Ludwig Marcuse – Streiter für Individualität und Liebhaber humanen Glücks
Im Jahre 1971 starb Ludwig Marcuse, 75-jährig, im bayerischen Bad Wiessee; einsam, aber nahezu berühmt; umstritten, bekämpft und totgeschwiegen, aber keineswegs ohne öffentliche Wirkung. Wenige Jahre später war der Autor von etwa zwanzig zum Teil brillanten, zum Teil wichtigen, zum Teil aber auch ohne besondere Sorgfalt verfaßten Büchern so gut wie vergessen. Wenn man sich hier und dort doch noch an ihn erinnerte, dann wurden vor allem seine beiden zeitgeschichtlich-literarischen Autobiographien gewürdigt: „Mein zwanzigstes Jahrhundert“ aus dem Jahre 1960 und „Nachruf auf Ludwig Marcuse“, das 1969 erschien. Obwohl er 16 Jahre lang – von 1945 bis 1962 – an der Universität von Los Angeles, im kalifornischen Exil, eine Professur für deutsche Philosophie innehatte, sprach von dem Philosophen Ludwig Marcuse niemand mehr. Das mag vor allem daran liegen, daß es ihm niemals darum ging, Philosophie als gelehrtes System von Theorien und Begriffen zu vermitteln, sondern vielmehr als gedankliche Grundlage für den Umgang mit dem Leben in seiner Gesamtheit – sowohl mit der Rationalität des Menschen als auch mit seiner Irrationalität, mit seiner Vernunft und seinem Gefühl; mit dem Humanen gleichermaßen wie mit dem Bestialischen, das dem ‚homo erectus‘ eigen ist. In seinem Buch „Amerikanisches Philosophieren“ (1959) schreibt er über sein Selbstverständnis als Philosophie-Lehrer: „Ich lehre vor allem dies: es gibt nichts Göttlicheres als das Rätsel. Philosophie kann es nicht lösen – aber immer heller machen in seiner Rätselhaftigkeit. Die consolatio philosophiae ist nur für ängstliche Kinder. Man gebe auf die hartnäckigen Versuche, die Moral aus der Logik in taschenspielerischer Seriosität herauszuziehen. Wozu Moral beweisen wollen? Es ist besser, ein Beispiel zu geben. Beispiel für was? Daß der Mensch verwöhnt werden soll. Daß man nicht nur den Fernsten lieben soll, auch den Nächsten. Daß man sich nicht weniger lieben soll als ihn. Daß nicht jede Generation für die kommende geopfert werden soll, weil es dann vor lauter Zukunft nie eine Gegenwart gibt.“
Marcuse lag deshalb an keinem systematisch gefügten intellektuellen Gebäude, wie es vor allem deutsche Gelehrte seit alters von ihresgleichen fordern, eher hinterließ er eine zum Teil bizarre Ansammlung meist brillant formulierter philosophischer Einsichten und zerklüfteter Gedankenschichtungen, die anmuten wie ein polymorpher Steinbruch für den Geist – so chaotisch und vielfältig wie die Natur selbst, so abgründig, unsystematisch und unberechenbar wie das Leben in seiner ganzen, bisweilen verwirrenden Farbigkeit.
Darf man so jemanden mit Fug einen Philosophen nennen? Muß man sich nicht eher darüber wundern, daß solch ein ‚Unsystematiker‘ und Provokateur es zum Professor, mithin zu wissenschaftlicher Reputation brachte? Man muß in der Tat; und es steht durchaus dahin, ob deutsche Gründlichkeit es zugelassen hätte, ihn in seiner Heimat zum akademischen Lehrer avancieren zu lassen. Die Amerikaner, bei denen der 1933 vor den Häschern der Nazis geflohene, atheistische Jude von 1939 bis 1962 Aufnahme fand, hatten damit keine Probleme. Seine Studenten schätzten vielmehr das Originelle ihres Professors, seine stupenden Kenntnisse vor allem der europäischen Philosophie und Literatur sowie seine überragende Fähigkeit, als hemmungsloser, souveräner Eklektiker nahezu in der gesamten Geistesgeschichte der Menschheit zu wildern, um seine Anliegen zu illustrieren.
