Online-Rezensionen des Jahrbuchs zur Liberalismus-Forschung 2/2017

Franziska Meifort: Ralf Dahrendorf – Eine Biografie. München: C.H. Beck, 2017, 477 S., 14 Abb., ISBN: 978-3-406-71397-2

„Der Grund, warum Dahrendorf immer wieder bewusst die Rolle des öffentlichen Intellektuellen suchte, war seine Überzeugung, die liberale Demokratie stärken und verteidigen zu müssen.“ (S. 301) Und weiter: „Die Betonung der ‚Werte des Westens’ erfolgte bei Dahrendorf […] im Sinne der Verteidigung der Demokratie und der Aufklärung gegen Autoritarismus, Diktatur und religiösen Fundamentalismus.“ (S. 312) – Diese beiden Zitate aus der Zusammenfassung des Buches von Franziska Meifort bezeichnen kurz und prägnant die grundsätzlichen Positionen Dahrendorfs, die seine Schriften und Aktivitäten ein Leben lang kennzeichneten. In meist chronologischer Abfolge stellt die Autorin die Stationen in Dahrendorfs Leben von der familiären Herkunft und der Beteiligung des Jugendlichen am Widerstand gegen den Nationalsozialismus bis zum streitbaren Engagement des öffentlichen Intellektuellen als Mitglied im britischen House of Lords dar. Zwischen diesen beiden Wegmarken liegt eine Fülle an unterschiedlichen Stationen, die zwischen Wissenschaft, Politik, Journalismus und der kritischen Funktion und Rolle eines öffentlichen Intellektuellen wechselten. Wie die Autorin stets betont, war es ein besonderes Kennzeichen für den Lebensweg Dahrendorfs, dass er mit all seinen Aktivitäten sowohl geistige und berufliche als auch geografische Grenzen scheinbar mühelos zu überschreiten pflegte. „Über Grenzen“ – so betitelte er seine Autobiografie, die nun durch die umfangreich recherchierte und glänzend geschriebene Arbeit von Franziska Meifort eine beeindruckende Ergänzung erfährt. Ehe sie sich an die Arbeit mit der Biografie machte, hatte sie den Nachlass Dahrendorfs im Koblenzer Bundesarchiv erschlossen. Die dort aufgefundenen, bisher nicht publizierten vor allem autobiografischen Manuskripte, aus denen die Autorin häufig zitiert, machen die Lektüre des Buches auch für Dahrendorf-Kenner zusätzlich attraktiv. Die Biografie wurde als Dissertation verfasst, was ihre Lektüre jedoch nicht erschwert; allerdings enthält der umfangreiche Anmerkungsteil hin und wieder Informationen, die vielleicht im Text der Biografie weiter hätten untersucht werden können. Der Leser wird die Kapitel des Buches je nach seinem speziellen Interesse unterschiedlich gewichten, für den Soziologen mögen die wissenschaftlichen Stationen aus Dahrendorfs akademischer Anfangszeit besonders interessant sein, für den politisch Interessierten die Jahre zwischen 1964 und 1974 sowie wieder von 1982 bis 1987, als er in der Freien Demokratischen Partei der Bundesrepublik politisch aktiv war. Für all seine Engagements aber gelten einige grundsätzliche Vorstellungen, an denen der Grenzgänger stets festhielt. Die Autorin betont zum Beispiel die grundlegende Auffassung Dahrendorfs, dass fortschrittlicher Wandel sich aus geregelten Konflikten ergeben müsse – eine Überzeugung, die er von Immanuel Kant herleitet und die vollends durch seine Befassung mit der „Offenen Gesellschaft“ Karl Poppers befestigt wurde. Sowohl in der Politik als auch in seiner Soziologie gehört diese Überzeugung zu den konstitutiven Elementen seines Denkens und Handelns. Schon in seiner Auseinandersetzung mit dem berühmten amerikanischen Soziologen Talcott Parsons, den Dahrendorf 1957 während eines Studienaufenthalts in den USA kennenlernte, moniert er, dass es Parsons mit seiner „funktionalistischen Integrationstheorie“ nicht um den Wandel, das nach Dahrendorfs Auf- Seite 2 von 3 fassung dominante Kennzeichen allen Lebens, sondern um ein utopisches Harmonie-Modell gehe. Ähnlich ist es mit dem Begriff der „Lebenschancen“, den Dahrendorf von Max Weber übernimmt und den er aus den beiden Bestandteilen „Optionen“ und „Ligaturen“ komponiert. Wobei die Ligaturen mehr sind als nur Bindungen an bestimmte gesellschaftliche oder politische Organisationen, wie Franziska Meifort es darstellt. Vielmehr drücken sie die unterschiedlichen Werthaltungen aus, die in einer pluralistischen Gesellschaft nebeneinander existieren oder miteinander im Wettbewerb stehen und dadurch mitverantwortlich sind für die Vitalität demokratischer Verhältnisse und für die Freiheitschancen des Individuums. In seinem Buch „Lebenschancen – Anläufe zur sozialen und politischen Theorie“ kennzeichnet Dahrendorf die Anomie, das Gegenteil einer von vielfältigen Werthaltungen geprägten, lebendigen Gesellschaft, mit dem simplen, aber eindrucksvollen Satz: „Wenn alles gleich gültig ist, ist alles gleichgültig.