiner Rätselhaftigkeit“.7 Damit steht er in einer Tradition, die im Deutschland des zwanzigsten Jahrhunderts nach dem Abebben des Existentialismus kaum noch Repräsentanten hat, und die auch in unserer erklärungs- und begründungssüchtigen Zeit von heute eher abschätzig betrachtet denn ernstgenommen wird.

Seit 1933 konzentriert Marcuse seine schriftstellerische Arbeit wieder stärker auf philosophische Themen; Bücher über Ignatius von Loyola, Plato und Dionysos sowie zu den Problemen seiner vom Weltkrieg gezeichneten Zeit sind die Folge. Aber auch zu den Wurzeln und Ursachen des Nationalsozialismus stellt er Überlegungen an, zur Geschichte seines Deutschland, das einen Hitler möglich machen konnte. Dabei stößt er nicht auf Nietzsche, den die Nazis so skrupellos für ihren Terror und ihre Mörderei in Anspruch nahmen, sondern exemplarisch auf Richard Wagner, dessen rassistische Ideologie er ungeachtet allen musikalischen Genies schonungslos an den Pranger stellt. Die Kollegen im Exil, keine geringeren als Thomas Mann und Stefan Zweig, reagierten entsetzt. Erst nach dem Krieg kann das Buch in Deutschland erscheinen.

Bis 1962 publiziert Marcuse vom Exil aus, er veröffentlicht 1949 eines seiner schönsten und meistgelesenen Bücher, „Die Philosophie des Glücks“. Obwohl er eine hohe Produktivität entwickelt, auch für durchaus renommierte Zeitschriften und Zeitungen schreibt, übt er indessen doch kaum prägenden Einfluß aus auf den Zeitgeist in seiner Heimat. Vielmehr verhält er sich, besonders in Bezug auf die anti-autoritäre Bewegung an den Universitäten, eher konträr dazu, vor allem was die seiner Meinung nach häufig allzu oberflächliche Orientierung an marxistischem Denken angeht; und die kritische Theorie der Frankfurter Schule, die in den sechziger Jahren in Deutschland am intensivsten diskutierte Gesellschaftstheorie, lehnt er rundweg ab: „(…) wie unhuman diese Zukünftler sind. Es ist die Frankfurter Schule, welche die Studenten verhext hat (Wir beide [Hochhuth und Marcuse, K.H.H.] wissen, daß die Studenten in ihren sachlichen Forderungen recht haben). Aber der ideologische Quatsch ist gefährlich von den Neo-Marxisten injiziert worden.“8

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Marcuse bleibt, auch als er 1962 nach Deutschland zurückkehrt, ein Unzeitgemäßer. Ganz gegen die vom Zeitgeist geforderten intellektuellen Theorien vertritt er in seinen Büchern unbeirrt die Rechte und die Freiheit des Einzelnen gegen alle Vereinnahmungsversuche durch Kollektive und Ideologien. Sein skeptischer Humanismus, sein nüchterner Pessimismus, werden zwar in den Kreisen der Literatur und Philosophie zur Kenntnis genommen, selten aber setzt man sich intensiv damit auseinander. Marcuses in der nihilistischen Tradition des 18. und 19. Jahrhunderts wurzelndes Denken, das unlösbar mit Namen wie Schopenhauer, Nietzsche, Kierkegaard und Strindberg verknüpft ist, findet in einer Zeit, die darin auch den Nährboden der faschistischen Diktatur sieht, kaum noch Widerhall. Schon in Amerika hatte er sich publizistisch gegen das dort häufig anzutreffende Mißverständnis gewehrt, Nietzsche sei ein geistiger Wegbereiter der Nazis gewesen.9 Weil er es in der Bundesrepublik der sechziger Jahre ablehnt, sich neu zu orientieren und der Dominanz „systemkritischer“ Debatten Tribut zu zollen, wird er häufig falsch verstanden, absichtsvoll übersehen oder als Außenseiter abgetan.10 Marcuse erkennt das durchaus: „In den Kreisen der hohen Literatur wird Rasse und eine Vergangenheit auf der Seite des Feindes erst peinlich: wenn einer nicht die Bonner Palast-Inhaber anbellt (das beste Alibi heute), sondern die deutschen Denker und Dichter (mit und ohne Anführungsstriche) der Vergangenheit und der Gegenwart. Das Tabu im Superlativ. –Ich fürchte, ich störe den eingetragenen Verein der Störenfriede. „11

