Nichts als ein Papiertiger?

Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union

Folgt man den Auffassungen der überwiegenden Mehrzahl von Experten und Fachjournalisten, so ist die im Maastrichter Vertrag festgeschriebene Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), der „zweite Pfeiler“, auf dem die Europäische Union (EU) angeblich ruht, bisher allenfalls ein Gebilde aus Pappmaché. Insbesondere die erfolglosen Versuche, den Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien politisch oder militärisch zu beeinflussen, werden als Beleg für die Wirkungslosigkeit der GASP herangezogen. Zwischen UNO, NATO, OSZE, GASP, der Kontaktgruppe (die nach dem Friedensvertrag von Dayton durch das Amt eines „Hohen Vertreters“ abgelöst wurde) und den diversen nationalen Versuchen zur Intervention sei ein kontraproduktives Geflecht von Zuständigkeiten und Abhängigkeiten entstanden, das trotz aller gegensätzlichen Lippenbekenntnisse eher die Ohnmacht der Europäischen Union und die divergierenden Einzelinteressen der Mitgliedstaaten offengelegt habe, als daß eine gemeinsame Linie erkennbar‘ geworden wäre. Als letzter Beleg für die Ohnmacht der GASP wird oft angeführt, daß erst die USA mit ihrer unbestrittenen Macht auf dem Balkan etwas habe ausrichten können. Die Europäer hätten demgegenüber das klägliche Bild einer zögerlichen und mutlosen Laienspielschar abgegeben.

Es paßt ins Bild, daß vor allem in der jüngeren Vergangenheit maßgebliche Vertreter einzelner EU-Mitgliedstaaten, zum Beispiel der britische Außenminister Rifkind oder der französische Staatspräsident Chirac, unmißverständlich klargemacht haben, sie hielten in der GASP lediglich intergouvernementale Zusammenarbeit für das geeignete Verfahren; keineswegs aber sollten nationale Kompetenzen an die Union abgegeben und deshalb auch keine gemeinsamen Organe geschaffen werden. Man mag sich fragen, wie eine solche Position etwa mit der Absicht der Franzosen vereinbar ist, einen Stabilitätspakt für ganz Europa herbeizuführen, der nach den Worten ihres früheren Ministerpräsidenten Balladur angesichts des amerikanischen ,,Alleingangs“ im Bosnien-Konflikt nur durch eine westeuropäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit eigenen Mitteln, die schrittweise entwickelt werden müßten, erreichbar sei.

Solche widersprüchlichen Äußerungen kann man wohl nur als taktische Manöver verstehen, die allzu häufig auf nationale Wählerklientele zielen und ansonsten vor allem die EU-Regierungskonferenz 1996 determinieren sollen, bei der eine Überprüfung der Maastrichter Beschlüsse und eventuell deren weitere Ausgestaltung und Konkretisierung vorgesehen sind. Kommissionspräsident Jacques Santer hat einerseits mehrfach durchblicken lassen, daß er auf dieser Konferenz die Aufhebung oder zumindest Lockerung des Zwanges zur Eistimmigkeit im Ministerrat und im Europäischen Rat, möglichst auch bei der GASP, erreichen möchte. Freilich steht nach den eindeutigen Worten aus Paris und London sehr dahin, ob Santer sich damit wird durchsetzen können. Der britische Premier Major etwa hat Santers Absichten unverhohlen als „Euro-Nonsens“ bezeichnet. Und so unken denn auch schon manche Journalisten, daß der Papiertiger Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wohl zu einem langanhaltenden Siechtum verurteilt sein werde. Jedenfalls scheine man sich darauf einstellen zu müssen, daß die Maastrichter Beschlüsse zur GASP demnächst eher eingemottet als aufgefrischt würden.

Ein allgemeiner Überblick zur Entstehung und zu den Zielen der GASP

Ist dieser pessimistische Befund nun richtig oder nicht? Und wie kam es zu dieser Situation? Vorweg ein allgemeiner Überblick zur Entstehung und zu den Zielen der GASP.

