Vom liberalen Geist unserer Verfassung – und den Notwendigkeiten ihrer Veränderung

Mit der Verkündung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland haben die Mitglieder des „Parlamentarischen Rates“ 1949, vor mehr als fünfzig Jahren also, einen konsequenten Schlussstrich unter die nationalsozialistische Vergangenheit gezogen und der Bundesrepublik Deutschland das Gesicht eines demokratischen und sozialen Rechtsstaates gegeben.

Gleichzeitig wurden wirkungsvolle Bremsen gegen ein „zweites Weimar“ eingebaut. Die Möglichkeit, die Verfassung mit ihren eigenen Mitteln auszuhebeln, wie es in der Weimarer Republik geschehen war, sollte von vornherein ausgeschlossen werden. Deshalb wurde die Fünf-Prozent-Hürde für den Einzug der Parteien ins Parlament ebenso vorgesehen wie das Erfordernis einer Zweidrittel-Mehrheit für Grundgesetzänderungen und die Zulässigkeit von Volksabstimmungen nur in Sonderfällen.

Auf unser Grundgesetz, an dem namhafte Liberale wie Theodor Heuss und Hermann Höpker-Aschoff maßgeblich mitgewirkt haben, können wir Deutschen zurecht stolz sein. Obwohl es nicht die Frucht eines Freiheitskampf es oder einer Revolution ist und ihm damit die Aura der amerikanischen oder der französischen Verfassung fehlt, ist es die freiheitlichste und ausgewogenste Verfassung, die es jemals in der deutschen Geschichte gegeben hat. Und es ist die zuverlässige Garantie für eine stabile freiheitliche Ordnung. Es knüpft an die Prinzipien liberaler Grundwerte an. Die Würde des Menschen, die Menschenrechte, Freiheit und Gleichbett die Idee der Volkssouveränität stehen im Mittelpunkt. Darauf kann sich jeder Bürger gegenüber den Machtansprüchen jeglicher staatlichen Herrschaft berufen.

Den ersten und wichtigsten Teil unserer Verfassung bilden die Grundrechte. Sie sind an exponierter Stelle, in den ersten 19 Artikeln niedergelegt und garantieren die klassischen Schutzrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat. Der wirksame Schutz der Menschen- und Bürgerrechte ist eine wesentliche Voraussetzung der Legitimität des politischen Systems. Den Grundrechten kommt daher eine überragende Bedeutung zu. Der Grundrechtekatalog der ersten 19 Artikel ist aber nicht abschließend. Andere grundrechtsgleiche Rechte sind an anderer Stelle aufgeführt. So vor allem die Verfahrensgrundrechte des Artikels 101, insbesondere die „Garantie des gesetzlichen Richters“, oder des Artikels 103, der den Rechtsgrundsatz „Keine Strafe ohne Gesetz“ festschreibt.

Die Grundrechte binden die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung. Alle staatliche Gewalt wird als legitim anerkannt, weil und solange sie die grundrechtlich garantierten Rechtsgüter achtet und bewahrt. Im einzelnen unterscheiden wir dabei zwischen den Freiheitsrechten, den Gleichheitsrechten und den Gewährleistungen von Eigentum und Erbrecht.

Als Freiheitsrechte garantiert das Grundgesetz in Artikel 2 das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie auf Freiheit der Person, auf körperliche Bewegungsfreiheit also. Artikel 4 gewährleistet die Glaubens- und Gewissensfreiheit. Aus Gründen des Gewissens darf der Kriegsdienst mit der Waffe verweigert werden. Die Grundvoraussetzungen geistiger Freiheit und der offenen Auseinandersetzung unterschiedlicher Meinungen werden mit dem Schutz der Meinungsfreiheit, Informationsfreiheit und Pressefreiheit sowie der Freiheit von Kunst und Wissenschaft in Artikel 5 garantiert.