Diese Anliegen freilich blieben zeit seines Lebens in ihren Grundstrukturen dieselben, wenn sie auch mithilfe stets neuer Sujets immer wieder anders verdeutlicht wurden: Vor allem ging es ihm um die Rechte jener „winzigen Minderheit“, des Individuums, gegenüber den vielfältigen Versuchen, es zu unterjochen und kollektiven Regeln zu unterwerfen – psychisch wie physisch. Dann aber auch um das Recht und die Chance jedes einzelnen Menschen, in seinem Leben sein je eigenes Glück zu verwirklichen. Schließlich um die Behauptung von Humanität gegenüber den immer wieder die Oberhand gewinnenden bestialischen Trieben der Menschen, um die Domestizierung des „factum brutum“ durch das „factum humanum“. Daß Sigmund Freud einer seiner Lehrmeister war und daß Marcuse sich in der Tradition der Romantiker und Lebensphilosophen, speziell von Georg Büchner und Friedrich Nietzsche sah, wird schon aus diesen wenigen Anmerkungen deutlich. Harold von Hofe, sein amerikanischer Schüler und Freund, schreibt im Vorwort zu dem Sammelband „Essays, Porträts, Polemiken“ (1979): „Marcuse nannte Pessimismus ‚ein Stadium der Reife‘, er übernahm das letzte Wort aus Schopenhauers Hauptwerk, ‚NICHTS‘, machte es zu einem zentralen Begriff seines Denkens und änderte die Richtung, wie Nietzsche, auf ein Trotzdem hin.“
Sicher, von Denkern dieses Schlages haben wir nicht viele in Deutschland, und die meisten von uns schätzen sie auch nicht besonders, ja, ängstigen sich gar vor ihnen eingedenk der schrecklichen Nazi-Zeit, in der man den toten, deshalb wehrlosen Professor Nietzsche kurzerhand als intellektuellen Gewährsmann für den arischen Wahnsinn adoptierte und ihn dadurch postum vergewaltigte. Wir halten es heute lieber mit den scheinbar seriösen und soliden Meistern der logisch-begrifflichen Systematik, die dem Rationalen huldigen und alles Irrationale dadurch zu bändigen oder doch wenigstens zu marginalisieren meinen. Allerdings unternehmen diese Liebhaber des Übersichtlichen, so Marcuse, dabei allzuoft den Versuch, das Individuum zu entmündigen, es seiner unerklärlichen Einzigartigkeit zu berauben und zu nichts als dem Einzelfall einer allgemeinen Formel zu degradieren. Nicht daß Marcuse solche geistigen Höchstleitstungen philosophischer Dompteure nicht anerkannt hätte, nein, sie faszinierten ihn geradezu: Karl Marx zum Beispiel oder – bei aller zugestandenen Ambivalenz – Immanuel Kant. Aber ihre Theorien faszinierten ihn eben nur als geistige Übungen. Sobald sie in die Praxis übersetzt werden sollten, sei es als „Diktatur des Proletariats“ oder als „kategorischer Imperativ“, trat der Skeptiker Marcuse ihnen im Namen des einmaligen und einzigartigen Individuums und seiner Rechte unversöhnlich entgegen.
Hinter all‘ den angeblich so menschenfreundlichen Bemühungen von Ideologen und philosophischen Religionspredigern argwöhnte Marcuse stets den gedanklich und/oder moralisch verbrämten Versuch, den Einzelnen gefügig zu machen und ihn seiner Individualität zu entkleiden. Er traute ihnen nicht, lehre doch die Geschichte der Menschheit, daß es fast immer auf bestialische Machtkämpfe hinausgelaufen sei zwischen den Ideologien und Religionen, wenn sie den Besitz der Wahrheit für sich beanspruchten und das Leben der Menschen nach ihren Regeln bestimmen wollten. Blickt man heute nach Nordirland, auf den Balkan oder in den Kaukasus, so muß man leider konstatieren, daß diese These Marcuses nach wie vor Bestätigung erfährt.
