Hoffnungen und Ängste im deutschen Feuilleton
Verfolgt man die Argumente in den deutschen Feuilletons der letzten zwei, drei Jahre, so rückt eine dominante Frage mehr und mehr ins Zentrum aller zeitkritischen Fragestellungen: Ist die westliche Welt nach dem Kollaps des sozialistischen Systems in der Lage, mit ihren bisher für gültig und tauglich gehaltenen Instrumentarien der neuen Probleme Herr zu werden und sie, die Instrumentarien, aber auch die Grundlagen des eigenen Systems, ohne die die Instrumentarien nicht denkbar wären, dadurch zu legitimieren? Kann sie also mit ihrem bisherigen Selbstverständnis überleben? Zweifel wurden und werden überall in der Welt laut, nicht nur weil die westliche Wertegemeinschaft dem Gemetzel auf dem Balkan so beschämend hilflos gegenübersteht.
Von neuen Ungewißheiten und vom Gelingen der Zukunft
Neuer Nationalismus, der Fremdenhaß, Abschottung und Bunkermentalität erzeuge, sei die furchterregende Ausgeburt des Zusammenbruches der bipolaren Gewißheiten und Kern alles Bösen, das jetzt über die Welt hereinbreche, so liest man häufig in den Feuilletons. Franz M. Oppenheimer, ein deutschstämmiger Jude, der nach Amerika emigriert ist, stellt die gesamte Problemanalyse, die in dieser Form gern von der Mehrzahl deutscher Intellektueller und Politiker angestellt wird, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung radikal in Frage. Sein Fazit lautet: „Die deutlichen und tatsächlichen Gefahren für die Zukunft der deutschen Kultur und Demokratie liegen wie in den Vereinigten Staaten und dem übrigen Europa woanders. Nicht beim Nationalismus, der praktisch ausgestorben ist, oder beim Superpatriotismus, der völlig verschwunden ist, sondern im Multikulturismus; nicht im Elitedenken, sondern im Analphabetismus; nicht beim Polizeistaat, sondern in der Kapitulation vor den Kriminellen; nicht beim Antisemitismus, sondern im Verschwinden des Glaubens überhaupt; nicht in der Verehrung des Staates, sondern der Konsumgüter – kurz, tödliche Gefahren sind Konsumismus, ungezügelter Hedonismus und anarchische Nachgiebigkeit. Dort wie hier in all unseren Staaten wurde dem jüdisch-christlichen, abendländischen Erbe der Krieg erklärt, und wir sind dabei, diesen Krieg zu verlieren.“
Nun könnte man diese Auffassung – gerade unter dem Eindruck von Brandstiftungen, Antisemitismus, Urteilen zur sogenannten Auschwitz-Lüge sowie von Verleumdungen aus dem Munde Schönhubers und Konsorten – als stockkonservativ abtun und zur Tagesordnung übergehen, wenn man nicht konstatieren müßte, daß Oppenheimer Bereiche anspricht, die auch in den kritischen Beiträgen linksgerichteter Autoren/innen, wenn auch mit anderen Akzenten, immer häufiger artikuliert werden: die Ablehnung hedonistischer Konsumhaltung etwa oder die Suche nach einem neuen Sinn, nach neuen (oder alten) Inhalten, die Orientierung geben. Den Kristallisationspunkt der Debatten bildet der Diskurs um den Begriff der Nation.