In engem Zusammenhang hiermit stehen die Grundrechte der Versammlungsfreiheit und der Vereinigungsfreiheit in Artikel 8 und 9. Auch sie dienen vor allem der freien öffentlichen Meinungsbildung. Spezifische Freiheitsgarantien enthalten die Grundrechte auf Wahrung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses, der Unverletzlichkeit der Wohnung sowie der Freiheit der Berufswahl und Berufsausübung in den Artikeln 10, 12 und 13.

Den Artikel 13, die Unverletzlichkeit der Wohnung, hat der Deutsche Bundestag 1998 geändert, um in Fällen von Verdacht auf schwere kriminelle Handlungen Wohnungen abhören zu können. Diese Änderung war vor allem bei Liberalen und liberal Denkenden durchaus umstritten. Die Freien Demokraten haben sich in einem Mitgliederentscheid mehrheitlich für die Änderung entschieden. Einige liberale Abgeordnete um den damaligen Bundestags-Vizepräsidenten Burkhard Hirsch haben im Parlament allerdings dagegen gestimmt, weil sie es mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren konnten, Gefährdungen oder Einschränkungen der Bürgerfreiheit zuzulassen, die sich aus dieser Änderung ergeben könnten.

In den Artikeln 11, 16 und 17 sind die Grundrechte der Freizügigkeit, des Schutzes vor Auslieferung, des Asylrechts und des Petitionsrechts gewährleistet. Auch zum Asylrecht hat es in der Bundesrepublik eine kontroverse Diskussion gegeben, bevor der Bundestag – eher der Not als innerer Überzeugung gehorchend – im Jahre 1993 den Artikel 16a eingefügt hat, der das Asylrecht an bestimmte Voraussetzungen bindet, es aber als Individualrecht beibehält. bindet, es aber als Individualrecht beibehält. Es wird zukünftig unumgänglich sein; auf der Ebene der Europäischen Union ein einheitliches Asylrecht zu schaffen, um der recht unterschiedlichen Praxis, die derzeit in Europa geübt wird, zu begegnen und die Europäische Union auch in diesem wichtigen Bereich zu einem homogenen rechtlichen Raum werden zu lassen.

Über die speziellen Freiheitsgarantien hinaus gewährleistet der Artikel 2 im Absatz 1 die „allgemeine Handlungsfreiheit“ in einem umfassenden Sinne und das „allgemeine Persönlichkeitsrecht“, das vor allem die Privatsphäre schützt. Alle diese Grundrechte verbieten dem Staat nicht nur, sie zu verletzen, sondern sie verpflichten ihn auch, sich schützend und fördernd vor seine Bürger und Bürgerinnen zu stellen und sie insbesondere vor rechtswidrigen Eingriffen von seiten anderer zu bewahren.

Neben den Freiheitsrechten stehen die Gleichheitsgrundrechte. Aus dem fundamentalen Menschenrechtsgrundsatz der Gleichheit aller Menschen folgt das Verbot jeder Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, der Abstammung, der Rasse, der Sprache, der Heimat und Herkunft, des Glaubens oder der religiösen und politischen Anschauungen. In demselben Artikel, Artikel 3 nämlich, ist die Gleichberechtigung von Mann und Frau gewährleistet.

Der allgemeine Gleichheitssatz des Artikels 3, Absatz 1 normiert den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz, also die Verpflichtung des Staates zur ausnahmslosen Verwirklichung des geltenden Rechts ohne Ansehen der Person. Auch der Gesetzgeber ist an die Grundrechte gebunden. Er muss daher wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich behandeln, darf also nicht mit zweierlei Maß messen. Der Gesetzgeber verletzt dieses Gebot, wenn er ohne vernünftigen Grund, und damit willkürlich, Differenzierungen oder Gleichsetzungen vornimmt.

