Jedem Mehrparteiensystem, das nicht nur zum Schein existiert (wie früher das der DDR), sondern sich durch die gleichen Chancen für alle politischen Bewerber auszeichnet, liegt eine Pluralismus-Theorie zugrunde. Auf den ersten Blick handelt es sich dabei um eine urliberale demokratische Sache, denn Wettbewerb auf dem Markt der Güter und Dienstleistungen einerseits und auf dem der politischen Meinungen andererseits zählt zu den Grundlagen eines liberalen Ordnungs- und Demokratieverständnisses. Wenn es für gut und sinnvoll befunden wird, daß unterschiedliche Meinungen sich im gesellschaftlichen und staatlichen Bereich vielfältig artikulieren, um miteinander (repräsentativ) in Konkurrenz zu treten, leitet sich aus einer solchen Auffassung von gesellschaftlicher Pluralität zwangsläufig das Mehrparteiensystem als Organisationsform des Wettbewerbs zwischen politischen Weltanschauungen ab. Grundlage für die Existenz eines solchen Systems, das Fundament also für eine demokratische Streit-Kultur, die diesen Namen verdient, bildet eine vereinbarte Verfassung, bei uns das Grundgesetz. Die „Spielregeln“ für das fair play der politischen Wettbewerber sind im Parteiengesetz festgelegt.
Auf den zweiten Blick sollte man freilich nicht übersehen, daß durch eine solchermaßen institutionalisierte und fest umrissene Organisation politischer Willensbildungsprozesse im Laufe der Zeit Verharzungen entstehen, die einerseits dem Neuen (auch wenn es offensichtlich erforderlich ist, wie derzeit eine Neugestaltung des Generationenvertrages) dem „Altbewährten“ gegenüber keineswegs gleiche Chancen zur Durchsetzung lassen; und daß sich im Zuge der Verfestigung politischer Strukturen, Institutionen und Interessen(gruppen) eine Tendenz verstärkt, die Gruppenansprüche Individualansprüchen gegenüber zumindest potentiell begünstigt. Je stärker das öffentliche Leben von organisierten Interessen und etablierten Institutionen geprägt wird, desto schwieriger ist es, auf nonkonforme individuelle Ansprüche aufmerksam zu machen oder sie gar durchzusetzen; ja, um überhaupt noch eine Chance zur Durchsetzung von solchen Ansprüchen zu haben, ist es meist unumgänglich, sich mit mehr oder weniger Gleichgesinnten zusammenzutun und gemeinsam eine Lobby zu bilden. Pluralismus wird allzu leicht als Pluralität von Staats- und Gruppeninteressen verstanden, die den Individualinteressen übergeordnet werden. Bilden sich indes neue Gruppen, so haben sie häufig nur die Alternative, ihr Verhalten nach dem Muster der etablierten auszurichten oder aber wirkungslos zu bleiben. Am Ende können im ersteren Falle die Ansprüche und Ziele, die ursprünglich ursächlich waren für den Zusammenschluß zu einer neuen Gruppe, auf der Strecke bleiben; nicht selten kann man dies Phänomen bei den Bündnis-Grünen beobachten, etwa in dem sich dort stetig wandelnden Pazifismus-Verständnis.
Die Verfassung hat die Grundrechte als Abwehr- und Schutzrechte des Individuums gegen staatlichen (heute muß man wohl hinzufügen: auch gegen kollektiven) Machtmißbrauch verstanden. Nicht erst die Diskussionen um den Artikel 13 GG („Goßer Lauschangriff“) machen deutlich, in welchem Maße dieses Verständnis inzwischen relaviert worden ist; insbesondere der alljährliche Poker der Tarifparteien um die kollektiven Ansprüche von Arbeitsplatzbesitzenden hat die zynische Konsequenz, häufig genug auf Kosten der (nicht oder nur schlecht organisierten) Arbeitslosen und der Berufsanfänger zu gehen. Solchem Zynismus freilich steht der Parteien-Egoismus in nich: nach, der unter anderem die Blockade einer längst überfälligen Reform der Steuern, der Renten und der Lohnnebenkosten bewirkt hat.