Aber auch diese Debatte, ob links oder rechts oder zwischen beiden Lagern geführt, die sich vor allem gegen die Beliebigkeit der postmodernen achtziger Jahre richtet, scheint angesichts einer qualitativ neuen Wirklichkeit zu verpuffen, wenn man Armin Adams Plädoyer für die Jugend „Wider die Sauertöpfe“ in der Süddeutschen Zeitung liest – und ernst nimmt. „Wo die Elterngeneration … dem mehr oder weniger selbstgerechten Pathos der Moral verfällt, besetzt die Jugend das Feld des Spiels“, so kann man dort erfahren. Und diese Jugend widersetzt sich sowohl der nostalgischen (sprich: traditionell konservativen) wie auch der utopischen (sprich: traditionell sozialistischen) Kritik am Bestehenden und versucht einen neuen Zugang zur Wirklichkeit zu finden. „Die soviel gescholtene Jugend der frühen 90er Jahre schenkt den Konventionen selbst keine Aufmerksamkeit mehr. So wird das enge Korsett, das noch die letzte Generation sich angelegt hat und der nachfolgenden Generation hat anlegen wollen, gesprengt. Das Korsett der Moral und Verantwortlichkeit.“ Und die Freiheit, von der alle reden, drückt sich für die Jugend nicht in Protest und Kritik aus, sondern „im Spiel, im Arrangement“. Nach welchen Spielregeln das Ganze funktioniert, nach welchen Vorgaben man sich oder/und die Wirklichkeit arrangiert, darüber spricht Adam nicht. Und so wird man wohl richtig liegen, wenn man vermutet, daß hier erst ein Anfang gesucht wird, mit dem Vorgefundenen, das für so manches Mißlingen verantwortlich ist, zu brechen und neue Wege zum Gelingen des menschlichen Miteinander einzuschlagen.
Wilfried Hinsch hingegen hält für ein solches Gelingen die „Erziehung zum Liberalismus“ für unabdingbar und legitim, nach wie vor. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) schreibt er, ausgehend von John Rawls‘ Gerechtigkeits- und Wilhelm von Humboldts Pluralismus-Theorien, über die Stabilität pluralistischer Gesellschaften. Freilich führen auch seine Gedanken zu keiner widerspruchsfreien Rechtfertigung für die Pluralität der Lebensentwürfe, die selbst als Wert betrachtet wird (die „inklusive Position“), denn sie schlösse natürlich all jene aus, die diesen Ansatz nicht teilen, und wäre damit keine Pluralität mehr. Deshalb folgert Hinsch: „Es wäre freilich paradox, das Stabilitätsproblem dadurch lösen zu wollen, daß man Bürger, die die inklusive Position ablehnen, dazu verpflichtet, eine positive Einstellung zum Pluralismus einzunehmen wenn dies ihrer wohlerwogenen Konzeption des Guten widerspricht. Dies schließt aber nicht aus, daß demokratische Regierungen das Recht und die Pflicht haben, darauf hinzuwirken, daß heranwachsende Bürger zu einer inklusiven liberalen Einstellung und einer positiven Bewertung des Pluralismus erzogen werden.“ – Allzu formalistisch, so würden wohl manche moderne Autoren deutscher Feuilletons diese Position kritisieren. Auf die Gefahren, die einer allzu formalistisch verstandenen liberalen Konzeption von Demokratie innewohnen, weist der berühmte polnische Wissenschaftler Leszek Kolakowski hin, ebenfalls in der FAZ, indem er den Zusammenbruch des Kommunismus philosophisch zu deuten versucht. Er warnt davor, den Kommunismus zum Sündenbock und Alibi eigener, westlicher Verfehlungen zu machen oder aus seinem Scheitern gar die Konsequenz abzuleiten, inhaltlich definierte Staats- und Gesellschaftskonzeptionen seien nunmehr gänzlich abzulehnen. Drei Zitate: „Nicht der Kommunismus ist daran schuld die liberale Zivilisation vergiftet sich vielmehr selbst, indem sie die Bequemlichkeit in eine Erkenntnistheorie verwandelt.“ – „Nicht der Kommunismus, unsere liberale Zivilisation hat uns davon überzeugt, daß nicht der einzelne Mensch für sein Leben und für seine Untaten verantwortlich ist, sondern die anonyme ,Gesellschaft‘ und daß wir diese insbesondere im Staat verkörperte Gesellschaft