Die Europäische Union ist die größte Handelsmacht der Welt, doch die Rolle, die sie in wichtigen Fragen der Weltpolitik spielt, ist immer noch begrenzt. Die Bemühungen, der wirtschaftlichen Integration auch eine politische Dimension zu geben, reichen bis in die Gründerjahre zurück. Im August 1954 lehnte die französische Nationalversammlung den Vertrag zur Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft ab. Nach weiteren gescheiterten Versuchen in der ersten Hälfte der sechziger Jahre ging dann eine neue Initiative vom Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs 1969 in Den Haag aus. Man beschloß, Fortschritte auf dem Weg zur wirtschaftlichen und politischen Einigung einzuleiten. Als erstes Ergebnis dieses Beschlusses billigte man 1970 den ,,Davignon-Bericht“ (benannt nach dem späteren belgischen EG-Kommissar). Dadurch wurden regelmäßige Tagungen der Außenminister und der zuständigen politischen Beamten ihrer Ministerien ermöglicht. Dies war der Beginn der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ).

Auf den Pariser Gipfelkonferenzen von 1972 und 1974 wurden weitere Bemühungen unternommen, die Gesamtheit der Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten in eine ,,Europäische Union“ umzuwandeln. Freilich blieb gemeinsames Handeln noch die Ausnahme, was etwa am Scheitern des „Tindemans-Berichtes“ deutlich wurde, der ein abgestimmtes Verfahren gemeinsamer Außenpolitik vorsah.

Politische Krisen wie der Golfkonflikt, der jugoslawische Bürgerkrieg und der Zerfall der Sowjetunion haben indessen dazu geführt daß sich die EG-Partner schon vor Abschluß des Vertrages über die Europäische Union um mehr gemeinsame Politik bemühten. Im Falle Jugoslawiens wurden EG-Beobachter entsandt und Friedenskonferenzen einberufen; nach dem Zerfall der Sowjetunion setzte die EG gemeinsame Bedingungen für die Anerkennung neuer Staaten fest. Gleichwohl haben auch die jüngsten Krisen wieder gezeigt, daß die außen- und sicherheitspolitischen Strukturen der Union immer noch unzureichend sind. Zwar wurde mit der 1987 in Kraft getretenen EG-Reform (,,Einheitliche Europäische Akte“) die EPZ im Vertrag verankert, doch mußten weiterhin alle diesbezüglichen Beschlüsse einstimmig gefaßt werden. Sicherheitsfragen blieben auf politische und wirtschaftliche Aspekte beschränkt.

Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die mit dem Vertrag von Maastricht beschlossen wurde, soll der Gemeinschaft nun mehr internationales Gewicht verschaffen. Die Außenpolitik und vor allem die Sicherheitspolitik gehören allerdings zu jenen Bereichen, in denen die Mitgliedstaaten auf ihre staatlichen Hoheitsfunktionen besonders genau achten, was jeden Schritt auf dem Weg zu gemeinsamen Aktionen oder gar zur Abgabe nationaler Zuständigkeiten besonders schwierig und langwierig macht.

Gemeinsame Konzepte sind aber auch deshalb schwer zu entwickeln, weil nur zwei Mitgliedstaaten, nämlich Frankreich und Großbritannien, über Atomwaffen verfügen. Ein weiteres Problem besteht darin, daß nicht alle EU-Länder den Verteidigungsbündnissen NATO und Westeuropäische Union (WEU) angehören. Die 1949 gegründete transatlantische Verteidigungsallianz NATO umfaßt die Vereinigten Staaten, Kanada, die zwölf „alten“ EU-Mitglieder außer Irland und die nicht zur EU gehörenden Länder Türkei, Norwegen und Island. Die WEU entstand als rein europäisches Beistandsbündnis ebenfalls in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg und trat 1955 in Kraft. Ihr gehören alle „alten“ EU-Staaten außer Dänemark und Irland an.