Alle staatlichen Entscheidungen müssen die Grundrechte jedes einzelnen Bürgers respektieren. Wo Grundrechte gelten und soweit sie gelten, entscheidet nicht die Mehrheit, sondern der Einzelne. Entscheidungen auch des Gesetzgebers, welche die durch die Grundrechte seiner Gestaltung entzogenen Grenzen überschreiten, sind verfassungswidrig. Grundrechte stellen dem Einzelnen nicht nur einen staatsfreien Raum zur Verfügung, in dem er selbst sein Verhalten bestimmen kann, sondern er kann durch die Ausübung des Grundrechts auch seinerseits in den staatlichen Raum einwirken. So wird die Ausübung der Meinungsfreiheit oder die Berufung auf das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung ohne Rücksicht auf die Folgen geschützt, die sich hieraus für die Allgemeinheit ergeben.

In der demokratischen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland ist der Einzelne weder Untertan noch Objekt eines Kollektivs. Er hat die Möglichkeit, durch die Beteiligung an Wahlen an den ihn betreffenden Entscheidungen mitzuwirken und einen Wechsel der politischen Führung zu erreichen. Die freiheitliche Demokratie des Grundgesetzes verleiht Herrschaft nur auf Zeit. Das Mandat im Deutschen Bundestag muss alle vier Jahre erneuert werden. Wird ein Abgeordneter nicht wiedergewählt, so verliert er Amt und Legitimation. Verliert seine Partei oder ein Parteienbündnis die Mehrheit, so büßen sie die Macht ein.

Die parlamentarischen Mehrheitsentscheidungen sind für alle dem Recht Unterworfenen verbindlich, sofern sie nicht gegen Verfassungsrecht verstoßen und durch das Bundesverfassungsgericht korrigiert werden. Auch bei den Anhängern der in der Minderheit gebliebenen Meinung wird Einsicht in die Notwendigkeit einer für alle verbindlichen Ordnung vorausgesetzt. Diese Einsicht beruht aber darauf, dass sie ihrerseits eine reale Chance haben, im Lauf der Zeit selbst die Mehrheit bilden zu können. So soll der Versteinerung und Verharzung von Machtstrukturen entgegengewirkt werden, und es wird die Möglichkeit der Korrektur politischer Entscheidungen eröffnet. Die politische Entwicklung seit 1949 zeigt, dass diese Erwartungen nicht unrealistisch sind. Auch die gegen die Bildung vieler Splitterparteien nach den Erfahrungen der Weimarer Zeit eingeführte Fünfprozentklausel im Wahlrecht hat entgegen manchen Befürchtungen den politischen Machtwechsel und das Entstehen neuer Parteien nicht verhindert. Ein Liberaler, der sich angesichts der Bedrohung, die für die Freien Demokraten mit der Fünf-Prozent-Klausel verbunden ist, skeptisch dazu stellen könnte, muss trotz allem ihre Wirksamkeit anerkennen.

Ohne sie im einzelnen näher zu erläutern, seien die weiteren Prinzipien, denen unser Grundgesetz folgt, wenigstens erwähnt. Das Rechtsstaatsprinzip bietet dem Einzelnen und der Gesellschaft Rechtssicherheit und Vertrauensschutz. Es gewährleistet den Vorrang der Verfassung und bindet vollziehende Gewalt und Rechtsprechung an Gesetz und Recht. Es ist Ausdruck und Konsequenz des Demokratieprinzips, das die Volkssouveränität, das Mehrheitsprinzip und die Legitimation auf Zeit umfasst. Ebenfalls durch das Rechtsstaatsprinzip gesichert ist die Gewaltenteilung in Gesetzgebung, Exekutive und Rechtsprechung. Ausdruck der Gewaltenteilung ist aber auch die bundesstaatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, die mit der Verteilung der Staatsgewalt auf Bund und Länder, dem sogenannten Föderalismusprinzip, einer Zentralisierung staatlicher Macht entgegenwirkt. So soll sie allen staatlichen Machthunger mäßigen und die individuelle Freiheit schützen. Auf den Föderalismus wird unten eigens einzugehen sein, denn er ist dringend reformbedürftig.