verfluchen und von ihrer Allmacht zugleich alle nur denkbaren Güter verlangen sollen.“ – „Heute fürchten wir nicht mehr den Kommunismus, wir fürchten etwas Unbestimmtes – oder alles –, da wir selbst uns des geistigen Grundes beraubt haben, auf dem sich das Vertrauen zum Leben bildet … Unser wohlhabenes Leben sinkt in die Sinnlosigkeit hinab, und der Zusammenbruch des Kommunismus kann diesen Fall nur beschleunigen.“
Von den Kräften des Bösen und der Flucht in die Mittelmäßigkeit
Und immer noch geistert im Zusammenhang mit solch düsteren Prophezeiungen das Wort von den „Kräften des Bösen“, die sich erneut regeneriert hätten, durch die Medien. Einer der dafür Verantwortlichen ist Theo Sommer in der ZEIT. Von drei „Grundbefürchtungen“, die von den Kräften des Bösen genährt würden, spricht er: „Einern ,Kampf der Kassen‘, einem Handelskonflikt zwischen den Industriemächten in der Zone des Friedens, ihrem Tauziehen um Märkte, Arbeitsplätze, ökonomische Suprematie. Die Wirtschaft wird dabei zur Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln: Die Opfer werden nicht nach Millionen Gefallenen gezählt, sondern nach Millionen Arbeitslosen … einem weltweiten ,Kampf der Klassen‘: dem Nord-Süd-Konflikt nach dem Ost-West-Konflikt, einem Krieg der Habenichtse gegen die Besitzenden, geführt auch mit Drogen, Viren, Massenvernichtungswaffen … Einen ,Kampf der Rassen‘, besser: einen Zusammenprall der Kulturen. … Danach werden sich die Verwerfungslinien zwischen den großen Weltkulturen unausweichlich in die Schützengräben der Zukunft verwandeln.“ Und was können wir, was kann der Westen gegen diese Grundbefürchtungen tun? „Das Eigene bewahren und beschützen. Die Bedrohung neutralisieren. Das Vorland eindeichen. Nicht auf der Suche nach Ungeheuern in die Ferne ziehen, sondern gewappnet abwarten, bis sich die Kräfte des Bösen erschöpfen. Das Schlimmste nicht für sicher halten, doch gleichwohl sich dagegen rüsten.“ So Theo Sommer. Nett gesagt, könnte man kommentieren, aber ob uns das wirklich weiterhilft? Ein bißchen konkreter hätte es schon sein dürfen. In dieser Form passen seine sicher gutgemeinten Ratschläge zu einer Unzahl von Wischiwaschi-Formulierungen, die vielleicht typisch sind für die Ratlosigkeit unserer Zeit.
Und das Wischiwaschi wiederum spiegelt sich in der „Sehnsucht nach dem schwachen
Mann“. Davon spricht die streitbare Journalistin Sybille Krause-Burger in der Süddeutschen Zeitung. Sie beklagt einen Zustand der demokratischen Gesellschaft, der allenthalben dazu führe, daß Mittelmaß regiere, daß kleinmütiges Stimmvolk sich die Starken, die Führungswilligen lieber vom Halse halte, als daß es ihnen an die Hebel zur Macht verhülfe. Man schaue mißtrauisch, auch neidisch auf die Starken und beginne sie mit dem Mittel demokratischer Maßregelung unverzüglich zu demontieren; in Parteien, Medien, Vorständen, Aufsichtsräten sowie in vielen anderen Gremien und Organisationen mehr. So aber, das meint jedenfalls Frau Krause-Burger, kämen wir nicht raus aus dem Schlamassel. Neue, starke Männer und Frauen brauche das Land. Aber ach: „Noch hält sie sich wacker, die Sehnsucht nach dem schwachen Mann. Und wenn die Zeichen nicht trügen, wird sie auch im Superwahljahr wieder aufs wunderbarste erfüllt werden. Was regt ihr euch also auf, ihr Politik- und Parteiverdrossenen? Haben wir denn nicht die politische Führung, die wir uns im tiefsten Herzen wünschen?“
Und haben wir nicht auch die Intellektuellen, die einer Vorherrschaft des Mittelmaßes, wie es Frau Krause-Burger beschreibt, entsprechen? – so könnte man zu fragen fortfahren. Vor allem wenn man all die Konventiten in den Feuilletons Revue passieren läßt, die dort täglich ihrer Eloquenz freien Lauflassen und naßforsch, frei nach dem Motto: „Was kümmert mich mein Geschwätz von ehedem!“, hart am Zeitgeist argumentieren – gestern sozialistisch, heute liberal, morgen reaktionär. Dann könnte man ernstlich auf die Idee kommen, daß es allenthalben in unserer Gesellschaft an Rückgrat und Format mangele; ja, daß unser vor allem an materiellem Erfolg orientiertes System das Mittelmaß, den Opportunismus befördere.