Im Mastrichter Vertrag sind die EU-Mitglieder übereingekommen, zur Wahrung der europäischen Identität schrittweise eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitilk zu entwickeln. Ihre Grundlinien werden vom Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs festgelegt. Vorläufig wird es aller Voraussicht nach bei der Verpflichtung zu einstimmigen Beschlüssen bleiben. Es sei denn, Präsident Santer und seine Mitstreiter können sich 1996 gegen die Phalanx der nationalen Interessen durchsetzen, was freilich kaum zu erwarten, allenfalls zu hoffen ist.

Wenn die Grundlinien der GASP indessen auch noch weitgehend im Bereich der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit liegen so ist ihre Durchführung doch eng mit der Gemeinschaftspolitik verzahnt, da die meisten außenpolitischen Entscheidungen EU-Instrumente wie wirtschaftliche Zusammenarbeit, Finanzhilfe und Sanktionen erfordern. Je weniger einzelne Mitgliedstaaten allerdings gewillt sind, auf nationale Politik zu verzichten, desto schwieriger wird auch der effektive gemeinsame Einsatz der genannten Instrumente.

Immerhin kann der Europäische Rat bestimmte Bereiche der Außen- und Sicherheitspolitik zum Gegenstand einer Gemeinsamen Aktion erklären. Dazu soll es vor allem dann kommen, wenn die Vertretung gemeinsamer Interessen besonders dringlich und aktuell ist – zum Beispiel bei Exportkontrollen für Rüstungsgüter. Für eine Gemeinsame Aktion kann der Rat dann festlegen, daß in einen Fragen nicht einstimmig, sondern mit qualifizierter Mehrheit entschieden wird. gilt auch und vor allem für Folgeentscheidungen, die eine Gemeinsame Aktion in die Realität umsetzen sollen.

Um Beschlüsse über eine gemeinsame Haltung zu erleichtern, haben die Mitgliedstaaten ihre Absicht erklärt, auch bei den Entscheidungen, die Einstimmigkeit erfordern, möglichst auf ein Veto dann zu verzichten, wenn eine qualifizierte Mehrheit gefunden wurde. Wobei freilich der britische Premier Major bereits mitgeteilt hat, daß er sich an Absichtserklärung nicht gebunden fühlt. die Regierungen der EU-Länder ist bei Vorgehen auf internationaler Ebene indes die für Gemeinsame Aktionen festgelegte Haltung der Gemeinschaft verbindlich. Jedoch besteht auch da, wo keine Gemeinsamen beschlossen wurden, die Pflicht zu Koordinierung und zur Berücksichtigung der Außen- und Sicherheitspolitik der Union. Gegenstand Gemeinsamer Aktionen sind: der KSZE-(jetzt: OSZE-)Prozeß; die Politik für Abrüstung und Rüstungskontrolle in Europa; Nichtverbreitung von Kernwaffen; wirtschaftliche Aspekte der Sicherheit, im besonderen die Kontrolle des Transfers von Rüstungstechnologie in Drittländer und die Kontrolle von Waffenexporten. Diese Aktionsfelder sollen erweitert werden. Dabei geht es in erster Linie um die Beziehungen zu den osteuropäischen Nachbarländern sowie zu den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion.