Schließlich schreibt die Verfassung das Sozialstaatsprinzip fest. Zusammen mit der Grundnorm des Schutzes der Menschenwürde und dem föderalistischen Prinzip macht es das unveränderbare Fundament der Verfassungsordnung aus. Über Inhalt und Bedeutung der Sozialstaatsklausel in Artikel 20 des Grundgesetzes bestanden und bestehen viele Meinungsverschiedenheiten. Als allgemein anertkannt die Auffassung gelten, dass mit ihr verfassungsrechtlich verbindlich ein sogenanntes „Staatsziel“ festgelegt worden ist: Der Staat ist zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit verpflichtet. Das Menschenbild des Grundgesetzes sieht den Einzelnen nicht als ein isoliertes, souveränes Wesen, sondern als in die Gemeinschaft eingebundenen Bürger. zugleich aber kommt ihm ein unantastbarer Eigenwert zu. Es wäre mit diesem Menschenbild unvereinbar, wenn Freiheit und Würde nur dem sozial und wirtschaftlich Mächtigen zukämen, der sich aus eigener Kraft und zu Lasten anderer durchsetzen kann.

Aus dem Sozialstaatsprinzip folgt die verfassungsrechtliche Aufgabe und Legitimation des Staates zu sozialer Aktivität, um einen Ausgleich der widerstreitenden Interessen sowie wenigstens erträgliche Lebensbedingungen für Notleidende und sozial Schwache herbeizuführen. Der Staat soll daher gleiche soziale (Start-)Chancen für seine Bürger mit dem Ziel der Freiheit für alle herbeiführen. Bei der Verwirklichung dieser Zielsetzung hat aber der Staat einen breiten Beurteilungsspielraum. Es ist im wesentlichen Aufgabe der politischen Entscheidung des Gesetzgebers, auf welche Weise und nach welchen Prioritäten er das Sozialstaatsprinzip verwirklicht. Jedoch bleibt die Erfüllung dieser Aufgabe ständige Verpflichtung des Staates und daher Grundlage und Voraussetzung seiner Legitimation.

Die tragenden Verfassungsgrundsätze der Achtung der Menschenwürde, des Freiheitlichen Gemeinwesens, der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Sozialstaatlichkeit und der Bundesstaatlichkeit werden durch die Staatsorganisation abgesichert. Sie definiert die Zuständigkeiten und die Verantwortung und ermöglicht die Kontrolle der Machtausübung. Verfassungsorgane sind der Deutsche Bundestag, der Bundesrat, der Bundespräsident, die Bundesregierung und das Bundesverfassungsgericht. Von grundlegender Bedeutung ist die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern.

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Bundesstaat. Ihr föderalistischer Charakter entspricht einer langen Tradition in Deutschland. Für die Zeit nach 1949 ergibt sich sein Sinn aus der Erkenntnis, dass die Aufteilung und Abgrenzung der staatlichen Macht auf den Bund und auf die zunächst elf, seit der Wiedervereinigung nunmehr sechzehn Bundesländer eine größere freiheitssichernde Funktion hat als die Konzentration der Macht auf eine Zentrale. Wichtig ist auch, dass die politischen Parteien, die sich im Bund in der Minderheit befinden, in einem Teil der Länder selbst politische Verantwortung tragen und so in die Gesamtverantwortung eingebunden bleiben.

Leider sind im Laufe der Jahre durch mehrfache Grundgesetzänderungen dem Bund auf vielen wichtigen Sachgebieten ursprüngliche Länderzuständigkeiten übertragen worden. Dadurch und durch einen nicht mehr zeitgemäßen Länderfinanzausgleich, der zum Zwecke der Herstellung gleicher Lebensverhältnisse den ärmeren Ländern Gelder der reicheren zufließen lässt, ist inzwischen eine wettbewerbsfeindliche Situation entstanden, die den ohnehin fragilen Standort Deutschland im internationalen Vergleich weiter schwächt. Es ist ganz zwangsläufig, dass jemand, der sowieso mit dem Ausgleich eines erwirtschafteten Defizits rechnen kann, allenfalls einen marginalen Anreiz hat, sich selbst zu helfen. Deshalb müssen wir in Deutschland sowohl über eine Neugliederung der Länder als auch über die Rückkehr zu einem wettbewerbsorientierten Föderalismus zu einer Situation finden, die Defizite effektiver beseitigen kann und unsere internationale Konkurrenzfähigkeit verbessert.