Die Frankfurter Rundschau hat Günter Grass unter anderem zu diesem Thema befragt, und in seinen Antworten spürt man eine gehörige Portion ehrlichen Schmerz, wenn er über die Gefährten früherer Tage spricht, die heute in das populistische Horn stoßen. Zu Hans Magnus Enzensberger sagt er: „Es ist mir natürlich unerfindlich wie jemand, der uns immer die entlegensten Konfliktplätze auf der Welt nahe gerückt hat, um uns zu sagen, daß es uns alle angeht – daß er nun zu dem zwar lobenswerten aber auch unzureichenden Verständnis kommt, nur noch vor der eigenen Haustür zu kehren.“ Und auch Martin Walser reiht er ein in die Phalanx derer, die ihre Visiere runterklappen und sich so einen eingeengten Horizont schaffen, der es erlaubt, die internationalen, weltweiten Anforderungen heldenhaft zu übersehen.
Mag sein, daß er ihnen damit ein wenig Unrecht tut, aber liest man zum Beispiel Walsers Rede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Technischen Hochschule in Dresden, die von der FAZ gedruckt wurde, so kann man sich des Eindrucks des Betulichen, des Provinziellen in der Tat nicht ganz erwehren. Es geht Walser um die Medien, die gelegentlich vom Mißlingen der deutschen Einheit schreiben. Und dies mag er nun überhaupt nicht, wie er ohnehin am liebsten positive Meldungen liest. „Es gibt offenbar prinzipiell Schlechtaufgelegte, die es mit ihrer persönlichen Verdrossenheit nicht aushalten. Also sollen wir alle diese Verdrossenheit teilen. Jeder Saison verpassen die Verdrossenheitsstars eine neue Krisenmetapher. Auch wenn das Branchencredo ,Only bad news is good news‘ aus dem Angelsächsischen stammt, ich glaube, die deutschen Medien sind die larmoyantesten der Welt.“ Dieser Einschätzung und auch Walsers Wunsch, eine „Festmusik erklingen“ zu lassen angesichts all der kleinen, aber eben positiven Meldungen zur deutschen Einheit, könnte man einen anderen Satz aus seiner Rede entgegenstellen, den er geradezu für seinen momentanen Glaubenssatz ausgibt: „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.“ – Immerhin erkennt Walser an, daß die derzeitige Arbeitslosigkeit wirklich ein Problem ist, nämlich „das ernsthafteste Leiden dieser Gesellschaft“. Freilich ist es nicht nur ein deutsches Leiden, auch das weiß er. Daß es aber, nicht nur außerhalb Deutschlands, noch andere, zum Teil weit gravierendere Leiden gibt, darüber spricht Walser nicht mehr. Und diese Verengung des Horizontes ist es, die Grass an seinen ehemaligen Weggefährten, die geringzuschätzen er sich freilich nach wie vor weigert, schmerzt. Und er kommt zu der Verallgemeinerung, daß nicht nur bei den Intellektuellen, nein überall, auch und vor allem in der Politik, der Blick über den Tellerrand seltener, das National-Kleinkarierte häufiger anzutreffen ist. Was Grass für verhängisvoll hält, wenn es ihm auch wichtig ist, daß wir zunächst die nationalen Schularbeiten erledigen, bevor wir uns europäischen und weltweiten Problemen zuwenden.