“ Zu Recht betont die Autorin, dass das zentrale Ziel sowohl seiner Soziologie als auch seiner politischen Philosophie für Dahrendorf vor allem anderen die individuelle Freiheit bleibt, die zwar der staatsbürgerlichen Gleichheit der Menschen bedarf, aber sonst gegen jede Gängelung verteidigt werden muss. Der Konflikt zwischen Freiheit und Gleichheit spielte in seinen Schriften häufig eine wichtige Rolle, auch als Dahrendorf zu Beginn der achtziger Jahre seine Position als Direktor der London School of Economics and Political Science (LSE) aufgab und in die deutsche Politik zurückzukehren versuchte. Franziska Meifort kontrastiert die nach seiner Abwesenheit verblasste Wirkung im deutschen Liberalismus eindrucksvoll mit der Zeit um 1970, als er als „Senkrechtstarter“ und Polit-Star galt. Seine Partei, die FDP, hatte sich mittlerweile gewandelt. Die sozialliberalen Ziele waren zugunsten eines ökonomischen Liberalismus weitgehend aufgegeben worden. Dreierlei dominierte nun die Grundsatzdiskussionen der Partei: Privatisierung, deregulierte Marktwirtschaft und das Streben nach Wachstum als Voraussetzung für den gesellschaftlichen Fortschritt. In den sechziger und siebziger Jahren waren soziale Aspekte eines modernen Liberalismus auch in Dahrendorfs politischen Schriften zu finden, die nun aber in der FDP eher als Kennzeichen eines Irrweges angesehen wurden. Gewährsmann für die neue Programmatik war der ÖkonomieNobelpreisträger Friedrich August von Hayek. Mit seinem Namen verband man ein Bekenntnis zum „Marktfundamentalismus“ und zu einem ökonomischen Liberalismus-Verständnis. Zentraler Punkt in der Auseinandersetzung zwischen den nunmehr dominanten „Wirtschaftsliberalen“ und den wenigen verbliebenen „Sozialliberalen“ war der Freiheits-begriff. Während jene es gemäß Hayekscher Theorie bei negativer Freiheit belassen wollten, fügten diese ihr die Lebenschancen als eine Form der positiven Freiheit hinzu. Die beiden Positionen prallten in Diskussionen und Veranstaltungen zum Beispiel in der den Liberalen nahe stehenden Theodor-Heuss-Akademie häufig unversöhnlich aufeinander. Dahrendorf, obwohl er sich niemals als Sozialliberaler verstanden, jedoch einige sozialpolitische Forderungen in sein Programm aufgenommen hatte, zum Beispiel die nach einem „garantierten Mindesteinkommen“ als Bürgerrecht, wurde Hayek gegenüber kaum beachtet, was in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre mit dazu beitrug, dass er resignierte und aus der FDP austrat. Mit Hayek hatte sich Dahrendorf vor allem an zwei Stellen seiner Schriften ausführlich befasst und sich von ihm abgegrenzt: 1979 in seinem Buch „Lebenschancen“ und dann vor allem 1990 in seinen „Betrachtungen über die Revolution in Europa“. Franziska Meifort hat sich mit dieser für die Definition des „Radikalliberalismus“, wie Dahrendorf ihn für sich beanspruchte, wichtigen Kontroverse kaum auseinandergesetzt. Lediglich in einer Anmerkung findet man den Namen Hayek und einen Hinweis darauf, dass es später in der FDP Bestrebungen gab, die beiden Positionen miteinander zu versöhnen. Dass Dahrendorf hingegen an der Programmdiskussion der FDP um 1970, als es um den sozialen Liberalismus ging, nicht beteiligt war, erwähnt die Autorin zu Recht. Gleichzeitig aber übernimmt sie die wohl nicht auszurottende Fehlinformation, Karl-Hermann Flach habe an der Formulierung des FDP-Programms von 1971, den „Freiburger Thesen“, mitgewirkt. Seite 3 von 3 Andererseits hat Franziska Meifort sich