Besonders deutlich kommt seine kritische Haltung zum Geist der Nachkriegszeit in seiner Kontroverse mit Ernst Bloch zum Ausdruck, die freilich in der Öffentlichkeit meist totgeschwiegen wurde, weil sie dem allgemeinen Tenor jener Jahre, der in Bloch in erster Linie den Denker mit dem Ziel einer „Neuorientierung marxistischer Lehre“,12 weniger den Verfasser einer ,,Funktionärs-Philosophie“13 sah, keineswegs entsprach. Marcuse hat Bloch dessen Glauben an Stalin und die Rechtfertigung des Stalinismus aus den zwanziger und dreißiger Jahren niemals vergessen, und er findet diese unkritische, ja, zynische, weil „menschenverachtende“ Glaubenshaltung wieder in Blochs Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“, nun lediglich auf die Zukunft projiziert: „Blochs Schema ist so ärmlich, wie es schon immer war: der Teufel hat hier den Namen ,niedergehende Klasse’ oder ,Faschismus’ oder ,Ausbeuter’ oder ,Amerika’; der Erlöser aber hat den Namen ,Sozialismus’ oder ,Vor-Schein’ oder ,reellster Realismus’ oder ,Sowjet-Union’.“14

Neben Rolf Hochhuth und Reiner Kunze gibt es nur wenige Intellektuelle der damaligen Zeit, die Marcuse zuzustimmen geneigt sind.15 Horst Wernicke gehört zu ihnen. Er läßt sich von der dominanten Verehrung für Bloch nicht blenden und bewertet die Kontroverse folgendermaßen: „Sieht man einmal von einigen polemischen Übertreibungen Marcuses ab, so ist doch sein Hinweis auf die fundamentale Ambivalenz des ,Messianischen’ neu und berechtigt; Hoffnung muß keineswegs nur in den ,aufrechten Gang’ münden, sie kann auch als Bereitschaft zur Unterwerfung vor dem vermeintlich Rettenden auftreten. (…) Nach alledem: Bloch oder Marcuse? Im Zweifelsfall und angesichts der Bedrohungen ringsum: für den skeptischen Anarchisten Ludwig Marcuse, denn: Die allein noch mögliche philosophische Ethik kann nur eine Ethik aus dem Geiste des Skeptizismus sein, wie Marcuse sie immer neu entworfen hat; und prinzipielle Hoffnung ist heute eher reaktionär. „16

Eine Parallele hat die Auseinandersetzung mit Ernst Bloch in Marcuses Demaskierung des nach 1945 ebenfalls mancherorts sehr geschätzten Psychologen C.G. Jung, die er bereits 1955 im New Yorker „Aufbau“ publiziert.17 Freilich hat Marcuse bei der Offenlegung des Jungsehen Nazi-Opportunismus, ja, seiner aktiven Beteiligung an nationalsozialistischer Publizistik, und seiner späteren scheinbaren Läuterung Mitstreiter. Aber auch mit dieser Polemik, die er in seiner Autobiographie fortführt, 11 erzeugt er kaum Wirkung. In der aktuellen Diskussion seiner Zeit bleibt er Außenseiter.

Indessen will und kann er nichts gegen sein Außenseitertum unternehmen; denn seine skeptische Ethik, sein skeptischer Humanismus, der nichts zu tun hat mit Ideologie und Dogmatik, sondern immer nur antidogmatische Ideologiekritik ist, bildet ein Synonym für sein Leben. Dennoch leidet er unter seiner „Folgenlosigkeit“. In seinem letzten Buch, „Nachruf auf Ludwig Marcuse“, schreibt er: „Es ist ihm nicht gelungen, dem skeptischen Aktivismus, dem nihilistischen Fortschreiten eine Gasse zu bahnen. Aus Feigheit? Möglich. Wer niemand hinter sich hat: keine beliebte Theorie, nicht den Beifall derer, die bestimmen, wie man fortzuschreiten hat, muß viel Mut haben.“19