Unsere Verfassung muss zu einer echt föderalistischen Verfassung umgebaut werden. Für Bundesgesetze muss das Zustimmungserfordernis des Bundesrates abgeschafft werden, so dass es allein auf die Bundestagsmehrheit ankommt. Das setzt voraus, dass den Ländern zumindest im fiskalischem Bereich Unabhängigkeit von den Beschlüssen des Bundestages verschafft wird. Die Steuern, die den Bund finanzieren, müssen getrennt sein von den Steuern, die die Länder finanzieren. Die Bundessteuern fallen dann in die Zuständigkeit des Bundestages, die Landessteuern in die der einzelnen Länderparlamente. Nach diesem Prinzip der fiskalischen Trennung verfahren echt föderalistische Staaten wie die USA und die Schweiz.

Ein kluger Volkswirtschaftsprofessor, Carl Christian von Weizsäcker, hat unsere derzeitige Situation einmal wie folgt beschrieben: „Der Pseudoföderalismus der deutschen Verfassung ist in Wirklichkeit eine zentralistische Struktur mit der Besonderheit eines im Namen des Föderalismus agierenden Blockiersystems in der Hand der jeweiligen Opposition.“ Von dieser Struktur und dem mit ihr verbundenen, wettbewerbsfeindlichen Finanzausgleich gilt es loszukommen. Natürlich wäre das mit erheblichen Änderungen der entsprechenden Grundgesetzartikel verbunden, für die jeweils eine Zweidrittel-Mehrheit notwendig wäre. Es ist zu bezweifeln, ob dies vor allem bei der derzeitigen Regierung, aber auch bei anderen Mehrheiten im Parlament kurz- und mittelfristig gelingen kann. Jedenfalls erfordert es das einem Liberalen keineswegs fremde „geduldige Bohren dikker Bretter“.

Nichtsdestoweniger stehen wir vor der Notwendigkeit, diese Aufgabe anzupacken. Wegen der Zustimmungspflichtigkeit aller Gesetze, die die Länder betreffen, haben wir in Deutschland inzwischen leider eine schwerfällige Konsensdemokratie etabliert. Wichtige Gesetze können praktisch nur mit Zustimmung der beiden großen Parteien beschlossen werden. Zum Glück, mag man sagen, wenn man bedenkt, dass vor der letzten Landtagswahl in Hessen die jetzige Regierung auch im Bundesrat die Mehrheit hatte. Mit ihr wurde die problematische Steuerpolitik abgesegnet, die uns an einem zügigeren Abbau der Arbeitslosigkeit hindert. Dieser Zustand ist jetzt zwar beendet, die Bundesregierung kann seit der neuen christlich-liberalen Koalition in Hessen nicht mehr schalten und walten wie sie will, aber das Konsens-Problem besteht fort. Die Konsensdemokratie ist in der Verfassung vorgegeben und kann nur durch eine Verfassungsänderung reformiert werden.

Der Zwang zum Konsens bewirkt in normalen Zeiten die Unfähigkeit zur Veränderung. Wenn man hohe qualifizierte Mehrheiten zur Gesetzesänderung benötigt, dann bleibt es meist beim status quo. Deutschland ist wegen seiner Verfassung zu einem extrem konservativen Staat geworden. Die Welt aber ändert sich immer rascher. Mit diesem Prozess tut sich die Bundesrepublik zunehmend schwer. Die Unfähigkeit zur Veränderung – durch das, was die Regierung jüngst Steuerreform genannt hat, eindrucksvoll dargelegt – wird mehr und mehr zu einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Belastung. Mit dem Konsensgedanken wird das Grundprinzip der Demokratie falsch erfasst. Die Welt ist zu komplex, der Handlungsdruck zu groß, als dass man in einer modernen Gesellschaft mit Veränderungen warten könnte, bis ein Konsens hergestellt ist. Deshalb muss unser schwerfälliges föderales System so umgebaut werden, dass Bund und Länder sich nicht gegenseitig behindern und dass zwischen den einzelnen Ländern ein leistungsfördernder Wettbewerb entsteht statt eines leistungshemmenden Finanzausgleichs. Im übrigen führt das auch zu klaren Verantwortlichkeiten für politische Entscheidungen, die der Wähler dann bewerten und ihnen zustimmen oder die Verantwortlichen abwählen kann.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Es geht nicht darum, die erforderliche Zweidrittelmehrheit im Bundestag bei der Änderung von Grundgesetzartikeln zu beseitigen, es geht lediglich darum, die föderale Struktur der Republik so zu verbessern, dass ein kompetitives System an die Stelle des schwerfälligen Konsenssystems tritt.