Von der Zukunft, die der Vergangenheit bedarf
Eben diesem Thema, der Einbettung Deutschlands in internationale Zusammenhänge, politisch wie wirtschaftlich, hat sich schon zu Beginn unseres Jahrhunderts ein bedeutender deutscher Wirtschaftskapitän und Politiker gewidmet: Walther Rathenau. In der deutschen Hauptstadt Berlin, seinem Schaffensmittelpunkt, zeigt eine gelungene Ausstellung die Stationen seines Lebens. Darüber schreibt Bernhard Wördehof in der ZEIT: „Die Ausstellung im Deutschen Historischen Museum zu Berlin inszeniert Rathenaus Lebenslauf so eindrucksvoll wie überzeugend als Dokumentarstück, dessen tragischer Schlußakt für den Besucher durch die Wiederkehr des rechten Mordterrors in unseren Tagen einen böse-aktuellen Akzent erhält.“ In allen wichtigen Feuilletons wurde und wird über diese Ausstellung berichtet, auch darüber, daß Klaus Kinkel, als Außenminister sozusagen einer der Amtsnachfolger Rathenaus, zur Eröffnung gesprochen hat. Und bei aller Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit, die Rathenaus Persönlichkeit kennzeichnet, finden die meisten Kommentatoren positive, bisweilen gar hymnische Töne. Um so bedauerlicher ist es, daß die Lehren aus dem Leben Rathenaus offenbar immer wieder in Vergessenheit geraten. Weder seine Warnungen vor der „Mechanisierung“ des Geistes noch sein Schicksal, als Jude durch ein feiges Attentat den Tod gefunden zu haben, auch nicht seine Irrtümer, deren es viele gibt an der Zahl, scheinen für die Deutschen dauerhafte, konkrete Wirkung auszuüben. Die Liberalen, denen er sich selbst zurechnete, haben ihm in ihrer Ahnengalerie einen Ehrenplatz zugewiesen. Es würde sich gewiß lohnen, einen Schritt weiter zu gehen und Rathenaus Gedanken auf unsere Zeit anzuwenden, für unsere Zukunft zu nutzen. Vielleicht hilft dabei der imposante Katalog der Ausstellung, der für DM 98,- im Buchhandel zu haben ist: „Die Extreme berühren sich – Walther Rathenau 1867 – 1922″. Dazu noch einmal Bernhard Wördehoff: „Der vorzügliche Katalog übrigens, der in zwanzig Essays die jüngsten Ergebnisse der Rathenau-Forschung ausbreitet, könnte ein Standardwerk werden.“
Aus der Vergangenheit zu lernen, das war und ist eines der schwierigsten Kapitel in der Geschichte der Völker. Die Deutschen haben das nicht nur einmal erfahren. Und zur Zeit
unternehmen wir erneut den Versuch, spezifische Schwierigkeiten beim Umgang mit der Vergangenheit zu bewältigen. Oft hat man resignierend davon gesprochen, daß mit dem nur scheinbaren Neuanfang nach 1945 eine historische Chance verpaßt worden sei. Diese Meinung vertraten vor allem die „Linken“, die ihr Selbstverständnis in der Regel aus der Kritik am Bestehenden, nicht aus dem Arrangement damit ableiteten. Wie dem auch sei – ob wirklich eine Chance verpaßt wurde oder nicht –, seit 1989 haben wir die nächste Chance, aus der Vergangenheit Lehren zu ziehen für die Zukunft. Diesmal aus der Geschichte und dem Zusammenbruch eines totalitären kommunistischen Regimes auf deutschem Boden. Und man hat leider den Eindruck, daß diesmal eher die „Linken“ als die „Rechten“ zum resignierten Arrangement mit den bisherigen, unbefriedigenden Resultaten bereit sind. Keine guten Aussichten für die Zukunft.