So gibt es im wesentlichen zwei Gründe, warum man ihn und sein Werk auch nach dem Ende der Nazi-Barbarei nicht angemessen gewürdigt hat: Einerseits nahmen die philosophische und die literaturwissenschaftliche Fachdisziplin seine Bücher kaum zur Kenntnis, weil sie weder eine eigene Theorie entwickeln wollten, noch sich nach wissenschaftlich-systematischen Regeln mit Philosophie und Philosophen, Literatur und Literaten beschäftigten (er verzichtete meist auf die Angabe von Quellen, den Nachweis von Zitaten und die systematische Herleitung seiner Thesen, genügte also nicht einmal den formal-wissenschaftlichen Ansprüchen); andererseits setzte man sich auch in der politisch-intellektuellen, öffentlichen Diskussion kaum mit ihm auseinander, weil er dem ideologischen Zeitgeist seine Aufwartung verweigerte. Die Entdeckung seiner über das Zeitbedingte hinausweisenden Aktualität steht noch aus, wie man gelegentlich meinte: „Der Dichter und Feuilletonredakteur Emil Belzner ist überzeugt davon, erklärte er uns vor Jahren in Heidelberg, daß Marcuses Werke ihm den verdienten Ruhm erst Jahrzehnte nach seinem Tod einbringen werden.“20

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Die Kernthemen, mit denen Marcuse sich beschäftigt, die Fragen nach dem Glück des Menschen, nach dem Sinn seiner Existenz in der Welt und nach den Grundlagen und Möglichkeiten humanen Zusammenlebens, waren und sind zu allen Zeiten nicht nur in der Philosophie aktuell. Deshalb ist es notwendig, seine Werke auf den Beitrag hin zu würdigen, den sie zu einer Erhellung dieser Fragen zu leisten imstande sind, auch wenn es ihm nicht darauf ankam, sich akademischen Gepflogenheiten gemäß zu präsentieren und sich auf die nachhaltig propagierten Themen der Zeit einzulassen.

Wie sein großes Vorbild Friedrich Nietzsche hat Marcuse in seinen Büchern eine Fülle von bisweilen aphoristisch formulierten Einsichten hinterlassen, die zu ordnen eine Philosophie zu entdecken bedeutet, deren Absicht auf die Beantwortung der oben genannten Fragen zielt: Worin besteht das Glück des Menschen?, so fragt Marcuse hartnäckig. Und: Wie kann der Mensch Glück finden trotz seiner „tragischen Disposition“, die aus der Vergeblichkeit all’ seiner Erkenntnisse und der Endlichkeit all seiner Leistungen resultiert?21

Was freilich auch nicht übersehen werden sollte, ist Marcuses Meisterschaft in der Formulierung. Sein metaphorischer, häufig höchst eigenwilliger Stil, dessen Brillanz und Anschaulichkeit die Lektüre seiner Bücher und Schriften immer zu einem intellektuellen Vergnügen machen, findet so gut wie keine gleichwertige Konkurrenz in der deutschen essayistischen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Hinzu kommt sein Kenntnisreichtum, der kaum jemals aufdringlich wirkt, aber stets die souveräne Beherrschung seiner Themen und ihrer Umfelder unter Beweis stellt. Wenn sich der Leser auch nur auf diese beiden Merkmale der Marcuseschen Arbeiten ohne Vorurteile einläßt, kann er sich der Ausstrahlung, die seine Texte allesamt haben, bald nicht mehr entziehen.

Ludwig Marcuse stirbt am 2. August 1971 in Bad Wiesee. Obwohl der Diogenes Verlag nach seinem Tod bis 1994 fast alle seine Bücher in preiswerten Ausgaben wieder auflegt und ein beachtlicher Teil seiner Aufsätze und Kritiken gesammelt erscheint findet er bisher doch nicht das Interesse, das sich die Herausgeber wohl erhofft hatten. Inzwischen sind auch die Diogenes-Bücher zum Teil nicht mehr greifbar, so daß die Perspektiven für eine Wiederentdeckung anscheinend nicht gerade aussichtsreicher werden. Der Zeitgeist jedenfalls hat den Denker Marcuse noch immer nicht erfaßt und ist bisher. auch von seinen Gedanken nicht erfaßt worden –im Gegenteil, so könnte man meinen, wenn man die gegenwärtige Politik einer phantasielosen Begünstigung des kollektiven Sozial-Darwinismus betrachtet. Gründe dafür sind nach wie vor im ganz und gar eigenwilligen, unabhängigen Denken Marcuses zu finden, das einer bestimmten Schule, Theorie oder Ideologie nicht zuzuordnen ist.