Damit die Forderung nach einer Neuordnung der föderalen Struktur kein blutleerer Appell bleibt, hat eine Gruppe von Fachleuten in der Friedrich-Naumann-Stiftung unter Vorsitz von Otto Graf Lambsdorff ein Konzept erarbeitet, das Wege aufzeigt, wie dies sinnvoller Weise in Etappen geschehen könnte. Zwar mögen die politischen Voraussetzungen in der Bundesrepublik derzeit nicht gerade ideal sein für die Umsetzung eines solchen Konzeptes, jedoch ändert das nichts an der Notwendigkeit einer Modernisierung unserer föderalen Struktur. Das Thema wird deshalb auf der Tagesordnung bleiben, ganz gleichgültig, mit welcher Intensität es politisch vorangebracht wird.

Ein besonderer Aspekt unseres Grundgesetzes wurde vor nun schon mehr als zehn Jahren virulent, die rechtliche Problematik der deutschen Wiedervereinigung nämlich. Der Einigungsprozess, mit dem kaum jemand gerechnet hatte, hat die seit den siebziger Jahren eingeschlafene Diskussion um eine Verfassungsreform wieder angeregt. Zuerst in der Debatte darüber, ob die Einigung gemäß Artikel 146 vonstatten gehen sollte, das heißt mithilfe einer durch Volksabstimmung beschlossenen neuen Verfassung. Die damalige christlich-liberale Regierungskoalition präferierte die Erhaltung des Bewährten; die damalige rot-grüne Opposition wollte in ihrer Mehrheit weit-reichende Reformen und einen inneren Einigungsprozess der die Legitimität einer neuen Verfassung durch eine Volksabstimmung zum Ziel hatte. Die Regierungsparteien setzten sich durch und beschritten den im früheren Artikel 23 vorgesehenen Weg zur Einigung. Danach war das Grundgesetz in seiner bisherigen Form nach dem Beitritt der neuen fünf Länder zur Bundesrepublik vom Bundestag in Kraft zu setzen. Im Einigungsvertrag und in der Neufassung des Artikels 146 wurde jedoch die Möglichkeit (manche sprechen nicht ohne eine gewisse Plausibilität von einer Notwendigkeit) einer späteren Reform beibehalten.

Die Wiedervereinigung und die damit verbundene Verfassungsdiskussion hat wie kein anderes Ereignis seit Kriegsende die Verhältnisse in Deutschland beeinflusst. Sie bedeutete den tiefsten und auch den positivsten Einschnitt in die Geschichte der Bundesrepublik. Gleichwohl waren es weniger die deutsch-deutschen Ereignisse, die eine Verfassungsreform unabdingbar machten, als vielmehr die europapolitischen Entwicklungen und die durch den Zwei-plus-vier-Vertrag völlig neue deutsche Rolle als souveräner Staat in der internationalen Staatengemeinschaft. Die eigentliche Triebfeder der Verfassungsreform waren die durch den Vertrag von Maastricht notwendig gewordenen Grundgesetzänderungen, deren Tragweite und Bedeutung uns erst allmählich bewusst wurde. Man möchte fast sagen: Erst durch die Einführung des Euro ist manchen in Deutschland klar geworden, dass Europa nach Maastricht unumkehrbar in eine qualitativ neue, auf eine gemeinsame Zukunft gerichtete Phase seiner Entwicklung eingetreten ist. Und dies wiederum wurde vollends offenbar durch den von vielen als Verlust empfundenen Wegfall der harten D-Mark.