Markus Meckel, der letzte Außenminister der DDR, stellt sich diesem Thema mit einem Aufsatz in der sechsten Ausgabe der Zeitschrift Transit – europäische Revue. Er trifft die derzeitige Stimmungslage in Deutschland ziemlich genau, wenn er schreibt: „Nur sehr langsam verbreitet sich auch im Westen das Bewußtsein, daß durch die deutsche Vereinigung sich nicht nur für die Menschen im Osten fast alles geändert hat, sondern alle Deutschen betroffen sind.“ Während sich die innere Einheit, vor allem in den Köpfen der Menschen, in der Tat schwieriger vollzieht als die äußere, bemüht sich der Deutsche Bundestag, die richtigen Voraussetzungen zu schaffen, um der Vergangenheit gerecht werden zu können. Nicht allein um das Stasi-Unrecht und um die Entmündigungspraktiken in der ehemaligen DDR darf es ja gehen, wenn die gemeinsame Zukunft gestaltet wird, ebensosehr müssen etwa die unterschiedlichen sozialen und rechtlichen Voraussetzungen untersucht werden, die zu unterschiedlichen Bewertungen gegenwärtiger Entwicklungen in Ost und West führen und den Einheitsprozeß dadurch erschweren. Um eine solche komplexe Aufarbeitung leisten zu können, hat der Bundestag am 12. März 1992 die „Enquéte-Kommission zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte“ eingesetzt, die Mitte 1994 ihren Bericht vorlegen soll. Welche Bedeutung diesem Bericht zukommen könnte, beschreibt Meckel mit folgenden Worten: „Nur wenn es uns gelingt, die uns prägende Vergangenheit bewußt zu machen, sie aufzuarbeiten und mit ihren Folgen angemessen umzugehen, werden wir nicht zu Gefangenen unserer Geschichte, sondern werden den Blick freibekommen für die großen Aufgaben, die vor uns liegen.“ In der Tat dürfte ein freier Blick für die zukünftigen Aufgaben vonnöten sein. Um so besser, wenn er durch eine redliche Befassung mit der Vergangenheit, nicht nur der DDR-Vergangenheit, begünstigt wird. Derzeit wird vor allem im Zusammenhang mit den Diskussionen und dem eher verdunkelnden als erhellenden Gerede um die Nation noch nicht klar, ob die historische Chance genutzt werden und eine wirkliche Vereinigung gelingen kann. Allzu häufig kommt einem die Diskussion über die „nationale Frage“ vor wie das berühmte Pfeifen im Wald.