Besser, so Marcuse, kämpfe man für Humanität im Alltag, jenseits aller Ideologien und Religionen – wohl wissend, daß sie sich niemals ganz und gar werde herstellen lassen; aber dieser Kampf eröffne eher Aussicht auf menschliches Maß und individuelles Glück als die Gefechte zwischen den Herren der großen Konzepte und Entwürfe. Sie nämlich verlangen nichts als individuelle Opfer und vertrösten den Menschen in der Regel auf die Zukunft, auf eine diesseitige oder jenseitige, dabei kann er sein Glück doch nur in der Gegenwart finden, im Hier und Jetzt, im Vollzug seines individuellen Lebens. Folgerichtig setzt Marcuse lieber auf das humane Beispiel, auf die Fähigkeit des Menschen, mitzufühlen, auf das Mit-Leid und die Mit-Freude, denen schon Schopenhauer mehr zugetraut hatte als den großen Gedanken; aber er erliegt nicht der Versuchung, den Triumph des Mit-Gefühls vorherzusagen oder zu propagieren, vielmehr bleibt er nüchtern und schildert den Menschen als eine tragische Existenz: immer bemüht, sich selbst und die Welt zu begreifen, ohne jedoch dazu wirklich in der Lage zu sein, ja, dadurch mehr Fragen als Antworten erzeugend; und immer wieder bemüht, das Gute, wie es auch definiert sein mag, zu schaffen, ohne es jedoch jemals verwirklichen zu können, denn es gibt nichts, was ohne alle Abstriche für alle gut wäre – so wenig wie es eine für jedermann gültige Wahrheit gibt.
Unter dem Strich bleibt stets die fundamentale Erkenntnis: Was immer der Mensch tut und erstrebt, seine unzureichenden Fähigkeiten und seine Endlichkeit werden ihn stets hindern, zu endgültigen Einsichten und Leistungen zu kommen. Was freilich nicht verhindern kann und sollte, daß er es immer wieder versucht, ja, daß der Mensch sich danach sehnt, selbst Gott zu sein und der Welt ihre Gesetze vorzuschreiben. Denn darin liegt das Tragische seiner Existenz und gleichzeitig die größte Chance für sein Glück: wie Sisyphus den Stein immer wieder den Berg hinaufzurollen, der Vergeblichkeit seines Tuns nicht achtend. Marcuse ist mit dem von ihm geschätzten Albert Camus der festen Überzeugung, daß Sisyphus eigentlich ein glücklicher Mensch sei.
Eines scheint gewiß: Der ‚typisch deutsche‘ Traum von Sicherheit und Geborgenheit, von Ordnung und Zuverlässigkeit, läßt sich mit einem wie Marcuse keineswegs realisieren. Er ist ein gründlicher Spielverderber, wenn es um die Errichtung unfehlbarer Systeme und sicherer Zustände geht. Besser, wir bleiben skeptisch, so meint er, dann bleibt uns wenigstens die Enttäuschung des endgültigen Zusammenbruches unserer Illusionen erspart. Und zusammenbrechen werden sie alle, davon ist er überzeugt. Denn es gibt nichts, was ewige Gültigkeit beanspruchen könnte, jedenfalls nichts, wovon wir wissen könnten. „Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“, auf die Kant noch seine Zuversicht gründete, waren schon bei den Lebensphilosophen des 19. Jahrhunderts keine Fixpunkte mehr, endgültig haben sie ihre Gewährleistungs-Funktion für moderne Denker vom Schlage des Ludwig Marcuse verloren. Deshalb, so seine Forderung, sollten wir lieber in solidarischer Anstrengung den humanen, irdischen status quo mit all‘ seinen Unzulänglichkeiten verteidigen und darin unser Glück suchen, als daß wir der Illusion ewiger Gewißheit nachhängen; wir sollten aber seine Fragilität und dauernde Gefährdung niemals vergessen. Ja, wir sollten ihn deshalb als etwas Kostbares begreifen.