Den im Grundgesetz festgeschriebenen Grund- und Menschenrechten, deren Substanz nicht mehr zur Disposition einer Mehrheitsentscheidung steht (Artikel 19,2: „In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.“), ging in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus eine lange Diskussion voraus; wesentliche Impulse kamen von liberalen Denkern. Den meisten von ihnen war die Gewährleistung individueller Lebenschancen das zentrale Anliegen, denen – so die Theorie – mit der (organisierten) Pluralität von Meinungen und ihrem freien Wettbewerb auf dem politischen Markt am ehesten gedient wäre. Die Gewaltenteilungskonzeption, zurückgehend auf John Locke und Charles de Secondat Montesquieu, soll dem Problem der von Interessen und Interessengruppen gespaltenen Gesellschaft durch eine angemessene Gestaltung des Staates beikommen. Die in der Verfassung verankerte Dreiteilung der Gewalten in Legislative, Exekutive und Judikative trägt ihrem Anspruch nach dem Paradox der Freiheit, daß sie nämlich zu begrenzen ist, um sie zu schützen, Rechnung. Die Politik der demokratischen Parteien hat aber dafür zu sorgen, daß die Begrenzung der (individuellen und institutionellen) Freiheit nicht zur Unterdrückung von Konkurrenz und Wettbewerb führt, sondern zur Begünstigung eines geordneten Austragens von Interessengegensätzen unter fairen Bedingungen, was eine liberale, auf Gerechtigkeit und Fortschritt zielende Gesellschaft überhaupt erst möglich macht. Recht und Gesetz regeln die gesellschaftlichen Prozesse, nicht (mehr) politische Willkür. Im öffentlichen Raum wird die Herrschaft von Menschen über Menschen durch die Herrschaft des Rechts abgelöst. Die Realisierung von Interessen, seien sie politischer, ökonomischer oder sozialer Natur, findet ihre Begrenzung durch die Verfassung und das System der Gesetze, dem alle gleichermaßen unterworfen sind. Eine demokratische Streit-Kultur findet darin die Bedingung ihrer Möglichkeit.
Immanuel Kant, der Philosoph der „Pflicht aus Freiheit“, stellt diese Zusammenhänge in seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ wie folgt dar: „Das größte Problem für die Menschengattung, zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt, ist die Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft. Da nur in der Gesellschaft, und zwar derjenigen, die die größte Freiheit, mithin einen durchgängigen Antagonism ihrer Glieder, und doch die genaueste Bestimmung und Sicherung der Grenzen dieser Freiheit hat, damit sie mit der Freiheit anderer bestehen könne, – da nur in ihr die höchste Absicht der Natur, nämlich die Entwickelung aller ihrer Anlagen, in der Menschheit erreicht werden kann, die Natur auch will, daß sie diesen, sowie alle Zwecke ihrer Bestimmung, sich selbst verschaffen solle: so muß eine Gesellschaft, in welcher Freiheit unter äußeren Gesetzen in größtmöglichem Grade mit unwiderstehlicher Gewalt verbunden angetroffen wird, d.i. eine vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung, die höchste Aufgabe der Natur für die Menschengattung sein; weil die Natur, nur vermittelst der Auflösung und Vollendung derselben, ihre übrigen Absichten mit unserer Gattung erreichen kann.“
Als Regierungsart schlägt Kant in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ die der Republik vor, die von den Elementen der Gewaltenteilung und der Repräsentation im Gegensatz zur despotischen Gewaltenvereinigung gekennzeichnet wird. Die republikanische Herrschaft, der Staat als res publica, die inzwischen in unserem Grundgesetz verankert ist, hat eine parlamentarische Repräsentanz der in der Gesellschaft vorhandenen Interessen über die Parteien zum Ziel; den Mißbrauch von legislativer und/oder exekutiver Macht soll die unabhängige Justiz, zu der grundsätzlich jeder betroffene Bürger Zugang hat, verhindern. Insofern ist die kantische Vision realisiert; zu Parteien freilich, die der gesellschaftlichen Pluralität politischen Ausdruck geben sollen, hat sich der Philosoph nicht geäußert; zu seiner Zeit waren sie wohl noch nicht vorstellbar.
