Eine dicke Autobiografie hatte Ralf Dahrendorf geschrieben, die ihm dann doch nicht behagte. Deshalb legte er sie beiseite und veröffentlichte stattdessen seine Lebenserinnerungen mit dem Titel Über Grenzen. Neben einem Prolog und einem Epilog sind das 22 Geschichten, die der Autor über mehr oder weniger denkwürdige Ereignisse und Passagen seines Lebens erzählt. Sie sind überaus kurzweilig zu lesen, immer informativ und meist lehrreich. Was Dahrendorf über die Tugenden eines seiner vielen internationale Freunde sagt, des amerikanischen Historikers Fritz Stern, trifft auch auf sein eigenes Buch, ja, auf sein gesamtes schriftstellerisches Lebenswerk zu: Eine „geglückte Verbindung von gründlicher Forschung, analytischem Scharfsinn und literarischem Stil“. Es geht in seinen Geschichten aber nicht nur um den Wissenschaftler und Schriftsteller Dahrendorf, es geht vor allem um Erfahrungen, deren Lehren seinem Leben einen unverkennbaren Stempel aufgedrückt haben den des Weltkindes in der Mitten. In seinen eigenen Worten: „Dieser Autor ist nicht nur entschieden ein Kind dieser Welt, sondern sieht sein Tun auch in einer höchst aktiven Mitte.“
Was Dahrendorf unter dieser Mitte versteht, hat er in seinen zahlreichen Bücher dargelegt. Was immer Thema dieser Bücher war, eines war bei aller Wissenschaftlichkeit niemals zu übersehen: Die entschiedene Wendung gegen jede Form von Totalitarismus. Das Fundament für diese klare Position wurde schon sehr früh gelegt, in den Erfahrungen des Jugendlichen mit dem mörderischen Nazi-Regime. Darüber und über die Rolle seines Vaters im Widerstand schreib Dahrendorf die prägnantesten Geschichten seines Buches. Die Zeit danach, als er zielstrebig seine akademische Ausbildung und die berufliche Karriere betrieb, erschein demgegenüber geradezu idyllisch. Vor allem aber wurde sie zu einer Erfolgsgeschichte von internationalem Zuschnitt.
Mit 28 Jahren, kurz vor seiner Habilitation, habe er seine „Achsenzeit“ erreicht, so der Autor. Er habe sein Lebensthema gefunden, „Sozialwissenschaft und Werturteil“ nämlich, und von hier aus habe er eine Art umgekehrter „Sternfahrt zur Freiheit“ angetreten. Auf Wegen, die vor dem 29. Geburtstag alle schon ein Stück weit beschritten worden waren und nun zu vielen Zielen führten. Was immer die Ziele waren, die Wege gingen stets „über Grenzen“, sowohl im geographischen als auch im intellektuellen und im politischen Sinn: Von Deutschland ging er nach Italien, in die USA und nach England; von der Philosophie aus wandte Dahrendorf sich einer wirklicheren Wissenschaft zu, der Soziologie; und der junge Sozialist wurde nach seinem ersten Aufenthalt an der London School of Economics and Political Science zum überzeugten Liberalen; der Wissenschaftler wandte sich später für einige Jahre der Politik zu, um dann zur Wissenschaft zurückzukehren – als Direktor der London School, an der er ehedem studiert hatte. Zehn Jahre blieb er dort, um nach einem fünfjährigen Intermezzo in Deutschland dann die Leitung des St. Antony’s College in Oxford zu übernehmen.
Indessen führten seine vielfältigen Wege über Grenzen nicht dazu, daß er Grenzen nicht mehr für nötig hielte, ganz im Gegenteil: „Eine Welt ohne Grenzen ist eine Wüste; eine Welt mit geschlossenen Grenzen ist ein Gefängnis; die Freiheit gedeiht in einer Welt offener Grenzen.“ Später, als die Diskussion um das Wiederaufleben des Nationalismus virulent wurde, nach der Wendezeit von 1989/90, schrieb Dahrendorf eines seiner besten Bücher: Über die Revolution in Europa. Wieder ging es um die Überwindung einer Grenze, diesmal der Grenze zwischen Ost und West. Dahrendorf prägte den Begriff des heterogenen Nationalstaates, dessen Grenzen zwar einen guten Sinn haben, aber nur solange sie offen sind und Bürger anderer Nationen nicht ausschließen.
Ein Name taucht in all seinen Büchern auf, wenn es um die grundlegenden Orientierungen Dahrendorfs geht, auch in seinem neuen: Karl Popper. Dessen Theorie der Offenen Gesellschaft wurde schon in den fünfziger Jahren, als er Popper in London kennenlernte, zum Mittelpunkt seines späteren Denkens. „Der Kern der Popperschen Position fand bei mir ein unmittelbares Echo. Wir leben in einer Welt der Ungewißheit. Niemand weiß genau, was wahr und was gut ist. Darum müssen wir immer neue und bessere Antworten suchen. Das geht aber nur, wenn Versuch und Irrtum erlaubt sind, ja, ermutigt werden, also in einer offenen Gesellschaft. Sie wenn nötig zu verteidigen und sie jederzeit zu entwickeln, ist daher die erste Aufgabe.“ Es sind die „Erasmus-Menschen“, wie Dahrendorf sie nennt, die zu allen Zeiten dafür gesorgt haben, daß Gesellschaft und Denken offen blieben, daß Ideologien jeglicher Färbung radikal in Frage gestellt wurden. Dahrendorf hat sich in seinen jungen Jahren intensiv mit Karl Marx beschäftigt und kommt zu der Erkenntnis: „Im Marxschen Gedanken der historischen Notwendigkeit liegt nicht nur die religiös anmutende Eschatologie der kommunistischen Gesellschaft begründet, sondern auch der Totalitarismus des Weges durch die ,Diktatur des Proletariats‘.“ Folgerichtig wandte er sich ab von sozialistischen Vorstellungen, um fortan als Liberaler seinen Weg zu gehen. Freilich als einer, dem es nicht auf die Partei, sondern auf die politische Position ankam. So blieb es bis zum heutigen Tage, an dem Lord Dahrendorf als Baron of Clare Market in the City of Westminster im britischen Oberhaus sitzt. Von der Förmlichkeit dieses Titels sollte man sich indessen nicht täuschen lassen, denn: „Die Förmlichkeit ist bis heute mein Stil geblieben; sie macht es so viel leichter, die innere Aufsässigkeit zu verbergen.“