Einen zentralen Platz bei der schrittweisen Entwicklung der Sicherheitspolitik in der Union hat im Vertrag von Maastricht die Zusammenarbeit mit der Westeuropäischen Union (WEU). Die WEU soll all jene Entscheidungen und Aktionen der Europäischen Union ausarbeiten und durchführen, die verteidigungspolitische Auswirkungen haben. In einer besonderen Erklärung über die Rolle der WEU und ihre Beziehungen zur Europäischen Union und zur NATO haben die zehn EU-Staaten, die zugleich auch Mitglied der WEU sind, ein Programm für die künftige Zusammenarbeit vereinbart. Darin heißt es, die WEU solle schrittweise zur Verteidigungskomponente der Europäischen Union werden und den europäischen Pfeiler der NATO stärken. Die Zusammenarbeit der WEU mit der NATO soll also möglichst eng gestaltet werden. Deshalb muß die WEU in Einklang mit jenen Positionen handeln, die von der NATO beschlossen wurden. Auch zwischen den Generalsekretariaten von WEU und NATO soll eine enge Zusammenarbeit herbeigeführt werden. Im Bosnien-Krieg waren NATO und WEU gemeinsam zuständig für die Überwachung des Flugverbotes über Bosnien-Herzegowina (das von den Kriegsparteien freilich nicht allzu ernst genommen wurde); auch die Kontrollmaßnahmen in der Adria zur Gewährleistung des Waffenembargos für Exjugoslawien wurden gemeinsam vorgenommen.

Damit es zur schrittweisen Verzahnung von Europäischer Union und WEU einerseits sowie zu einer engen Zusammenarbeit von WEU und NATO andererseits kommt, müssen die unterschiedlichen Mitgliederkreise aller beteiligten Organisationen näher zusammenrücken. Deshalb haben die zehn EU-Mitgliedstaaten, die die WEU bilden ihre übrigen Gemeinschaftspartner – Dänemark, Irland, Schweden, Finnland und Österreich – eingeladen, ebenfalls der WEU beizutreten. Inzwischen haben diese Länder einen Beobachterstatus eingenommen. Die nicht der EU angehörenden NATO-Mitglieder Türkei, Norwegen und Island sind durch eine assoziierte Mitgliedschaft näher an die WEU herangeführt worden; das gleiche gilt seit 1994 auch für Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Ungarn, die Slowakei und Tschechien. Slowenien hat die Assoziierung mittlerweile beantragt.

Man kann erwarten, daß schon in wenigen Jahren weitere Schritte in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik getan werden, vor allem in bezug auf die Integration der osteuropäischen Staaten; freilich bieten die schwierigen Zeiten dafür nicht gerade optimale Rahmenbedingungen. Konkrete Maßnahmen sollen in der 1996er Regierungskonferenz geprüft werden. Dabei muß auch berücksichtigt werden, daß der Vertrag zur Gründung der WEU (,,Brüsseler Vertrag“) 1998 ausläuft (diese Position ist allerdings nicht unbestritten, einige Mitgliedstaaten meinen, der Vertrag verlängere sich automatisch, wenn er nicht ausdrücklich aufgehoben werde). Dies könnte bedeuten, daß die WEU danach endgültig in einer Europäischen Union mit eigener Sicherheitspolitik aufgeht.

Das Europäische Parlament (EP) etwa hat sich am 24. Februar 1994 mit großer Mehrheit zu dieser Position bekannt und gleichzeitig die Institutionalisierung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, das heißt die zumindest partielle Aufgabe der intergouvernementalen Zusammenarbeit zugunsten einer Vergemeinschaftung, und die Aufgabe des Einstimmigkeitsprinzips gefordert. Der Ausschuß für Auswärtige Angelegenheiten des EP hat diese Forderungen am 22. Februar 1995 noch einmal bekräftigt. Freilich haben einzelne Fraktionen des Parlamentes, zum Beispiel die Europäischen Sozialisten, inzwischen im Lichte der neueren Diskussionen mit Blick auf die Konferenz 1996 Modifizierungen formuliert, die in grundlegenden Fragen wieder am Einstimmigkeitsprinzip festhalten. Auch die vom Europäischen Rat eingesetzte ,,Reflexionsgruppe“, die die Regierungskonferenz vorbereiten sollte, möchte das Einstimmigkeitsprinzip letztlich nicht antasten; sie schlägt das System einer „positiven Enthaltung“ von Minderheiten vor, die die Mehrheit nicht an gemeinsamen außen- und sicherheitspolitischen Schritten hindern würde. Schließlich ist anzumerken, daß die parlamentarische Versammlung der WEU sich am 20. Juni 1995 in Paris gegen eine Eingliederung in die EU ausgesprochen und sich damit in eine Gegenposition zur Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten, etwa auch der Bundesrepublik Deutschland, begeben hat. – Bei dieser Gemengelage wird es nicht leicht sein, auf der Regierungskonferenz 1996 eine gemeinsame Haltung zu finden.