Allen, die sich in eine andere, von Wahrheit und allgemein gültigen Strukturen getragene Situation hineinphilosophieren, denen sich das Individuum zu fügen habe, die ein Leben nach der Gegenwart oder nach dem Tode propagieren, das der Fragilität enthoben wäre, allen Utopisten also, tritt Marcuse kompromißlos entgegen. Besonders deutlich wurde dies in seiner Auseinandersetzung mit Ernst Bloch, dessen Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“ (1959) aus seiner Feder eine den Zeitgeist nicht achtende, vernichtende Kritik erfuhr. Es sei unmenschlich, so Marcuse, sich auf die Zukunft herauszureden. Auch hat er Bloch, den er seit den zwanziger Jahren gut kannte, dessen stalinistische Ergebenheit noch während der sowjetischen Schau-Prozesse in der zweiten Hälfte der dreissiger Jahre niemals verziehen. In „Mein zwanzigstes Jahrhundert“ schreibt Marcuse: „Denn Bloch reduziert drei Dimensionen des Daseins auf die eine: die Zukunft, die außerdem noch so reduziert ist, daß sie gar keine mehr ist, weil ihr das Moment Überraschung fehlt. Er hat die Denk-Kategorien aller, welche die Gegenwart der Lebenden mit Vergnügen opfern für irgendeinen Himmel: seiner heißt ‚Utopie‘. Sein Werk wurde so gewaltig wie der anti-humane Aberglaube, den es birgt; denn alles Absehen von denen, die in dieser Stunde leben, ist unmenschlich – auch wenn es zugunsten der menschlichsten Menschlichkeit geschieht. Ernst Bloch verdient, das muß ihm zuerkannt werden, einen der schönsten Throne im Elfenbeinturm dieser Jahre. Sein Klassenkampf-Marsch ist vollendet geblasen. Er schrieb, meisterhaft, die Begleit-Musik zum Kalten Krieg. Er ist neben dem ‚Professor für Angst und Sorge‘ der amüsantere Professor Ich-fürcht-mich-nit und im Westen ein Märtyrer, mit Genehmigung des Ostens.“
In ähnlicher Weise springt Marcuse mit allen um, die dem Menschen eine goldene Zukunft versprechen, wenn sie sich in der Gegenwart nur ihren ideologischen oder religiösen Regeln unterwerfen. Und diese absichtsvolle, inhumane Attitüde unterstellt er auch den von der Frankfurter Schule inspirierten, heute sogenannten „Achtundsechzigern“. Vor allem Adorno habe er dabei aufs Korn genommen, meint Marcel Reich-Ranicki (1974), der nicht nur aus Verbundenheit in jüdischer Herkunft manche Sympathien für Marcuse hegt. Dabei habe Adornos Abneigung gegen eine Massen-Kultur Marcuses besonderen Zorn erregt. Wie dem auch sei – relativ sicher und belegt ist, daß Marcuse den Studenten-Protest gegen eine autoritäre, verharzte und verknöcherte Universitätsstruktur und gegen eine Gesellschaft, die zu feige war, sich ihrer Vergangenheit aufrichtig zu stellen, unterstützte, daß er aber alle vom Marxismus oder Pseudo-Marxismus inspirierte und infiltrierte Doktrin und Propaganda nahezu angeekelt zurückwies.