Die Mitwirkung der Parteien an der Meinungsbildung der Öffentlichkeit ist in Artikel 21 GG geregelt. Er schließt ausdrücklich ein, daß auch andere Interessengruppen als politische Parteien sich im außerparlamentarischen Raum oder durch Einflußnahme auf die Willensbildung der Parteien – soweit es das Parteiengesetz zuläßt – in diesem Sinne engagieren, um Mehrheiten für ihre Interessen zu bilden. Damit haben wir uns freilich in unserer Auffassung über eine sinnvolle Organisation des Staates und der parlamentarischen Herrschaft von Kant entfernt. Er befürchtete, daß durch demokratische Mehrheitsentscheidungen die echte spiegelbildliche Repräsentanz der unterschiedlichen Interessen des Volkes verlorengeht und Minderheiten schlicht von Mehrheiten unterdrückt werden (was darauf schließen läßt, daß Kant sich wohl auch zu politischen Parteien und ihrer Willensbildung nicht gerade unkritisch verhalten hätte). Indem er diese Gefahr schon zur Zeit der Aufklärung genau erkannte und formulierte, hat er eine Problematik aufgezeigt, die auch heute keineswegs an Bedeutung verloren hat. Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ ist insofern auch als ein Plädoyer für die-Rechte der Minderheiten zu verstehen, denen wir heute durch den Pluralismus des Mehrparteien-Systems und durch geeignete rechtliche Klauseln, insbesondere durch die Diskriminierungsverbote des Artikels 3 GG, Rechnung zu tragen versuchen. Freilich läßt sich die vor allem von Jean Jacques Rousseau begründete und von Kant geteilte Auffassung, daß Demokratie nur in der Identität von Volk und Regierung, von Gesetzgebung und Exekutive denkbar sei, wohl als Ideal, nicht aber als ein erreichbares Ziel von Politik beschreiben. Dieses Ideal ist nach weitgehend übereinstimmender Überzeugung auch durch die Ende des achtzehnten Jahrhunderts mit dem Begriff Republik verbundene, plebiszitäre Demokratieauffassung nicht zu verwirklichen. Der Weg zu dieser Überzeugung hat denn auch zur Folge gehabt, daß sich schon im neunzehnten Jahrhundert der Begriff der Republik mehr und mehr als Synonym für die repräsentative Regierungsart durchsetzte. Wobei wir vor allem im Hinblick auf die Sensibilitäten einer pluralistischen Gesellschaft nicht vergessen dürfen, daß diese Regierungsart die Repräsentanz der Minderheiten und ihrer Interessen einschließen muß.
Von diesen grundsätzlichen Überlegungen aus führt eine konsequente Linie zum kompetitiven Mehrparteiensystem als repräsentative Organisationsform gesellschaftlich eher Interessen-Pluralität vor allem in den Parlamenten, aber auch in anderen Institutionen von öffentlicher Relevanz – über die Rundfunkräte für den öffentlich-rechtliche Rundfunk bis hin zu Aufsichtsgremien öffentlicher Institutionen und öffentlich (teil-)finanzierter Betriebe. Was die Parteien und ihre Parlamentsfraktionen betrifft, so haben wir, auch aus bitterer Erfahrung mit dem Verfallsprozeß der Weimarer Republik, die Fünf-Prozent-Klausel in unser Wahlrecht aufgenommen. Eine Klausel, die das kantische Diktum zur Unterdrückung von Minderheiten bestätigen würde, wenn die „großen“ Parteien nicht in der Lage wären, in ihrer Politik und in ihrer parlamentarischen Arbeit die berechtigten Interessen der Nicht-Repräsentierten angemessen zu berücksichtigen. Gerade das aber, die angemessene Partizipation aller gesellschaftlichen Gruppen, auch der Minderheiten, am öffentlichen Leben macht die Qualität einer echten politischen Kultur aus. Am ehesten noch können die kleinen unter den großen Parteien in diesem Sinne ein Wächteramt wahrnehmen, denn sie sind –zumindest theoretisch – nicht so sehr wie die „Volksparteien“ den mächtigsten organisierten Lobby-Interessen verpflichtet, weil sie ihnen nicht zuzuordnen sind. Soweit es die Liberalen betrifft, haben sie schon von ihrem programmatischen Toleranz-Gebot her den Interessen von Minderheiten besondere Beachtung zu schenken. Je geringer sie diese Verpflichtung zum Beispiel aufgrund von opportunistischem Machterhaltungskalkül schätzen, desto stärker setzen sie sich der Gefahr des Profilverlustes, der Verwechselbarkeit und der Marginalisierung aus.