Die Gemeinsame Außen – und Sicherheitspolitik nach dem Beitritt von Finnland, Österreich und Schweden

Die Europäische Union hat sich 1995 um drei neutrale Länder erweitert. Sie hat nun einschließlich Irland vier Mitgliedstaaten mit neutralitätsverhafteter Politiktradition. Das könnte zu einem Hemmnis für die weitere Entwicklung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik werden; die „Nordosterweiterung“ birgt aber auch die geostrategischen Voraussetzungen einer Stabilisierungs- und Befriedungspolitik gegenüber Resteuropa und gegenüber den Staaten der ehemaligen Sowjetunion.

In jedem Falle hat sich mit dem Beitritt der drei Neuen eine Tendenz verstärkt die durch die Auflösung des ehemaligen Ostblocks und durch die Bemühungen der osteuropäischen und baltischen Länder auf mittlere Sicht EU-Mitglieder zu werden entstanden ist: Das „Gravitationszentrum“ der Gemeinschaft hat sich erheblich nach Osten verschoben. Dies kann für eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nicht ohne Folgen bleiben, zumal vielen Mitgliedstaaten besonders Frankreich und Großbritannien, daran gelegen ist, das größer (und mächtiger) gewordene Deutschland fest einzubinden und seine allzu starke Ostorientierung zu verhindern. Die Bemühungen vor allem der südwestlichen Unionsmitglieder, den Mittelmeerraum durch Freihandelsabkommen stärker mit der Gemeinschaft zu verzahnen, sind auch als ,,Balancemaßnahmen“ gegenüber einer Ostorientierung zu verstehen. Sie wollen damit auch der (ob nun realen oder nur eingebildeten) Gefahr vorbeugen, eines Tages von neuen ostmittel-europäischen Allianzen in der EU dominiert zu werden.

Was sich durch den Beitritt der drei Länder also in beträchtlichem Ausmaße verändert hat, ist die politische Geographie Europas. Das könnte ebenso Auswirkungen auf die europäische „Sicherheitsarchitektur“ haben wie der Umstand, daß die drei neuen Mitglieder Neutrale sind. Bisher waren elf der zwölf EU-Staaten, alle außer Irland, auch NATO-Mitglieder. Inzwischen sind vier der 15 Mitglieder bündnisfrei. Eine konsequente Weiterentwicklung der GASP würde die Abtretung von Souveränitätsrechten an die Gemeinschaft erfordern. Dafür dürften die vier ,,Neutralen“ nur schwer zu gewinnen sein. Unabhängig davon ist aber festzustellen, daß die Union bereits im heutigen Zustand eine sicherheitspolitische Funktion für Europa ausübt. Allein ihre Existenz ist ein sicherheitspolitischer Faktor; sie wirkt stabilisierend, indem sie Westeuropa und Teile Mitteleuropas zu einer großen Zone friedfertigen Neben- und Miteinanders entwickelt hat. Sie könnte aber auch über ihren eigenen Raum hinaus stabilisierungsfördernd wirken. Das gilt insbesondere hinsichtlich jener vielen Gefährdungen und Bedrohungen, für deren Eindämmung es keine ausreichende nationalstaatliche Politik mehr gibt. Jede geographisch-räumliche Erweiterung Richtung Osten muß daher als eine Ausweitung der stabilisierenden Wirkungsmöglichkeiten der EU, mithin als eine Chance, für den Frieden aktiv zu werden, erkannt und genutzt werden. Im übrigen dürfte eine solche Erweiterung auch nur in diesem friedensfördernden, nicht aber in einem die politischen Gewicht der Unions-Mitglieder verändernden Verständnis Akzeptanz bei den westlichen Staaten der Gemeinschaft finden. Auch die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion würde einer die internationale Machtbalance verändernden Ausdehnungen der Europäischen Union nach Osten gewiß nicht zustimmen.