Als Eklektiker bedient er sich überall dort, wo er sich für seine Themen Gewinn verspricht. Er macht es dem Leser schwer, seine Gedanken im Sinne gängiger Schubladisierungen zu etikettieren. Stattdessen führen seine undogmatischen, ideologiekritischen Einsichten zur Skepsis gegenüber den scheinbaren Gewißheiten, die unser tägliches Leben bestimmen. Seine Philosophie bietet weder Trost noch Sicherheit; sondern nur Hinweise auf Möglichkeiten und Bedingungen des kreatürlichen, individuellen Glücks angesichts der tragischen Existenz des Menschen; damit fehlt ihr die Basis für das vordergründig Populäre. Er stellt eben nur das dem Menschen Mögliche dar, in aller Bescheidenheit und ohne die Kräfte, die positiven wie die negativen, seiner Natur zu über- oder zu unterschätzen. Wir verlieben uns eher in das Großartige und Bombastische, das für das Individuum freilich meist nur potemkinsche Funktionen hat, weil es dabei um nichts als die Fassade des Lebens geht. In dieser Beziehung hat Marcuse nichts zu bieten. Ihm geht es einzig um jene winzige, wehrlose Minderheit, das Individuum, um sein ganz persönliches Glück und um die Solidarität der Menschen, die dem stets zu gewärtigenden „factum brutum“, der menschlichen Bestialität, das „factum humanum“, das menschliche Mit-Gefühl, entgegenstellt und es dadurch (hoffentlich) domestiziert.

Es täte der aktuellen Diskussion gewiß gut, mit einer gehörigen „Portion Marcuse“ (Ludwig, nicht Herbert!) angereichert zu werden.

1 Damit ähnelt Marcuse seinem Zeitgenossen Hermann Broch, den die Mathematiker seiner Zeit nicht verstanden, weil er „eine ,wundervolle Synthese’ von Wissenschaft, die ,auf das Unmittelbare und Wirkliche’ zurückgreife, und der dichterischen Erkenntnis, die allein die ,Unmittelbarkeit des Irrationalen’ erfassen könne“, entwickeln wollte. –Vgl. dazu: Eberhard Rathgeb: Das eigentlich Mystische liegt im Rationalen; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Juli 1999, S. N 5.

2 Ludwig Marcuse: Mein zwanzigstes Jahrhundert. Auf dem Weg zu einer Autobiographie. Erstausgabe: 1960. Neuausgabe: Zürich: Diogenes 1975, S. 25.

3 „Ich wurde ein wilder Parteigänger, Neu-Kantianer dezidiert südwestdeutscher Prägung. Ich wurde sehr intolerant (wozu ich schon immer neigte) und ein hochgelehrter Stretihammel. (…) Rickert erklärte dies System [das ,System der Werte’], nach einem Lieblings-Trick des zwanzigsten Jahrhunderts, für ,offen’; obwohl ein Offenes System ein hölzernes Eisen ist. (…) Das Offene System war leider so ,offen’, so gastfreundlich, daß es von Heinrich Rickert, dem Sohn des berühmten deutschen Freisinnigen, in den dreißiger Jahren –mit ihrer [Hitlers und Stalins] deutschen Ideologie gefüllt werden konnte… Zwanzig Jahre zuvor aber, 1914, war ich überwältigt von der gedanklichen Schärfe dieses scharfsinnigen Scholastikers des Neu-Kantianismus.“ Marcuse: Mein zwanzigstes Jahrhundert, S. 28/29.

4 Die Individualität als Wert und die Philosophie Friedrich Nietzsches. Dissertation. Berlin: Schmitz und Bukofzer 1917.

5 Ludwig Marcuse: Einer der tragischen Helden der zwanziger Jahre. Wie kann sieb der Revolutionär gegen die Revolution halten? In: Die Zeit. Nr. 4 vom 26. 1. 1962. Wiederabgedruckt in: Marcuse: Wie alt kann Aktuelles sein? Zürich: Diogenes 1989, S. 428-434, hier S. 432.