Ulrich Hausmann schreibt im März-Heft der Blätter für deutsche und internationale Politik einmal mehr über die Intellektuellen und die nationale Frage. Er ortet dabei den
Versuch einer „Sinngebung des Sinnlosen“ und sagt: „Politisch sinnvoll von einem ,gesunden‘ Patriotismus reden können wird man erst dann, wenn man in sagen wir zehn bis zwanzig Jahren feststellen kann, daß die Vereinigung der beiden deutschen Staaten wohl die Demokratie und die liberale Ordnung der Gesellschaft auf eine große Bewährungsprobe gestellt hat, aber daß diese daraus unbeschädigt hervorgegangen ist.“ Bis dahin werden wir zufrieden sein müssen, die „Verfahrensdemokratie“ bewahren und mit ihrer Hilfe den neuen, gesamtdeutschen Rechts- und Sozialstaat entwickeln zu können. Jedenfalls warnt Hausmann vor den voreiligen neuen Sinnstiftungen, die den ungeklärten Begriff des Nationalen suggerieren und damit mehr Schaden anrichten als nützen können. Und mit Blick auf das bei vielen Intellektuellen notorisch vorhandene Bedürfnis, Utopien, Theorien und Konzeptionen im selbstverordneten Dienst an der Gesellschaft zu entwickeln, die Menschen also zu beglücken, ob sie wollen oder nicht, schreibt er: „Nachdem das Pulver des Utopismus, des Marxismus und der Kritischen Theorie naß geworden ist, nachdem bestimmte Grundannahmen des Liberalismus nicht mehr so einfach … beiseite geschoben werden können, gibt es nicht mehr so viele Ansatzpunkte für Theorie mit Anspruch auf kollektive Verbindlichkeit zur Begründung des allgemeinen Glücks.“
Von der Utopie und der kapitalistischen Zukunft
Was die Utopie betrifft, so nimmt Niklas Luhmann zu ihr im März-Heft des Merkur – Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken eine ganz andere Position ein als etwa Ulrich Hausmann. Er setzt Kapitalismus und Utopie, die beiden einander eigentlich ganz fremden Begriffe, in eine Beziehung zueinander und findet heraus, daß dem ausdifferenzierten Prozeß der Wirtschaft gegenüber, dem Kapitalismus also, der alle gesellschaftliche Entwicklung wenn nicht beherrscht, so doch in höchstem Maße beeinflußt, die Utopie das Spiel der Politik ist, mit dessen Blendwerk sie zu verbergen sucht, daß auch sie letztlich den Gesetzen des ausdifferenzierten Wirtschaftssystems unterliegt. Wie nun gehen beide, Kapitalismus und Utopie, aber dennoch zusammen? „Die Politische Utopie, die ein Zusammenleben von politischem System und Wirtschaftssystem unter der Bedingung funktionaler Differenzierung ermöglicht, hat den Namen ,soziale Marktwirtschaft‘.“ Bei diesem Namen handelt es sich zum einen um ein Paradox, denn alle Marktwirtschaft spielt sich in der Gesellschaft ab, ist also implizit sozial; zum anderen aber drückt das Wort sozial eine Art moralischen, sinngebenden Gehalt von Politik aus, „und das kann auch im Sinne des liberalen Freiheitspathos interpretiert werden“. Ist also alles nur Schein, nur eine Vorspiegelung, was die Politik uns zu bieten hat? Kommt Freiheit letzten Endes nur noch als Pathos in den Reden der Politiker vor? Herrscht tatsächlich nur das selbstreferentielle Wirtschaftssystem, dessen Evolution sich autopoietisch vollzieht und das deshalb von der Politik ganz und gar unkalkulierbar ist? Darauf könnte es hinauslaufen, wenn Luhmann diese Konsequenz so auch nicht ausspricht, sondern sich listig der Ironie bedient, um sie nur anzudeuten: „Wie der Geldverlust ausgeglichen und wie der Geldgewinn verwendet wird, entscheidet sich im Wirtschaftssystem. Wie die Darstellung von politischen Wohltaten politisch honoriert wird und durch wen, entscheidet sich im politischen System.“ Die Autopoiesis, das eigenständige Funktionieren also, des Wirtschaftssystems muß, so Luhmann, die Politik letztlich doch akzeptieren, ob sie will oder nicht. Es mag „strukturelle Kopplungen“ geben, mehr aber nicht. So blickt Luhmann denn von der hohen Warte der Wissenschaft nieder auf die eitlen Mühen der Politik und sagt: „Und erfolgreiche, verdeckt-utopische Kommunikation scheint eine der Möglichkeiten zu sein, die dem politischen System bleiben, um sich zu arrangieren.“ In letzter Konsequenz seiner Gedanken müßte er wohl nicht von einer der Möglichkeiten, sondern von der einzigen Möglichkeit sprechen. Schöne Zukunftsaussichten!