Nun wird, vor allem mit Blick auf die politische Praxis in den USA, gegen ein „Mehr-als-zwei-Parteien-System“ gelegentlich eingewandt, in große Volksparteien fließe ohnehin das Gros aller im Volke vorhandenen Interessen ein und pendle sich dort demokratisch aus, werde sozusagen vorparlamentarisch gefiltert; so führe dieses Modell zu einem Konsens, der wegen seines dialektischen und/oder diskursiven Zustandekommens innerhalb der jeweiligen Mehrheitspartei ein Höchstmaß an divergierenden Meinungen berücksichtige und praktikable Ergebnisse zeitige, in denen sich stets die große Mehrheit der Bürger/innen wiederfinden könnte, ohne daß die Minderheiten ungebührlich ausgegrenzt würden. Sei dies nicht (mehr) der Fall, so komme es zwangsläufig bei der nächsten Wahl zu einem Machtwechsel – was eine Fortsetzung des dialektischen Prozesses auf einer anderen Ebene, zwischen den beiden Parteien nämlich, bedeute. Sollte es dennoch gewichtige Minderheitsvoten geben, die keine Beachtung erfahren hätten, so könnte dies im Wettbewerb zwischen drei, vier oder fünf Parteien ebensogut der Fall sein, weil diese sich in der Regel zu zwei parlamentarischen „Lagern“ farmierten, zu dem der Regierungs- und dem der Oppositionsfraktionen nämlich. Wozu also ein größeres Parteienspektrum, das nur Komplikationen schaffe und Entscheidungsprozesse behindere, ohne besseren Minderheitenschutz zu gewährleisten.
Abgesehen davon, daß in einem dialektischen Prozeß stets auch Unterdrückung stattfindet (auch wenn sie „Überwindung“ genannt wird) und daß Ziel eines Diskurses stets eine einheitliche Position ist, die durchaus Minderheitspositionen ausgrenzen kann (Odo Marquard meint sogar: muß!), so kennzeichnet diese Argumentation vor allem eine recht naive Unterschätzung der Nivellierungsmacht dominanter gesellschaftlicher Interessen, Gruppen und Organisationen. Zwar sind die USA vital genug, Pluralität in ihrer Gesellschaft immer neu entstehen zu lassen, jedoch zeigt ein Blick auf die Zusammensetzung ihrer politischen Klasse, daß sich gesellschaftliche Vielfalt keineswegs auch nur annähernd proportional in die Parlamente fortsetzt. Außerdem sind die USA wegen der erheblich stärkeren Autonomie ihrer Staaten etwa mit der Bundesrepublik Deutschland, was die politische Organisation angeht, nur begrenzt zu vergleichen. Bei uns ist vieles durch Bundesgesetze geregelt (zum Beispiel im Steuer- und Sozialbereich), was dort in der Zuständigkeit der einzelnen Staaten liegt. Insofern kann mangelnde Spiegelung gesellschaftlicher Pluralität im Repräsentantenhaus zum großen Teil durch die Staaten-Autonomie ausgeglichen werden; dies wäre bei uns schon deshalb nicht möglich, weil die Bundesländer weit engere politische Handlungsspielräume haben. Ein „pluralistischer Bundestag“ scheint also unseren Bedürfnissen nach Berücksichtigung von Minderheitsinteressen eher zu entsprechen. – Dies ist eine gewiß nicht unproblematische Behauptung, fehlen uns doch in Deutschland die Erfahrungen mit einem Zwei-Parteien-System – jedoch dürfte sie gleichwohl auch deshalb plausibel sein, weil kleine Parteien sich dem Diktat der gesellschaftlichen Großorganisationen und scheinbarer Notwendigkeiten (Stichwort: „Sachzwänge“) erheblich leichter entziehen können (wenn der Mut dazu auch nicht immer selbstverständlich sein mag) als große und deshalb die geeigneteren Akteure sind, um sowohl die berechtigten Interessen von Minderheiten als auch unbequeme Positionen und Maßnahmen im parlamentarischen Diskurs zu artikulieren und gelegentlich gar durchzusetzen. Womit sie gleichzeitig die wichtigsten Gewährleister einer lebendigen politischen Streit-Kultur sein können.