ausführlich mit den vielen Texten über Dahrendorf befasst, die im Laufe der Zeit, besonders aber nach seinem Tod am 17. Juni 2009 erschienen sind. Dabei richtet sie durchaus einen kritischen Blick auf einige Interpretationen. Arnulf Barings schon 1982 geäußerte Vermutung, Dahrendorf sei aus Angst vor einem möglicherweise bevorstehenden Absturz der FDP 1970 aus dem Auswärtigen Amt zur Europäischen Kommission nach Brüssel geflüchtet, weist die Autorin mit Fug und Recht zurück; und Gangolf Hübingers These von 2016, Dahrendorf müsse als europäischer Intellektueller verstanden werden, korrigiert sie, indem sie nachweist, dass sein Werteverständnis stets ein „westliches“ gewesen sei, also bezogen auf das demokratische Europa unter Einschluss der USA, die er das Land der „angewandten Aufklärung“ nannte. Die Autorin stellt anhand von Dahrendorfs Haltung zum Irak-Krieg von 2003 diese Orientierung überzeugend dar: Dahrendorf stellte sich im Gegensatz etwa zu den Regierungen in Deutschland und Frankreich, aber auch zu vielen Intellektuellen um Jürgen Habermas und Jacques Derrida ausdrücklich an die Seite der kriegführenden USA – ohne freilich danach zu fragen, was es bedeutet, dass die Kriegsgründe von der Regierung George W. Bush wissentlich manipuliert waren, wie inzwischen erwiesen ist. Auch die Autorin stellt diese Frage im Bezug auf Dahrendorfs Haltung nicht; allerdings hat er es wohl auch vermieden, sich dazu zu äußern. Sonst aber geht Franziska Meifort durchaus nicht unkritisch mit dem „Wunderkind“ Dahrendorf um. Interessant und bisher weitgehend unbekannt ist, dass seine Habilitationsschrift an der Universität des Saarlandes von Georges Goriely, seinem Vorgesetzten, mit „scharfer Kritik“ zurückgewiesen wurde. Hätte Goriely sein Gutachten nicht zurückgezogen und die Begutachtung der Fakultät überlassen, wäre diese „Hürde“ für den bis dahin vom Erfolg verwöhnten Jung-Wissenschaftler vielleicht nur schwer zu überwinden gewesen. Auch dass Dahrendorf nach 1982, als er aus London nach Deutschland zurückkehrte, sowohl in Hinsicht auf seine politischen Ambitionen als auch als Professor an der Universität Konstanz recht ungeschickt agierte, verschweigt die Autorin nicht. Bedauerlich ist, dass sie auf seine Beiträge in „liberal“, den Vierteljahresheften der Friedrich-Naumann-Stiftung, deren Vorsitzender Dahrendorf von 1982 bis 1987 war, mit keinem Wort eingeht, weder im Text noch im Literaturverzeichnis. Stattdessen wird Dahrendorfs Bedeutung für die intellektuelle Szene in England sowohl durch eine Untersuchung seiner Arbeit als Direktor der LSE von 1974 bis 1984 als auch nach 1987 als Warden des St. Antony’s College in Oxford, vor allem aber als von der Queen geadeltes Mitglied im House of Lords überzeugend dargestellt. Da Dahrendorfs öffentliche Reputation zeitweise im Ausland höher war als in seiner Heimat, obwohl er beispielsweise als Autor der Wochenzeitung „Die Zeit“ durchaus publizistisch präsent war, stellen diese Kapitel für den deutschen Leser eine besonders interessante Lektüre dar. In Diskussionen über die Bedeutung Dahrendorfs konnte und kann man häufig hören, dass er schon seit seinem Einstieg in die Bundespolitik 1969 nicht mehr im strengen Sinne als Wissenschaftler anerkannt war. Andererseits wurde ihm als Politiker häufig ein Scheitern attestiert, weil er weder als Staatssekretär noch als Europäischer Kommissar besonders hervorstach, allenfalls machte er durch mediale „Nestbeschmutzung“ von sich reden. Beide Einschätzungen mögen einiges für sich haben; dass sie aber keineswegs die Bedeutung Dahrendorfs für die intellektuelle Diskussion weit über die Grenzen Deutschlands hinaus schmälern, hat Jürgen Habermas in seiner Rede zum 80. Geburtstag des Grenzgängers, wenige Wochen vor dessen Tod, mit viel Sympathie für seinen Altersgenossen ausgedrückt. Die Biografie von Franziska Meifort ist ein eindrucksvoller Beleg für diese Beurteilung eines der wenigen Intellektuellen Deutschlands, denen nach 1945 eine glanzvolle internationale Karriere gelungen ist.

Monschau
Karl-Heinz Hense