Eine andere Seite, die unter dem Aspekt der Aufnahme der drei Bündnisfreien wesentlich differenzierter gesehen werden muß, ist die Weiterentwicklung der EU zu einer sicherheitspolitischen, eines Tages vielleicht gar einer verteidigungspolitischen Gemeinschaft. Auf Grund ihrer Lage am Rande des stabilen Europa müßten Finnland, Österreich und Schweden eigentlich besonders an der sicherheitspolitischen Integration Europas interessiert sein. So gesehen müßte die 95er EU-Erweiterung im Grunde dazu führen daß die Neumitglieder aus Eigeninteresse, zur Erhöhung ihrer eigenen Sicherheit die Motoren der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik würden. Indes kann man für einen nicht nur von den Regierungen geplanten sondern auch von den Völkern akzeptierten Prozeß der sicherheitspolitischen und letztlich militärischen Verfestigung der EU von den drei neuen Mitgliedern kaum Impulse erwarten. Zwar mögen sie aufgrund ihrer Randlage sensibilisiert sein, jedoch werden sie sich wegen ihrer Neutralitätstradition wohl eher zögerlich verhalten, denn die Akzeptanz bündnisartiger militärischer Verflechtung dürfte gerade bei der Bevölkerung dieser Länder gering sein, auch wenn ihre Regierungen den Bündnissen beitreten und in ihnen aktiv werden möchten. (Das Maastricht-Referendum 1992 in Dänemark hat gezeigt, wie weit Regierungs- und Bevölkerungsmeinung bisweilen auseinanderklaffen können, vor allem wenn es um Fragen nationaler Sicherheit und Souveränität geht!)

Freilich braucht die Aufnahme der Neutralen in die EU deren Entwicklung zu einer sicherheitspolitisch handlungsfähigen strategischen Organisation letztlich nicht entscheidend zu behindern: Vorausgesetzt, ein ,,Aufbruch“ findet überhaupt statt, so ist durchaus vorstellbar, daß die (ehemals) Neutralen zwar keine Vorreiter, aber auch keine Nachzügler auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik wären. Das Weißbuch der österreichischen Bundesregierung etwa sieht ausdrücklich eine volle Teilnahme an einem sich allenfalls nach der Regierungskonferenz 1996 ergebenden Sicherheitssystem der EU vor; und alle drei neuen Mitglieder sind inzwischen der NATO-Initiative „Partnerschaft für den Frieden“ beigetreten.

Die Regierungskonferenz, die am 29. März 1996 in Turin beginnt, soll jene Weichenstellung bringen, die das Ausmaß der GASP-Weiterentwicklung festlegt: Bis dahin sollten auch die Neumitglieder ihre Positionen gefunden haben. Indessen ist zu befürchten, daß die sich nahezu überall in der EU ausdehnende Renaissance nationaler Bestrebungen ein viel größerer Hemmschuh für ein Vorankommen sein könnte als die Neutralitätstradition der drei Neuen.

Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und ihr Verhältnis zur Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE)

Es ist überaus schwierig, klare Linien im Verhältnis der GASP zu andren Sicherheitsbildnissen in Europa und in der Welt zu beschreiben. Das liegt insbesondere daran, daß es die GASP allenfalls in Ansätzen gibt aber auch daran, daß andere Bündnisse, vor allem die OSZE (aber auch die UNO), wegen der Zerstrittenheit ihrer Mitglieder kaum noch in der Lage sind, ihren ursprünglichen Zweck in befriedigendem Maße zu erfüllen. Nach dem Friedensschluß von Dayton/Paris wird die OSZE mit ihrer Balkan-Mission zur Herbeiführung freier Wahlen, Rüstungskontrolle und Einhaltung der Menschenrechte beweisen müssen, daß sie neuen Herausforderungen gewachsen ist.