6 Marcuse: Mein zwanzigstes Jahrhundert, S. 25.

7 Ludwig Marcuse: Amerikanisches Philosophieren. Erstausgabe: 1959. Neuausgabe: Zürich: Diogenes 1990, S. 166.

8 In einem Brief an Rolf Hochhuth; in: Briefe von und an Ludwig Marcuse. Herausgegeben und eingeleitet von Harold von Hofe. Zürich: Diogenes 1975, S. 255. –Vgl. dazu auch den Briefwechsel, den Marcuse von 1936 bis 1965 mit Max Horkheimer, dem langjährigen Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, führte; in: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften. Band 15 bis 18. Frankfurt am Main: Fischer 1996.

9 Ludwig Marcuse: Ist Nietzsche ein Nazi? In: Aufbau. New York 13. Oktober und 20. Oktober 1944. Wiederabgedruckt in: Ders.: Essays, Porträts, Polemiken. Die besten Essays aus vier Jahrzehnten. Hrsgg. von Harold von Hofe. Zürich: Diogenes 1979, S. 105-112.

10 Vgl.: Horst Wernicke: Der totgeschwiegene Aufklärer. Plädoyer für Ludwig Marcuse; in: L’80. Heft 41. März 1987, S. 52-69. Gekürzte Fassung in: Dieter Lamping (Hrsg.): Ludwig Marcuse –Werk und Wirkung. Bonn: Bouvier 1987, S. 47-63.

11 Ludwig Marcuse: Lebe oder lebe ich nicht in der Bundesrepublik? In: Hermann Kesten (Hrsg.): Ich lebe nicht in der Bundesrepublik. München: List 1963, S. 107-113, hier S. 112.

12 Ivo Frenzel: Philosophie zwischen Traum und Apokalypse; in: Frankfurter Hefte. 15. Jahrgang. Heft 7/8 (1960). Wiederabgedruckt in: Über Ernst Bloch. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, S. 17-41, hier S. 17.

13 Ludwig Marcuse: Bewunderung und Abscheu. (Ernst Bloch); in: Stuttgarter Zeitung vom 12. März 1960. Wiederabgedruckt in: Ders.: Essays, Porträts, Polemiken. A.a.O, S. 285-295, hier S. 291.

14 Ebenda, S. 292.

15 Vgl. dazu die Beiträge in: Dieter Lamping (Hrsg.): Ludwig Marcuse –Werk und Wirkung. A.a.O.

16 Horst Wernicke: Der totgeschwiegene Aufklärer. Plädoyer für Ludwig Marcuse; in: Dieter Lamping (Hrsg.): Ludwig Marcuse –Werk und Wirkung. A.a.O, S. 47-63, hier S. 57/58.

17 Ludwig Marcuse: Der Fall C.G. Jung: Ein garnicht so okkulter Professor. Wiederabgedruckt in: Ders.: Essays, Porträts, Polemiken. A.a.O, S. 173-186.

18 Marcuse: Mein zwanzigstes Jahrhundert, S. 167ff.

19 Ludwig Marcuse: Nachruf auf Ludwig Marcuse. Erstausgabe: 1969. Neuausgabe: Zürich: Diogenes 1975, S. 196/97.

20 Harold von Hofe: Ludwig Marcuse in Los Angeles; in: Das Tintenfaß. Ein Diogenes Taschenbuch für Literatur und Grafik. Herausgegeben von Daniel Keel und Gerd Haffmans. 10. Jahrgang, 24. Folge. Zürich 1974, S. 116-141, hier S. 118.

21 Auf einen modernen deutschen Denker, der dieselben Fragen stellt, wenn er ihnen auch ganz anders zu Leibe rückt als Marcuse, ist an dieser Stelle hinzuweisen, auf den 1996 verstorbenen Hans Blumenberg und dessen illusionslose Sicht des modernen Menschen, dessen eigentliche Leistung in der Distanzierung des „Absolutismus der Wirklichkeit“ bestehe. –Vgl.dazu auch den Aufsatz von Franz Josef Wetz in: Mut Nr. 359 (Juli 1997): Hans Blumenberg –Ein Gelehrter im Verborgenen, S. 52-59.