Die Notwendigkeit solcher Parteien wird um so einsichtiger, je differenzierter die Interessen und die Lebenschancen in einer Gesellschaft werden. Dabei darf es ihnen keineswegs darum gehen, Prozesse, die einmal eingesetzt haben, linear weiter voranzutreiben – eine Tendenz, der die großen Parteien bisweilen geradezu hilflos ausgesetzt scheinen –, sondern es ist ganz im Gegenteil ihre Aufgabe, diese kritisch zu begleiten und dadurch einerseits der tückischen „Dialektik des Fortschritts“, dem Umschlag von Lebenschancen in Lebensrisiken, rechtzeitig zu begegnen und andererseits vor allem jener Verharzung vorzubeugen, die lebendige Vielfalt am Ende mehr und mehr einebnen könnte. Anders ausgedrückt: Während die großen Parteien stets mehr oder weniger langlebigen Ideologien verhaftet sind (zum Beispiel der Ideologie des Generationenvertrages oder der der Energie aus Kernspaltung), ist das politische Handwerk der kleinen die Ideologiekritik und die Entwicklung von Alternativen, mit deren Hilfe Anpassungsfähigkeit und Beweglichkeit, mithin auch internationale Konkurrenzfähigkeit des Wirtschaftssystems, erhalten bleiben. Die kleinen Schiffe sind ein nicht durch die „Unbeweglichkeit des Tankers“ behindert. Übermächtige Gruppeninteressen müssen für kleine Parteien keine politischen Dogmen werden denen blindgläubig Tribut zu zollen den Weg in politische Lethargie und in eine hoffnungslos verharzte, kulturlose, Weil eindimensionale Gesellschaft bedeuten würde.
Freilich verlangt es eine virtuose politische Feinfühligkeit, auf dem fragilen Terrain zwischen dogmatischer Verbohrtheit und wohlfeilem Opportunismus, das in jeder einzelnen politischen Sachfrage neu zu bestimmen ist, nicht in die eine oder andere Richtung abzugleiten. Betrachtet man zum Beispiel die Rolle der Liberalen in den unterschiedlichen Koalitionen ihrer wechselvollen Geschichte, so findet man unschwer Belege dafür, daß es an jener Feinfühligkeit immer wieder mangelt. Max Weber spricht von Leidenschaft, Verantwortung und Augenmaß, die jemand haben musste, damit er „Politik als Beruf“ so virtuos betreiben kann, daß sich die richtige Balance von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik herstellt; man darf mit Fug daran zweifeln, daß diese Spezies des Politikers bei uns so häufig, wie es nötig wäre, vorkommt.