Als Ergebnis des deutsch-deutschen Einigungsvertrages wurde im November 1991 eine gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat eingesetzt. Ihr Themenkatalog umspannte im wesentlichen drei Fragenkreise: Ältere Reformvorhaben aus den siebziger und achtziger Jahren, vereinigungsbedingte Erfordernisse und das Zusammenwachsen Europas. Weil die zur Beschlussfassung notwendige Zweidrittelmehrheit wiederum den Konsens der großen Parteien erforderte, gingen aus der Kommission nur wenige Empfehlungen zur Änderung des Grundgesetzes hervor. Zudem überschattete die Diskussion um das Asylrecht und um die Blauheimeinsätze die Arbeit der Kommission.

Schließlich blieb das wichtigste Ergebnis der Verfassungsreformprozedur die Verabschiedung des neuen Europa-Artikels 23, der an die Stelle des nunmehr überflüssigen Artikels über den Gestaltungsbereich des Grundgesetzes trat. Im Ausland ist diese Platzierung des Maastricht-Artikels nach der gelungenen Wiedervereinigung häufig als eine Geste gewürdigt worden, die zeigen sollte: Das größer und wichtiger gewordene Deutschland hat seinen festen Ort im Verbund der Europäischen Union und bedroht niemanden. Alten Ängsten deutscher Nachbarn und anderer Skeptiker deutscher Friedfertigkeit sollte und konnte damit wenigstens zum Teil begegnet werden.

Die Verfassungsreform bietet ein gutes Beispiel für das schwerfällige Wirken der Konsensmaschinerie in der deutschen Politik. Allzu oft bleibt nichts anderes übrig, als widerstrebend den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Beteiligten zu akzeptieren, mit dem keine Partei wirklich zufrieden ist. Der große Wurf gelingt auf diese Art meist nicht.

Trauer über eine „gescheiterte Reform“ oder eine „verpasste Chance“, von der manche seinerzeit sprachen, ist aber an dieser Stelle dennoch unangebracht; jedenfalls aus der Sicht eines Liberalen. Nicht, weil keine Veränderungen nötig gewesen wären, sondern weil das Gros der vorgeschlagenen Änderungen keineswegs als Fortschritte gewertet werden konnte. Die Aufnahme von sozialen Staatszielen in das Grundgesetz, wie zum Beispiel des Rechtes auf Arbeit – was von der damaligen Opposition angestrebt wurde – hätte eine weitere Stärkung längst überholter, untauglicher Konzepte bedeutet. Der Wohlfahrts- und Versorgungsstaat von gestern wäre befestigt und zentralstaatliche Tendenzen wären fortgeschrieben worden, was auch auf eine weitere Schwächung der Länder hinausgelaufen wäre. Es kommt aber gerade im europäischen Zusammenhang darauf an, die föderale Struktur und ihre Stärken im oben genannten Sinne zu befördern und die Länder mit neuen Kompetenzen auszustatten. Statt sie in das Grundgesetz aufzunehmen, hat man in alle fünf Landesverfassungen der Neuen Länder soziale Staatsziele aufgenommen, auch das Recht auf Arbeit.

Ich gestatte mir dazu anmerken, dass es sich dabei um nichts weiter als um deklamatorische Akte handelt. Denn es wäre doch widersinnig, wenn ein freiheitlicher und demokratischer Staat, um das Recht auf Arbeit zu realisieren, seinen Bürgern Art und Ort ihrer bezahlten Tätigkeit vorschreiben wollte. Nur so aber ließe sich ein solches Recht verwirklichen. Versteht man unter Staatsziel indessen nur die Verpflichtung des Staates, sein Bestreben darauf zu richten, daß möglichst alle Arbeit finden können, ohne daß er dirigistisch eingreift, so gibt unser Grundgesetz eine solche Verpflichtung ohnehin durch sein Sozialstaatsprinzip vor. In diesem Falle ist eine zusätzliche Aufnahme sozialer Staatsziele überflüssig.