Auf dem letzten KSZE-Gipfeltreffen am 5. und 6. Dezember 1994 in Budapest, das von heftigen Auseinandersetzungen zwischen den USA und Rußland über die Osterweiterung der NATO geprägt war, kam es allerorten zu einem negativen Befund. Unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten zur Lösung des Bosnien-Krieges haben praktisch zum Scheitern des Gipfels geführt. Daß die Abschlußerklärung ,,Aufbruch zu einer echten Partnerschaft in einem neuen Zeitalter“ überschrieben wurde, wirkt eher wie der hilflose Versuch, die vielen unterschiedlichen Auffassungen der 53 Mitgliedstaaten zu verwischen. Immerhin wurde eine Friedensmission 3000 Soldaten nach Nagornyj Karabach beschlossen, was angesichts der inzwischen sechs Jahre währenden blutigen Unruhen in diesem Gebiet gewiß nicht geringzuschätzen ist; freilich konnte auch dieser Beschluß die überwiegenden Differenzen der Teilnehmer nicht verdecken, und es liegt in der Logik der Differenzen, daß am 6. Juli 1995, als die Parlamentarische Versammlung der OSZE in Ottawa tagte, das Kontingent der 3 000 Soldaten noch immer nicht zusammengestellt worden war. Am 7. Dezember 1995 haben die Außenminister der OSZE dieses Projekt erneut zu beschleunigen versucht.

Unübersehbar war in Budapest vor allem, daß Rußland auch nach dem Verlust des Imperiums seine Großmachtambitionen nicht begraben hat. Schon am 4. Dezember 1994, als sich Moskau vorerst der Beteiligung an der NATO-Initiative „Partnerschaft für den Frieden“ überraschend verweigert hatte, wurde deutlich, daß der „kalte Frieden“, von dem Boris Jelzin sprach, bereits Wirklichkeit sein könnte. Es bedurfte nicht des Treffens in Budapest, um diese Sachlage zu verdeutlichen: Kurz zuvor hatte die NATO ausdrücklich darauf verzichtet, Staaten für eine künftige Mitgliedschaft zu bezeichnen, Termine zu nennen und Bedingungen für den Beitritt aufzustellen; und zwar augenscheinlich in der Absicht, den russischen Bären durch vorauseilenden Gehorsam zu besänftigen. Der KSZE-Gipfel hätte eine Chance sein können, die Beziehungen zwischen der EU, der NATO und Rußland auf ein neues Fundament zu stellen. Statt aber die Gründe für die kritische Entwicklung zu analysieren und die bisherige Politik vorurteilslos zu überprüfen, wurde in Budapest versucht, die in „Organisation“ umbenannte Konferenz mit einem dünnen Firnis diplomatischer Prozeduren zu überziehen und zur Tagesordnung überzugehen. Daß sich Rußland zum gleichen Zeitpunkt anschickte, mit militärischer Gewalt das unbotmäßige Tschetschenien zu disziplinieren, und daß die EU und die NATO auch darauf allenfalls mit diplomatischer Empörung, kaum mit gemeinsamen, klaren Worten und schon gar nicht mit wirksamem Handeln reagiert haben, paßt ins Bild (sieht man einmal davon ab, daß der Europarat immerhin die Beschlußfassung über die Aufnahme Rußlands und die EU den Abschluß eines Handelsabkommens verschoben haben). Auch die Friedensmission der OSZE hat kaum Wirkung für Tschetschenien erzielen können. Eigentlicher Urheber der allzu zögerlich voranschreitenden Befriedung des Landes ist keineswegs die OSZE, sondern der russische Ministerpräsident Tschernomyrdin.