Ich erlaube mir anzumerken, daß Reich-Ranicki nach meiner Meinung die philosophischen Anliegen und Anstrengungen Marcuses unterschätzt, vielleicht auch mißversteht; was er indessen zu seiner allgemeinen Charakteristik sagt, ist bemerkenswert: „Er war und blieb ein Einzelgänger, der sich, wie der von ihm verehrte amerikanische Philosoph Henry Adams, für einen ‚konservativen Anarchisten‘ hielt, er war ein romantischer Rationalist, der nicht aufhören konnte, an die Vernunft zu glauben, ein militanter Liberaler, dessen Militanz oft beanstandet wurde, weil man seinen Liberalismus verkannte und seine Toleranz unterschätzte, ein passionierter Atheist, der den Atheismus vor der Mythologisierung zu bewahren suchte, ein unbeirrbarer Aufklärer, der, wo andere systematisch zwar, doch unkonsequent dachten, den Mut hatte, sich Konsequenz ohne Systematik zu leisten.“ Wenn man den Terminus „Vernunft“ in diesem Zitat durch „Humanität“ ersetzt, so ist ihm ganz und gar zuzustimmen. Freilich sind dem Mißverständnis, daß Humanität immer nur auf Vernunft fußen müsse, in deutscher Manier und Tradition manche unserer Denker und Kritiker immer wieder erlegen.
Marcuse jedenfalls war auch ein Einzelgänger, weil es ihm widerstrebte, dem Zeitgeist, welcher Couleur immer, unkritisch Tribut zu zollen. Schon in den zwanziger Jahren legte er sich als Journalist mit all‘ jenen an, die getreu einer vom Zeitgeist an die Intellektuellen gerichteten Erwartung auf dem Papier moralisches Handeln forderten, zum Beispiel eine sozialistische Moral, in ihrer Praxis aber ihrer eigenen Forderung keineswegs entsprachen. Einer davon war kein Geringerer als Bertolt Brecht. Dessen materielle Orientierung, die dem Ethos seiner Dichtungen durchaus widersprach, deckte Marcuse in einem Zeitungsartikel auf und wurde prompt von dem Autor sozialistischer Lehrstücke verklagt. Was darüber in „Mein zwanzigstes Jahrhundert“ (im Kapitel „Der arme Bertolt Brecht und der weniger arme“) nachzulesen ist, könnte amüsanter nicht geschrieben sein. Marcuse zitiert aus seinem Text von 1931: „Herr Bertolt Brecht kam aus Augsburg in die Wildnis Berlin, um den dort beheimateten Charakterköpfen zu zeigen, wie man auch ohne Kopf kein Charakter sein kann. Aber Herr Bertolt Brecht aus Augsburg denkt, und der Marxismus lenkt. Brecht kam, um sich sein Stück zu schneiden aus dem großen Kuchen. Aber er sah, daß er zu seinem Kuchen nur käme, wenn er verkündete, daß er den Kulinarismus hasse. So wurde Herr Bertolt Brecht wider Willen ein Idealist. Wie nun Herr Bertolt Brecht aus Augsburg abermals ummontiert wird, wie er den Idealismus los wird, und wie er endlich zu seinem Kuchen kommt, wird Ihnen in diesem Bild gezeigt …‘ Meine Parodie endete: ‚Stimme eines Getreuen am Mikrophon: … und es ist die moralische Größe Bert Brechts, daß er nicht wie das verlorene individualistische Zeitalter genießerisch bei seiner persönlichen Note beharrt, sondern daß er in Reih und Glied marschiert in der großen Front … Bert Brecht (steckt die Pfeife ins Maul, streckt die Beine von sich und korrigiert den Hamlet, mit roter Tinte): ‚Sein oder Nichtsein?‘ (Er schüttelt den Kopf) Natürlich: Sein! – Ich beharre noch heute darauf: wer Moral predigt, muß auf Moral hin untersucht werden.“ Der Streit zwischen Marcuse und Brecht wurde vor dem Friedensrichter beigelegt.