Insgesamt jedoch kann man nach mehr als fünfzig Jahren und auch nach den Erfahrungen mit dem deutschen Einigungsprozess durchaus eine positive Bilanz ziehen, was die Wirksamkeit des Grundgesetzes betrifft. Schon zweimal ist in Deutschland der Versuch gescheitert, dem Staat eine Verfassung zu geben. 1848/49 mussten die Abgeordneten der Frankfurter Paulskirche gegenüber den Ansprüchen des übermächtigen Feudalismus kapitulieren, und 1933 verlor die Weimarer Verfassung aufgrund der nationalsozialistischen Diktatur ihre Wirksamkeit. Die Deutschen hatten sich ohnehin schwer getan, die Republik als Staatsform zu akzeptieren; zu stark waren die tragenden Schichten des Volkes noch mit der Tradition des Kaiserreiches verbunden. Erst 1949, als die Alliierten dem besiegten Deutschland die Chance dazu einräumten, wurde diese Chance wirklich ergriffen. Nunmehr, nach mehr als fünf Jahrzehnten Gültigkeit des Grundgesetzes, ist ein allgemeiner Konsens in Deutschland festzustellen. Das Grundgesetz wird von der großen Mehrheit der Bevölkerung als die geeignete Verfassung anerkannt, die uns eine liberale Ordnung, das heißt Freiheit und Wohlstand, sichern kann.

An skeptischen Einschätzungen freilich hat es im Laufe der Jahre nicht gefehlt. Aber schon 1956, in seiner Verbotsentscheidung der Kommunistischen Partei Deutschlands, hat das Bundesverfassungsgericht die Legitimität des Grundgesetzes in überzeugender Weise dargelegt. Was die Verfassungsrichter damals formulierten, gilt bis heute. Die wichtigsten Sätze seien deshalb zitiert:

„Die Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland ist legitim. Sie ist es nicht nur deshalb, weil sie auf demokratische Weise zustande gekommen und seit ihrem Bestehen immer wieder in freien Wahlen vom Volke bestätigt worden ist. Sie ist es vor allem, weil sie – nicht notwendig in allen Einzelheiten, aber dem Grundsatze nach – Ausdruck der sozialen und politischen Gedankenwelt ist, die dem gegenwärtig erreichten kulturellen Zustand des deutschen Volkes entspricht. Sie beruht auf einer ungebrochenen Tradition, die – aus älteren Quellen gespeist – von den großen Staatsphilosophen der Aufklärung über die bürgerliche Revolution zu der liberal-rechtsstaatlichen Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts geführt und der sie selbst das Prinzip des Sozialstaates, d.h. das Prinzip der sozialen Verpflichtung hinzugefügt hat. Die sich hieraus ergebenden Wertsetzungen werden von der übergroßen Mehrheit des deutschen Volkes aus voller Überzeugung bejaht. Hieraus erwächst dieser Ordnung die innere Verbindlichkeit, die das Wesen der Legitimität ausmacht.“

Besser kann man es wohl kaum formulieren. Denn jede Verfassung, jeder rechtliche Rahmen bleibt nur formal und realitätsfern, wenn die Bürger des Staates ihn nicht zu ihrer Sache machen. Dies zu tun, ist aber eine dauernde Aufgabe. Auch heute noch gilt, was Theodor Heuss, unser erster Bundespräsident, zum Verhältnis von Bürger und Recht gesagt hat: „Niemand ist dem heutigen Rechtsstaat abträglicher als ein scheuer Untertan, der Unrecht geschehen läßt und lammfromm erleidet. Da das Recht nicht wie frische Brötchen ins Haus getragen wird, muß es von jedermann mutig und verantwortungsbewußt erkämpft werden.“