Die Bücher von Ludwig Marcuse

Die Individualität als Wert und die Philosophie Friedrich Nietzsches. Berlin 1917

Georg Büchner. Berlin 1922

Strindberg. Das Leben der tragischen Seele. Berlin 1923. Neuausgabe: Zürich 1989

Die Welt der Tragödie. Berlin 1923. Neuausgabe: Zürich 1992

Gerhart Hauptmann und sein Werk. (Hrsg.) Berlin 1923

Welt-Literatur der Gegenwart. Zwei Bände. (Hrsg.) Berlin 1924

Revolutionär und Patriot. Das Leben Ludwig Bömes. Leipzig 1929. Mit einem Register versehene Neuausgabe: Ludwig Böme. Aus der Frühzeit der deutschen Demokratie. Zürich 1977

Heinrich Heine. Ein Leben zwischen gestern und morgen. Berlin 1932. Mit einem Register versehene Neuausgabe: Heinrich Heine. Melancholiker, Streiter in Marx, Epikureer. Zürich 1977

Soldat der Kirche. Das Leben des lgnatius von Loyola. Amsterdam 1935. Neuausgabe: Zürich 1973

Die Philosophie des Glücks. Von Hiob bis Freud. Zürich 1949. Vom Autor redigierte und erweiterte, mit einem Register versehene Neuausgabe: Zürich 1972

Der Philosoph und der Diktator. Plato und Dionys. Berlin 1950. Neuausgabe: Plato und Dionys. Geschichte einer Demokratie und einer Diktatur. Zürich 1984

Pessimismus. Ein Stadium der Reife. Hamburg 1953. Erweiterte, mit einem Register versehene Neuausgabe: Philosophie des Un-Glücks. Pessimismus-ein Stadium der Reife. Zürich 1981

Sigmund Freud. Sein Bild vom Menschen. Hamburg 1956. Mit einer 7.eittafel und einem Register versehene Neuausgabe: Zürich 1972

Amerikanisches Philosophieren. Pragmatisten, Polytheisten, Tragiker. Hamburg 1959. Neuausgabe mit einem Nachwort von Dieter Lamping: Zürich 1994

Heinrich Heine in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg 1960

Mein zwanzigstes Jahrhundert. Auf dem Weg zu einer Autobiographie. München 1960. Mit einem Register versehene Neuausgabe: Zürich 1975

obszön. Geschichte einer Entrüstung. München 1962. Neuausgabe: Zürich 1984

Heinrich Heine. Lyrik. (Hrsg.) München 1962. Neuausgabe: Heinrich Heine. Gedichte. Ausgewählt und eingeleitet von Ludwig Marcuse. Zürich 1977

Das denkwürdige Leben des Richard Wagner. München 1963. Mit einem Register versehene Neuausgabe: Richard Wagner. Ein denkwürdiges Leben. Zürich 1973

Aus den Papieren eines bejahrten Philosophie-Studenten. München 1964. Neuausgabe: Meine Geschichte der Philosophie. Aus den Papieren eines bejahrten Philosophiestudenten. Zürich 1981

Argumente und Rezepte. Ein Wörterbuch für 7.eitgenossen. München 1967. Neuausgabe: Zürich 1973 Nachruf auf Ludwig Marcuse. München 1969. Mit einem Register versehene Neuausgabe: Zürich 1975

Briefe von und an Ludwig Marcuse. Herausgegeben und eingeleitet von Harold von Hofe. Mit Anmerkungen, Chronik, Bibliographie und Register. Zürich 1975

Ein Panorama europäischen Geistes. Texte aus drei Jahrtausenden, ausgewählt und vorgestellt von Ludwig Marcuse. Drei Bände. Mit einem Vorwort von Gerhard Szczesny. Zürich 1977. Neuausgabe: Zürich 1984

Essays, Porträts, Polemiken. Die besten Essays aus vier Jahrzehnten. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Harold von Hofe. Zürich 1981.

Das Märchen von der Sicherheit. Herausgegeben und eingeleitet von Harold von Hofe. Zürich 1981

Wie alt kann Aktuelles sein? Literarische Porträts und Kritiken. Herausgegeben, mit einem Nachwort und einer Auswahlbibliographie von Dieter Lamping. Zürich 1989

Dieter Lamping (Hrsg.): Ludwig Marcuse –Werk und Wirkung. Bonn 1987