Von der ortlosen Freiheit

Folgt man Richard Herzinger, so ist die Frage nach der Freiheit, die seit Menschengedenken im Zentrum politischer, theologischer, philosophischer und ästhetischer Theorien steht, unter den Prämissen der (post-)modernen, offenen Gesellschaft gar nicht mehr beantwortungsbedürftig; jedenfalls nicht vom Grundsätzlichen her. Denn: „Die offene Gesellschaft ist nichts als das Bekenntnis zu einer offen bleibenden Frage: Wie das gesellschaftliche Zusammenleben in größtmöglicher Selbstbestimmung aller Individuen unter Einhaltung eines zivilen Regelwerkes weitgehend gerecht und friedlich zu organisieren sei“ (Seite 30). Offen bleiben darf also getrost die Frage, mit welchem gesellschaftlichen Kitt das Gemeinwesen zusammengehalten werden soll. Über das Minimum verfassungsrechtlich geregelter Rahmenbedingungen hinaus bedarf es keines kulturellen oder zivilen Konsenses, dem sich die Menschen verpflichten müßten. Das alte, gerade deutschem Denken generationenschwer innewohnende Wort vom identitätsstiftenden Kulturgut hat mehr und mehr von seinem Gewicht verloren und den Weg in eine liberale Gesellschaft freigegeben, der das Bedürfnis nach Sinngebung des gemeinschaftlichen Lebens allmählich (zum Glück) abhanden kommt. Transzendenz und Metaphysik sind nicht mehr gefragt, jedenfalls nicht mehr in bezug auf die Sphäre des Öffentlichen. Auch die Fragen des Nationalstaates und der Zugehörigkeit zu mehr oder weniger gewachsenen Nationen relativieren sich angesichts dieser Entwicklung: „Das Freiheitsangebot liberaler Gesellschaften zielt dagegen darauf, verhärtete ethnische Kollektive in selbständige Individuen aufzulösen und diese zu gleichberechtigten Teilnehmern am freien Markt der Möglichkeiten einer offenen Konkurrenzgesellschaft zu machen“ (Seite 36).

 Insofern bedürfen wir keiner Mitte mehr, um die wir uns scharen wie die Wölfe um das wärmende Feuer. Und Wölfe zu sein, wie es noch Hobbes seinem Menschenbild zugrunde legte und wie es auch, in abgeschwächter Form, Immanuel Kant für zuträglich hielt, verlernen wir im Pluralismus der konsumorientierten Wettbewerbsgesellschaft, die vom Grundsatz her Lage ist, Konkurrenzverhalten und selbst destruktive Aggressivität ökonomisch zu absorbieren. Freiheit gibt es nicht mehr wegen einer sie schützenden, metaphysischen Einsicht oder Übereinkunft, sondern, im Gegenteil, weil wir solcher Einsichten und Übereinkünfte für unser Zusammenleben nicht mehr bedürfen und uns mit dem Minimalkonsens festgeschriebener Menschen- und Bürgerrechte begnügen.

 Diesem Idealbild einer diesseitig aufgeklärten, in gewisser Weise zumindest von ihren Möglichkeiten her humanen Gesellschaft ist unser westliches Politik-Verständnis verpflichtet, so Herzinger, indessen bleibt die Realität nicht ohne Verunsicherungen. Sie rühren her von gelegentlich eruptiv aufbrechenden Protesten gegen das kosmopolitische, friedfertige Ideal, die sich dem rationalen Diskurs entziehen und deshalb nicht integrierbar sind; ob es sich um die gewalttätigen Desperados in der Neonazi-Szene oder um die auf irrational-rätselhafte Weise attraktiven neuen Religionen vom Schlage Scientology handelt. Sie bedienen sich einerseits der Potentiale, die das Verlierer-Reservoir der Wettbewerbsgesellschaft bereitstellt, andererseits aber auch der Unzufriedenen, die anderes wollen als rationale Systeme und denen eine allfällig privat zu kultivierende Irrationalität nicht ausreicht. Sie finden sich überall, auch und vielleicht vor allem in gewissen bürgerlich-saturierten, borniert-gelangweilten Schichten. Aber, so Herzinger, wirklich bedrohlich sind diese Verunsicherungen nicht; denn wie sich die pluralistische Gesellschaft immer feiner verästelt und immer differenziertere Interessen befriedigen kann, so zersplittern sich auch ihre Gegner in immer bizarrere, dem Esoterischen ergebene Zirkel, die vom Mainstream als überdrehte Spinner, schlimmstenfalls als schmarotzende Asoziale, wahrgenommen werden. Wenn es sich nicht gerade um gewalttätig einherstiefelnde Rabauken ohne Stil und Verstand handelt, so muß sich die postmoderne Phalanx der westlichen Zivilisation vor ihnen nicht fürchten. Gelegentlich freilich bedarf es eines Erschreckens, um nicht zu vergessen, daß die selbstreferentielle „Arena des öffentlichen Diskurses“ nichts Selbstverständliches ist; eines Aufschreckens etwa durch BSE-Krisen oder Anti-Globalisierungs-Aktionen. Indessen führt solches Innewerden nicht zu neuen Ideologien, darf es auch nicht, denn „darin besteht gerade die zivilisierende Kraft einer freiheitlichen, pluralistischen Gesellschaft: in der Fähigkeit zu lernen, mit der fehlenden Mitte zu leben“ (Seite 83).

 Dem Diktum Herzingers, daß die Entwicklung der freiheitlichen Demokratien aus der Hörigkeit gegenüber mancherlei metaphysischer Spekulation herausgeführt hat, ist gewiß zuzustimmen – jedenfalls aus der Sicht des Rezensenten. Denn „die Werte ,des Abendlandes‘ sind keineswegs identisch mit den Lehren der christlichen Kirchen, und liberale Demokratien sind keine christlichen, sondern säkulare, pluralistische Gebilde“ (Seite 147). Die gleiche Argumentationslinie wäre gegenüber anderen religiösen Ideologien zu vertreten. Indessen ist sehr die Frage, ob Herzinger dieses gewissermaßen sorglose Buch noch hätte nach dem 11. September schreiben können. So dick es die Wunschvorstellungen liberalen Denkens unterstreicht, etwa wenn es heißt: „Schaffung größerer Chancengleichheit auf dem freien Markt statt zentral regulierter Umverteilung: Auf dieser Basis könnten der liberale und der soziale Gedanke eine neue historische Verbindung eingehen“ (Seite 115) – so nachdenklich stimmt es den Leser, wenn er die veränderte Wirklichkeit nach den terroristischen Anschlägen von New York einblendet. Es scheint, als wäre die schöne neue Welt des liberalen Individualismus und des friedlichen Konsums unversehens in weit höherem Maße in Gefahr, als es der Vordergrund unserer alltäglichen Erfahrungen in der „Berliner Republik“ vor jenem ominösen 11. September abgebildet hat. Oder gehen wir etwa schon wieder zur alten Tagesordnung über?