Nationalsozialismus und Wissenschaft

„Inzwischen hat der Sieg der nationalsozialistischen Revolution mit der Aufrichtung des dritten Reiches zugleich ein neues Bild der Menschen aufgerichtet. Die Aufgabe der Geschichtsphilosophie war es, das Gefüge dieses großen Geschehens neuer Gestalt-, Form- und Stilfindung sichtbar und verständlich zu machen.“ Das sind die Worte des Philosophen Erich Rothacker (1888 –1965) aus dem Jahre 1934. Er lehrte als ordentlicher Professor an der Universität Bonn von 1928 bis 1954. Trotz seines Engagements für die Nazis, das weit über schriftliche Arbeiten hinausging, wurde ihm vom Prüfungsausschuß der Philosophischen Fakultät im September 1945 bescheinigt, er habe in seiner wissenschaftlichen Arbeit „dem Geist der NSDAP keine Konzessionen gemacht“, so daß er seine Forschungs- und Lehrtätigkeit fortsetzen konnte. In einer Reihe schriftlicher Zeugnisse, meist aus der Feder akademischer Kollegen, wird Rothacker überdies bescheinigt, trotz allem kein Nazi gewesen zu sein, so daß er als honoriger Wissenschaftler galt und ihm kein Geringerer als Hans Blumenberg in seinem Nachruf bescheinigte, es handle sich bei Rothacker um einen „bedeutenden Geist“.

 Der Bonner Philosoph Volker Bönigk legt nun eine Studie vor die überzeugend nachweist, daß Rothacker‘ trotz aller prominenten Bemühungen, ihn von der braunen Farbe reinzuwaschen, nicht nur während der tragischen zwölf Jahre Deutschlands, sondern auch eh ein überzeugter nationalsozialistischer Wissenschaftler war und geblieben ist. Die in den bisherigen Zeugnissen verwandte Darstellung, Rothacker habe zwar privat gelegentlich mit den Nazis zu tun gehabt, sei aber als Wissenschaftler niemals dem Nationalsozialismus verfallen, entlarvt Bönigk als eine Strategie, die sich der Frage nach dem Wissenschaftsbegriff der Nazis niemals wirklich gestellt hat. Sie gehe nämlich von der falschen Vorstellung aus, daß alles, was nationalsozialistisch sei, zugleich unwissenschaftlich sein müsse, weshalb qua definitionem jedes Werk von allgemein erwiesenem wissenschaftlichem Rang, also auch das Rothackers, gar nicht nationalsozialistisch sein könne.

 Bönigk nun tritt aber den Beweis für die These an, daß es durchaus eine nationalsozialistische Wissenschaft gibt und daß diese Wissenschaft auf vier Grundannahmen beruht. Sie akzeptiere „1. die rassisch-biologische Fundamentaltheorie, 2. das Recht der Gemeinschaft im Gegensatz zur Rechtlosigkeit des Individuums, 3. die rassen- und erbbiologische Bestandsbedrohung des eigenen Volkes vor dem Hintergrund einer Kulturkreistheorie und 4. die Rassen- und Volkswert-Lehre“. Auf der Basis dieser Grundsätze entwickelte sich im 19. und 20. Jahrhundert eine zwar menschenverachtende, aber systematisch und konsequent argumentierende Wissenschaft, die auch für das Werk Rothackers grundlegend sei. So weist Bönigk schlüssig nach, daß Rothacker in seinen wichtigsten Werken, etwa der „Geschichtsphilosophie“ von 1934 und den „Problemen der Kulturanthropologie“ von 1942, von der biologisch-mimetischen Rassen-Lehre des nationalsozialistischen Rassen-Theoretikers Ludwig F. Clauß ausgeht. Unter anderem daraus ergebe sich, daß Rothackers Philosophie „in ihrer Gesamtheit ein vollständiger Beitrag zur Ausgestaltung der nationalsozialistischen Weltanschauung ist“.

 Die Bücher Rothackers sind zum Teil nach 1945 in unveränderter Form wiederaufgelegt worden, auch hat ihr Autor sich stets um die Reputation anderer nationalsozialistischen Wissenschaftler, etwa um die von Clauß oder auch um die des nach 1945 zwangsemeritierten Germanisten Hans Naumann, bemüht.

 Von seinen den obengenannten vier Grundsätzen verpflichteten Aussagen hat er nichts zurückgenommen. Angesichts dieses Befundes, den Bönigk überzeugend darlegt, sind die Bemühungen, Rothacker vom Ruch des Nazitums zu befreien, bemerkenswert. Was immer die Motive dazu waren – eines zeigen sie in aller Deutlichkeit: das Desiderat, nationalsozialistische Wissenschaft (nicht nur in Deutschland) als eine solche zu entlarven und dadurch der Verharmlosung entgegenzutreten, die mit der Annahme einhergeht, Nationalsozialismus und Wissenschaft schlössen sich gegenseitig aus.

 Bemerkenswert sind außerdem einige eher beiläufig in der Studie von Bönigk angemerkte Hinweise. In bezug auf die Rezeption brauner Gesinnung heißt es: „Man macht in der Literatur häufig die Beobachtung, schon gar wenn es um als bedeutend eingeschätzte Persönlichkeiten – so etwa im Falle von Richard Wagner – (…) geht, daß die Feststellung, jemand habe zur rassischen Vernichtung aufgefordert, auf großen Widerwillen stößt.“ Dem ist ohne Vorbehalt beizupflichten. Gerade was Wagner betrifft, so ist die Zurückhaltung, seine rassistischen Schriften auch nur zur Kenntnis zu nehmen, nachgerade notorisch. Die in dieser Hinsicht schonungslose Monographie Ludwig Marcuses über den Komponisten etwa wurde noch 1936 vom Querido-Verlag, dem Amsterdamer Verlag der Emigranten, zurückgewiesen, weil sie dem großen Manne angeblich zu nahetrat. Erst in den sechziger Jahren konnte sie erscheinen. Ähnliches trifft auf C. G. Jung zu, den Bönigk ebenfalls erwähnt. Wieder ist es Marcuse, der ihn in seiner Autobiographie „Mein zwanzigstes Jahrhundert“ demaskiert. (Fairerweise sei aber gesagt, daß jene ungerechtfertigte Zurückhaltung in ihrer Rezeption nicht nur berühmten Personen aus der nationalistischen Szene, sondern gleichermaßen solchen kommunistischer Prägung widerfährt.) Der verdienstvollen Studie von Bönigk jedenfalls ist schon um des Zweckes willen die Aufarbeitung der Vergangenheit in Zukunft ehrlicher und mutiger zu gestalten, viel Resonanz zu wünschen.