„Vielfalt statt Einfalt“ ist nicht die schlechteste Parole für die politischen Ziele undogmatischer und ideologiekritischer Parteien. Besonders wichtig sind sie in Koalitionen. Der Begriff vom „Zünglein an der Waage“ trifft indessen nur bedingt zu. Es geht eben nicht nur um das Austarieren von Machtpositionen, um die kokette Begünstigung der einen oder anderen Seite, immer mit dem begehrlichen Blick auf Pöstchen und Ämter – wie es kleineren Koalitionspartnern ja vor allem dann vorgeworfen wird, wenn ihre Vertreter anscheinend überrepräsentiert sind an den diversen, aber begrenzten Schalthebeln der Macht. Daß dies auch eine Rolle spielt, wird wohl niemand bestreiten, der den Blick für die Realität nicht vollends verloren hat; aber es darf nicht zur Hauptsache werden. Es geht für die kleinen Partner vor allem darum, Regulativ sein zu können im Sinne einer ideologiekritischen, undogmatischen Politik, damit die Selbstfesselung der „Volksparteien“ an ihre wichtigsten Klientele nicht unversehens zur hilflosen Erstarrung in bürokratischen „Gehäusen der Hörigkeit“ führt. Hier liegt die wichtigste Aufgabe der kleineren Koalitionspartner, wenn sie sich dem Fortschritt (und nicht nur der Macht) verpflichtet fühlen; hier liegt aber gleichzeitig auch eine Legitimation des Mehrparteiensystems (im Sinne eines „Mehr-als-zwei-Parteien-Systems“) in einer pluralistischen Demokratie und das Fundament für eine lebendige politische Streit-Kultur.
Unsere Welt lebt vom technischen Fortschritt, unter dem sie gleichzeitig zu leiden scheint; ein gerüttelt‘ Maß unserer Arbeitslosigkeit ist durch Automatisierung und Rationalisierung entstanden – ob diese nötig sind oder nicht, sei dahingestellt. Allgemeine Urteile darüber zu fallen, würde jedenfalls bedeuten, die Komplexität und Kompliziertheit des Problems zu unterschätzen. Wenn der technische Fortschritt aber für die Menschen etwas Positives ist, was seit der Aufklärung nicht ernsthaft bestritten wurde, dann muß er dem. Einzelnen die Möglichkeit eröffnen, mehr Lebenschancen und Optionen zu realisieren, innerhalb eines größeren Angebotes wählen zu können, einen Zuwachs an gesellschaftlicher und individueller Freiheit zu genießen. Im Hinblick auf die gegenwärtigen Realitäten wird man diese Forderungen keineswegs häufig erfüllt finden. Den Stichworten Arbeitslosigkeit und Umweltzerstörung sind keine Erläuterungen hinzufügen, sie sprechen für sich. Es ist nicht zu bestreiten, daß angesichts neuer Herausforderungen die „Tanker-Parteien“ in ihrer Unbeweglichkeit dazu neigen, solange auf eingefahrene und althergebrachte, deshalb nur begrenzt taugliche Rezepte zu vertrauen, wie die Mehrheit ihrer Klientele dies zu verlangen scheint. Das Paradox ihres Verhaltens besteht darin, daß sie dieselben Instrumente zur Beilegung der Krise propagieren, die für die Herbeiführung ebendieser Krise mindestens mitverantwortlich, wenn nicht gar ursächlich waren. Angstmotiviertes, rigides Verhalten innovativen Ideen gegenüber (,Keine Experimente!“) führt in den Teufelskreis der Reproduktion sich verschärfender Krisen und zur Verkümmerung einer lebendigen politischen Kultur.
Auf der anderen Seite streben radikale Gruppen an den rechten und linken Rändern des politischen Spektrums extreme „Lösungen“ an, ohne daß es ihnen dabei eigentlich um die Probleme geht; vielmehr bedeutet ihnen die Krise nur ein willkommenes Vehikel, um auf sich und ihre Ziele aufmerksam zu machen sowie Verunsicherte und Benachteiligte auf ihre Seite zu ziehen. In der Regel neigen sie dazu, den demokratischen Konsens aufzukündigen und gesellschaftliche Pluralität zu bedrohen; faschistische und kommunistische Utopien weichen in dieser Hinsicht nur graduell voneinander ab. Daß solche Vorstellungen in der Demokratie keine geeigneten Lösungsansätze sind, muß nicht eigens begründet werden. Aber auch die aus der Vergangenheit in die Zukunft verlängerten Konzepte der Volksparteien werden der neuen Dimension unserer Problemgebirge nicht gerecht. Hier liegt die Aufgabe nonkonformer, ideologiekritischer und undogmatischer Politik, die dem Mehrheitsdruck gegenzusteuern vermag. Eine Herkules-Aufgabe, wie es scheint, zumal wenn auch die aus der gesellschaftlichen Sicherheit und den sie tragenden Gruppen Ausgegrenzten, vor allem also die Arbeitslosen und die besonders stark von Arbeitslosigkeit Bedrohten; lieber den alten als scheinbar riskanteren neuen Strategien vertrauen – oder aber aus Protest gegen die (vermeintlichen oder tatsächlichen) Verursacher ihrer Misere die demokratiefeindlichen Extreme rechts und links im politischen Spektrum stark machen.