Literatur und Philosophie, für Marcuse waren sie die zwei Seiten ein und derselben Medaille. Ob er sich nun über die Literaten und Dramatiker hermachte (als junger Mann hat er auch selbst Erzählungen veröffentlicht, diesen Ehrgeiz aber bald aufgegeben) oder seine eigene Geschichte der Philosophie schrieb: beides diente dem Zweck, sein leidenschaftliches Plädoyer für das Recht und die Verantwortlichkeit des Individuums zu befestigen. Daß es dabei weder subjektive noch objektive Vollkommenheit geben kann, wie es sich idealistische Geister im klassischen Humanismus zurechtschwärmten, war eine seiner Botschaften. Und daß wir erst dann zu einer wahrhaft humanen Form des Zusammenlebens kommen können, wenn wir unsere Mängel-Existenz, unsere tragische Disposition akzeptieren – jeder bei sich selbst und bei allen anderen – war eine andere. Ein enger Freund Ludwig Marcuses, der Schriftsteller und Verleger Gerhard Szczesny, hat das Anliegen der Humanität in seinem Buch „Die Zukunft des Unglaubens“ (1958) wie folgt dargestellt: „Der Mensch ist unzulänglich und behelfsmäßig und immer nur auf dem Wege zur Verwirklichung einer durchgehend vermenschlichten Welt. Aber diese Unzulänglichkeit macht sein Streben nach Menschlichkeit weder sinnlos noch aussichtslos. Was sich in der Welt überhaupt an Humanität verwirklichen läßt, ist nur durch den Menschen und nach seinen Kräften verwirklichbar. Es gibt niemand, der ihm diese Aufgabe abnehmen könnte. Dem hinter uns liegenden Jahrhundert wäre der ganze tragisch-heroische und sentimental-zynische Immoralismus erspart geblieben, wenn es sich darüber klar geworden wäre, daß die Humanität ein Naturereignis ist.“
Marcuse hätte es vielleicht mit eleganteren Worten gesagt, aber seine Botschaft ist dieselbe. Und was hat uns eine solche Botschaft heute, fast vierzig Jahre nach seinem Tod, noch zu sagen? Was kann Marcuse uns noch mitteilen, das für unser praktisches Leben von Bedeutung wäre? Vor allem, und das ganz besonders, nachdem die großen Heilslehren sozialistischer Provenienz nicht mehr überzeugen, daß wir um unseres individuellen Glücks willen unsere Hoffnung niemals auf Theorien, Religionen und Ideologien setzen dürfen, die den Besitz letzter Wahrheit für sich beanspruchen; daß wir den Menschen nicht dem, was er selbst erdacht hat, unterordnen dürfen, den Schöpfer nicht seinem Geschöpf. Vor all‘ unsere Wünsche und Vorstellungen sollen wir den Soldaten der Skepsis stellen, der uns davor schützt, von irgendeiner metaphysischen Erkenntnis irgendeine Form von Erlösung zu erwarten – sei es im Diesseits oder im Jenseits, in naher oder in ferner Zukunft. Denn wovon sollten wir erlöst werden, wenn doch niemand als der Mensch selbst verantwortlich ist für das Leben und Zusammenleben unserer Spezies. Wir müßten uns schon von uns selbst erlösen wollen. Außer uns selbst aber und unserer Wahrnehmung gibt es nichts. Alle angeblichen Offenbarungen und mystisch-religiösen Wahrheiten sind nichts als die auf den Himmel der Illusionen und Utopien projizierten Sehnsüchte der Menschen, über ihre begrenzte Natur hinauszuwachsen; nichts als der untaugliche Versuch zur Kompensation ihrer schmerzlichen Unvollkommenheit.
Wenn wir solche Ratschläge beherzigen, müssen wir freilich Abschied nehmen von den großen Entwürfen, dem Reich der Freiheit oder dem paradiesischen Jenseits. Aber andererseits können wir selbst dafür sorgen, in diesem Leben, hier und jetzt, unser Glück nach menschlichem Maß zu erreichen. Wer das allerdings gering schätzt, dem hat Ludwig Marcuse nicht viel zu sagen. „Wir müssen lernen, bescheidener zu werden.“ Das ist der letzte Satz seines Buches „Aus den Papieren eines bejahrten Philosophiestudenten“ (1964). Bescheidener, was unseren blinden Ehrgeiz und das Streben nach übermenschlichen Leistungen betrifft, damit wir die Chancen auf menschliches Glück im Hier und Jetzt nicht verspielen.
Der Aufsatz erschien in: Mut – Forum für Kultur, Politik und Geschichte Nr. 393. Asendorf Mai 2000. Seite 50 – 56.