Neue (oder alte) Trennlinien werden offensichtlich in Europa gezogen, und die EU mitsamt ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik steht dem hilflos gegenüber. Es ist in erster Linie Rußland, das an der Konstruktion eines Sicherheitsblocks aus alten sowjetischen Beständen arbeitet und im Kaukasus Tag für Tag beweist, daß es sich nach wie vor bestens darauf versteht, in klassisch imperialistischer Manier Nachbarländer gegeneinander auszuspielen und schließlich wieder unter die eigenen Fittiche zu bringen. Vor dem Hintergrund seiner wirtschaftlichen Schwächen, sozialen Spannungen und militärischen Substanzverluste versucht Moskau Ostmitteleuropa, um das sich alles dreht, in einer westöstlichen Grauzone zu belassen und eine eindeutige Zuordnung zu den westlichen Institutionen so lange wie möglich zu verhindern.

Angesichts solcher Konfrontation, die sich durch Probleme anderer ehemaliger Ostblockstaaten mit der Einführung der Demokratie noch verschärft, sollte der Europäischen Union daran gelegen sein, mit einer Stimme zu sprechen und die Chancen, den Frieden zu sichern, die im Erweiterungs- und Vertiefungsprozeß liegen, entschlossen zu nutzen. Ansatzpunkte dafür könnten sowohl das Angebot des ehemaligen russischen Außenministers Kosyrew sein, gemeinsam mit der WEU ein neues Modell paneuropäischer Sicherheit zu entwickeln, als auch der von Frankreich vorgeschlagene Stabilitätspakt für ganz Europa.

Jedoch scheinen solche Initiativen derzeit eher keine großen Chancen zur Realisierung zu haben, so wünschenswert dies auch wäre. Nationale Tendenzen drängen den europäischen Elan zurück und bereiten der Integration und damit auch der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik neue Schwierigkeiten. Sollte die EU freilich weiterhin geeignete, wirkungsvolle Konzepte und entsprechendes gemeinsames Handeln angesichts der bedrohlichen Situation auf dem Balkan, im Osten Europas und in der ehemaligen Sowjetunion schuldig bleiben, so dürfte der so hoffnungsvolle Aufbruch von 1989/90 bald nur noch eine wehmütige Erinnerung sein. Die bitteren Worte von Peter Schneider über das Bosnien-Desaster, in der ZEIT vom 4. August 1995, sind ja wahr: „Rechtzeitig kam, dank der deutschen Anerkennung Kroatiens … ein weiteres Element hinzu: die Uneinigkeit des Westens. Die schlimmste Folge … war die Zerstörung einer gemeinsamen europäischen Strategie. Von nun an triumphierten die Gespenster der Vergangenheit – die alten Allianzen – über die Gegenwart.“

1996 hat die Europäische Union noch einmal die Chance, voranzukommen auf dem Weg zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und die „Gespenster der Vergangenheit“ zu verscheuchen. Freilich gibt der Bericht der „Reflexionsgruppe“ mit seinen alternativen Beschlußempfehlungen zur GASP wenig Anlaß zum Optimismus. Zu unterschiedlich scheinen die Interessen zu sein. Den Außenministern und Regierungschefs steht eine wahre Sisyphusarbeit bevor. Klaus Kinkel meint, daß die Regierungskonferenz etwa ein Jahr dauern werde. Europa und der Welt ist zu wünschen, daß diese Zeit genutzt wird, um weiter voranzuschreiten. Es sollte alles dafür getan werden, daß es in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wirklich nennenswerte Fortschritte gibt; vor allem weil nur durch den gemeinschaftlichen ,,Ostexport“ von Demokratie und Marktwirtschaft ein dauerhafter Frieden initiiert werden kann. Von den Mitgliedern der Europäischen Union sollten alle darauf gerichteten Anstrengungen Priorität erhalten, damit die derzeitige, von blutrünstigen, barbarischen Auseinandersetzungen gekennzeichnete Phase der Entzivilisierung endgültig überwunden wird.