Wenn man das „neue“ Buch von Ralf Dahrendorf durchblättert, sein Inhaltsverzeichnis sichtet, so hat man zunächst einen recht zwiespältigen Eindruck. Zuviel Divergierendes, in Quantität wie Qualität, scheint hier zwischen zwei Buchdeckel gepreßt worden zu sein. Nachdrucke meist zudem, die zum Teil durchaus noch zugänglich, ja in Erinnerung sind, etwa die schöne Habermas-Würdigung vor fünf Jahren im „Merkur“. Liest man das Vorwort, so verfestigt sich der Verdacht, hier habe der Verlag aus Anlaß des 65. Geburtstages seines Autors (am 1. Mai 1994) unbedingt ein Buch auf den Markt werfen wollen, und da es nichts Neues gab, kam man eben auf diese Sammlung.
Beginnt man sich dann aber auf die Porträts einzulassen, so verflüchtigt sich der erste Eindruck schnell, und man findet manchen beachtlichen Text, der, auch wenn man ihn schon früher einmal gelesen hatte, bald die Konzentration bannt. (Was im übrigen den oben geäußerten Verdacht per saldo keineswegs beseitigt.) Wohl das engagierteste Stück des ganzen Buches ist das Porträt des Vaters, das der Autor als 25jähriger schrieb, nachdem Gustav Dahrendorf früh an den Spätfolgen seiner Nazihaft gestorben war. Mit Verwunderung stellt man fest, daß hier schon ein Großteil der
dominierenden Ideen und Themen formuliert wurde, die Dahrendorf bis heute immer wieder angegangen ist, um die in immer neuen Zusammenhängen sein Denken kreist. So etwa die entschiedene Ideologiekritik am Totalitarismus gleichermaßen wie am Kapitalismus, die sich in seiner Beschäftigung mit Karl R. Popper oder als Auseinandersetzung mit der zerfallenden Welt des Kommunismus auf der einen und mit Friedrich August von Hayek auf der anderen Seite in seinen „Betrachtungen über die Revolution in Europa“ aus dem Jahr 1990 wiederfindet. Ein Zitat, das für viele andere stehen kann: „Im totalitären Staat ist es die Macht, im Kapitalismus der Profit, die den Menschen beherrschen. Im einen wird der Nutzwert für die Erhaltung der Diktatur, im anderen der Beitrag zur Vergrößerung des den wenigen zugute kommenden Profits zum Maß aller Dinge. Der Mensch ist in beiden nur mehr Ziffer, gläubiger Volksgenosse oder willige Arbeitskraft, Sklave seiner eigenen Produkte. Ihn wieder zum Maß aller Dinge zu machen kann nur gelingen, wenn Freiheit und Gerechtigkeit den Bestimmungsgrund der Ordnung menschlicher Gesellschaft abgeben“ (S. 52/53).
Freiheit und Gerechtigkeit, das sind zentrale Begriffe in den Schriften des Ralf Dahrendorf; ihnen Geltung zu verschaffen ist eine der großen politischen Aufgaben, um die es ihm geht. In zwei Texten über Max Weber weist der Autor auf die grundsätzlichen Eigenschaften hin, über die ein Politiker verfügen sollte, der „Politik als Beruf“ ausübt: Leidenschaft, Verantwortung und Augenmaß. Wo alles drei sich zu einer Einheit verbindet, entsteht jene glückliche Balance von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik, die Politik gelingen läßt. Wenn dann noch das „Charisma“ hinzukommt – eine janusköpfige Mitgift starker Persönlichkeiten, deren problematische, ja dämonische Faszination Webers Schaffenskraft jahrelang lähmte -, hat politische Führung ihre vollendete Inkarnation gefunden. Der Autor benutzt eine anschauliche Metapher, mit deren Hilfe er illustriert, wie wir uns diesen Weberschen Typus vorzustellen haben: ,,Mit einem Bild … läßt sich das Verhältnis des Führers zur Verwaltung mit dem Eintritt von Raumkapseln in die Erdatmosphäre vergleichen. Manche nähern sich dieser dichteren Atmosphäre in zu flachem Winkel; sie werden wieder hinausgestoßen in den Weltraum: die Gesinnungsethiker. Manche tauchen zu steil in die Erdatmosphäre ein und verglühen in ihr: die Politbürokraten. Wenige finden den richtigen Zugang. Sie beherrschen ihr Metier. Sie sind Führer, wenn nicht Helden. Dahinter steht ein Bild von Politik, das sich nicht leicht abweisen läßt, möglicherweise ein plausibleres Bild, als es die modischen Lehrbücher der Demokratie liefern“ (S. 60).
Schließlich sei hingewiesen auf die Habermas-Würdigung zu dessen 60. Geburtstag, die den Abschluß des Buches bildet. Zwar betont Dahrendorf durchaus, daß ihn einiges von Habermas trennt: Ihm fehlt der Glaube an die Utopie des herrschaftsfreien Diskurses als Bedingung der Möglichkeit gerechten, friedlichen menschlichen Zusammenlebens. Aber das Verbindende ist ausschlaggebend: „Sein (Habermas‘) Herz schlägt links, aber es schlägt vor allem für das Anrecht auf Freiheit“ (S. 319/20). Und darin, daß die Voraussetzung für Gerechtigkeit, nämlich die Freiheit der Menschen, zunächst gesichert werden muß, sieht sich der Autor mit seiner Persona laudanda einig. Freilich zeigen sich die Unterschiede schon in der Sprache. Köstlich, wie Dahrendorf einen der typisch verklausulierten Sätze Habermas‘ in verständliches Deutsch übersetzt: „,Die Momente von Erkenntnis und Entscheidung verhalten sich im Begriff einer ideologiekritisch tätigen Vernunft dialektisch.‘ Das soll heißen, daß man Wirklichkeit nur verstehen kann, wenn man weiß, wohin man will, daß man dies aber nur wissen kann, wenn man soziale Prozesse versteht“ (S. 327). Dahrendorf ging nach England, Habermas blieb in Deutschland. Auch das rechnet jener diesem hoch an. Denn: „In Deutschland regiert das flache Mittelmaß, der Rundfunkratsproporz, die beamtete Langeweile“ (S. 329). Ob der Grund für das Hierbleiben wirklich darin zu finden ist, daß Habermas sich mit der, Theorie begnügt, während Dahrendorf für sich in Anspruch nimmt, die freiere Luft der unzweideutig westlichen Welt zum Atmen“ zu brauchen, sei dahingestellt. Dem Rezensenten bleibt zu hoffen, daß nicht nur Habermas, sondern möglichst viele seines Kalibers die Kraft haben, im langweiligen Deutschland auszuharren und so vielleicht doch dem flachen Mittelmaß der Proporz-Republik einige Glanzlichter aufsetzen. Im übrigen werden die Dahrendorf-Leser nicht mehr lange auf ein wirklich neues Buch des Autors warten müssen. Für 1995 kündigt er eine Geschichte der London School of Economics an, deren Direktor er von 1974 bis 1984 war.