Allerdings ist es auch nicht leichter geworden, geeignete neue Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit zu finden. Pluralität der Meinungen im Bundestag scheint da gelegentlich sogar hinderlich zu sein, weil sie den Konsens, das gemeinsame Angehen gegen die Probleme behindert. Es sei aber darauf hingewiesen, daß solches gemeinsames Handeln, wird es von den „Tanker-Parteien“ getragen, vor allem die Interessen der großen Klientele bedienen wird. Die der nonkonformen Minderheiten, gar die individuellen Interessen dürften demgegenüber kaum eine Rolle spielen, ja, ihre Geringschätzung und Ausgrenzung dürfte zementiert werden, weil sich nun kaum noch jemand für sie verwenden kann. Es ist bedauerlich, daß es in den vielen Jahren der politischen Krise nicht gelungen ist, der politischen Konsens-Rhetorik – die allenfalls von der Hoffnung lebt, die alten Instrumente möchten doch noch einmal greifen – eine zwingende Alternative entgegenzusetzen. Schon weil eine solche Alternative den liebgewonnenen Glauben an die Sicherheit und den Wohlstand im Versorgungsstaat erschüttern muß, wird sie nur zaghaft und nur von wenigen angedacht; sie zur Kenntnis zu nehmen, bedeutet vor allem für die Tanker-Parteien eine lebensgefährliche Zumutung, der sie sich erst dann stellen werden, wenn die Verhältnisse ihnen keine Wahl lassen. Für eine politische Streit-Kultur freilich bedeutete sie geradezu einen Frischzellen-Impuls, weil Alternativen sich nur über die engagierte demokratische Auseinandersetzung zu Handlungsmaximen machen lassen.
Verantwortung für das eigene Leben, die eigene Versorgung und die engere Umwelt wieder stärker auf die Individuen und die Gesellschaft zurückzuverlangen (je nach ihrer Belastbarkeit!): Das ist die Forderung der Zeit, an der auf Dauer auch die politischen Dinosaurier nicht vorbeikommen werden. Es handelt sich hier zweifellos um eine Form der „Freiheitszuweisung“ an den Einzelnen (man verzeihe den widersprüchlichen, aber leider zutreffenden Begriff), die von den meisten Menschen bis auf weiteres eher verschmäht denn angenommen werden dürfte. Die Lebenschancen verringern sich mehr Menschen, Pluralität der Optionen ist für viele nur noch eine nichtssagende Worthülse, allenfalls noch als Luxus aus längst vergangener Zeit in vager Erinnerung; sie haben jeden Tag um das nackte Überleben zu kämpfen. Wie kann es da gelingen; Verantwortung vorn Staat weg in die Gesellschaft und auf die Individuen rückzuverlagern? Zumal wir uns allzusehr daran gewöhnt haben, daß der Staat uns gibt, ohne das wir uns ihm deshalb verpflichtet fühlen müßten; und zumal wir leider alle Tage erleben müssen, daß die Gerechtigkeit (etwa bei den Steuergesetzen) sehr zu wünschen übrig läßt; daß es meistens die ohnehin Schwachen trifft, während die Stärkeren sich zusätzlicher Begünstigungen erfreuen dürfen, ohne deshalb zusätzliche Verpflichtungen für das Wohl der Allgemeinheit einzugehen.
Und doch gibt es nur den Weg über einen Bruch mit den überholten, früher einmal tauglichen Strukturen. Daß der Generationenvertrag angesichts der demographischen Entwicklung nicht mehr lange tragen kann, ist eine der unbequemen Wahrheiten, die zu bestreiten nur noch wahltaktische Gründe hat. Für eine zeitgemäße Organisation von Staat und Gesellschaft, für Freiheit und Pluralität, sowohl was neue Lebenschancen als auch was die Beseitigung alter Privilegien und das Aufbrechen verharzter, ein- und ausgrenzender Strukturen der Kollektive angeht – von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen bis zu Kirchen, Verbänden und Kammern (den ADAC und die Ärztekammern nicht ausgenommen) –, müssen die Menschen in Zukunft selbst sehr viel mehr Verantwortung übernehmen als sie das in der Vergangenheit gewohnt waren. Auch darauf, daß die in der Verfassung definierten „Institutionen der Freiheit“, die Parlamente und Gerichte, Regierungen und unabhängigen Informationsmedien, nicht zu Handlungsgehilfen übermächtiger Interessen werden, sondern ihre eigentlichen Funktionen wirkungsvoll ausüben können, müssen die Bürger und ihre Organisationen ihr kritisches Augenmerk richten. Die Rolle der ideologiekritischen, undogmatischen Parteien (und die kleinen Parteien sollten allemal zu ihnen gehören!) muß die des Anwaltes einer solchen Entwicklung zur Neuorganisation staatlicher und gesellschaftlicher Verantwortung sein. Sollten sie sich nicht durchsetzen können, sollten sie vor dem Mehrheitsdruck kapitulieren (müssen), so würde die Krise zur Normalität, und eine Lösung der Probleme wäre auf Sankt Nimmerlein vertagt.
Ralf Dahrendorf nennt „zwei gute Gründe“ für eine liberale Partei in der Bundesrepublik: „Der erste Grund liegt in der Bedeutung des Liberalismus selbst. Das Bestehen auf den Lebenschancen des einzelnen, deren jede Beschränkung abweisende Verteidigung und die ungeduldige Suche nach deren Erweiterung sind ein unentbehrliches Element einer offenen Gesellschaft. (…) der zweite Grund …: Zwei-Parteiensysteme haben eine fatale Tendenz zur Evakuierung der Mitte. Sie ermutigen die extremen Flügel der Parteien, ihre Vorstellungen zuerst ihrer Partei und dann dem ganzen Land zu oktroyieren.“ Das Oktroyieren von ideologischen Vorstellungen, zum Beispiel von angeblich allmächtigen Patentrezepten zur Lösung von Problemen, führt alsbald zur Ausgrenzung und Unterdrückung wenigstens der nonkonformen Minderheiten, auf die Dauer aber geradewegs in die nivellierte Gesellschaft. Das Plädoyer für den Parteien-Pluralismus bedeutet deshalb auch ein Plädoyer für die Freiheit.
Immanuel Kant, der Philosoph der „Pflicht aus Freiheit“, sieht in der Pflichterfüllung des Individuums um der Freiheit willen auch die Grundlage aller gesellschaftlichen Kultur. Es sei zum Abschluß erinnert an eine Rede der liberalen Politikerin Gertrud Bäumer, die sie zu Kants 200. Geburtstag am 22. April 1924 auf dem Reichsparteitag der Deutschen Demokratischen Partei hielt. Darin heißt es: „Aber dieser innere Zustand, diese sittliche Freiheit, wird Prinzip und Maßstab und Ziel des Gemeinschaftslebens, des Staates. Und darum bekommt von dieser Idee aus der Staat einen Sinn, eine Bestimmung und Würde. Er hat diese Freiheit nicht nur zu schützen, sondern durch seinen Aufbau und sein Leben immer wieder aufzurufen und zu erziehen. Er bekommt neben seiner äußeren eine innere, eine Kulturaufgabe.“
Die Kulturaufgabe der Freiheit zu leisten und der aktuellen Probleme Herr zu werden, ohne die vielfältigen Lebenschancen in unserer Gesellschaft zu gefährden, ist die gemeinsame Verantwortung von Bürgern, Staat und Parteien. Sie ist nur dann zu bewältigen, wenn die außerparlamentarische Interessenvielfalt im Parlament repräsentiert bleibt, wenn also der Parteien-Pluralismus auch den nicht-mehrheitskonformen Vorschlägen und einer echten politischen Streit-Kultur ihre angemessenen Chancen läßt.